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FILM/001: Kino heute - sträflicher Limbus ...   Muayad Alayan im Gespräch (Martin Lejeune)


Liebe, Diebstahl und andere Verwicklungen

Interview mit dem palästinensischen Filmemacher Muayad Alayan
am 6. Februar 2015 während der 65. Internationalen Filmfestspiele in Berlin


Im Vorspann zu einem Interview von sf360 mit Muayad Alayan und dem amerikanischen Filmemacher Christian Bruno heißt es, er habe bis zu seinem Besuch als Jugendlicher bei Verwandten in der Bay Area (San Franzisko) nicht einmal gewußt, daß so etwas wie das palästinensische Kino überhaupt existiere.[1] Später, nach der Teilnahme an einem Workshop für arabische und jüdische Teenager an der 1981 gegründeten Jerusalem Cinemateque, habe er ein Filmstudium am City College von San Franzisko aufgenommen. Nachdem er das Studium abgeschlossen und Erfahrungen in der dortigen Grassroots-Filmbewegung gesammelt habe, sei er mit dem Ziel nach Palästina zurückgekehrt "ein organisch eingebundenes Kino von Palästinensern und über Palästinenser als Gemeinschaft zu begründen; ein Kino, das durch die Teilnahme von Menschen entsteht, die zusammenkommen um Geschichten zu erzählen, allen Widrigkeiten zum Trotz und mit Mitteln, die sich auf kreative Weise allen Schranken widersetzen".[2]

Mittlerweile hat Muayad Alayan mit "seinen" Kurzfilmen und Dokumentationen eine Reihe von Preisen gewonnen, Anfang Februar wurde die neueste Produktion, der erste Spielfilm, "Al-Hob wa Al-Sariqa wa Mashakel Ukhra" (Love, Theft and Other Entanglements, deutsch: Liebe, Diebstahl und andere Verwicklungen) auf der Berlinale uraufgeführt.[3]

(Anmerkung der Schattenblick-Redaktion)

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Martin Lejeune (ML): Auffällig an dem Film ist, daß die Hauptfigur, der Autodieb, sowohl von den Brigaden als auch vom israelischen Geheimdienst bedroht wird. Beide Seiten setzen ihn unter Druck.

Muayad Alayan (MA): Das ist mehr oder weniger die Natur des Lebens für jeden, der in diesem Teil der Welt lebt. Die Realität des Lebens unter der Besatzung bringt einen Tag für Tag in Situationen, die so unwirklich und verrückt sind, daß man als einzelner Mensch, der einfach nur versucht, den ganz regulären, normalen Tag irgendwie durchzustehen, die größten Schwierigkeiten bekommt. Er steht durch Interessengruppen und Seiten unter Druck, die für ihn als normale Person, als normaler Mann, der einfach nur sein Leben lebt, zu surreal sind, um sich ihnen zu stellen. Was ich in unserem Film versucht habe, war zu zeigen, was ein Typ durchmacht, der zusieht, daß er mit nichts etwas zu tun bekommt. Er ist einfach nur ein Typ, der versucht, ein besseres Leben zu haben und vor seinen Schwierigkeiten davonzulaufen. Und er ist ein Autodieb, er stiehlt Autos um das zu erreichen. Im Verlauf des Versuchs, dieser ganzen Misere zu entfliehen, gerät er in die größten Schwierigkeiten seines Lebens. Es ist tatsächlich der Geheimdienst hinter ihm her und er steht auf der Liste der palästinensischen Milizen. Sie suchen nach allen Autodieben, um herauszufinden, wer ihr Auto gestohlen hat. Dazu kommt noch der andere Druck, der soziale und der wirtschaftliche Druck, wenn man Flüchtling in einem Flüchtlingslager ist und keine Hoffnungen für die eigene Lebenssituation hat. Wie geht man mit dem ganzen um? Wie entkommt man dem? Klar, der Druck kommt von allen Seiten.


Porträtfoto - Foto: © Martin Lejeune

Muayad Alayan
Foto: © Martin Lejeune

MJ: Aufgrund der im Film angelegten Konstellationen könnte man erwarten, daß er schließlich vom Geheimdienst oder von den Milizen erschossen wird. Daß er am Ende beschließt, auf gewisse Weise Selbstmord zu begehen, ist unerwartet. Er will zwar die Mutter seines Kindes beschützen, aber am Ende ist es doch seine eigene Entscheidung, zu sterben.

MA: Ich denke, was mit Mousa, der Hauptfigur geschieht, ist, daß er bei dem ganzen Druck, unter dem er steht, am Ende des Films an den Punkt kommt, an dem er sich mit seinen eigenen Schwächen und Fehlern auseinandersetzt. Er ist ein Typ, der vor Problemen wegläuft und das sieht man. Er läuft die ganze Zeit davon. Seine ganze Mission besteht darin wegzulaufen: vor den Problemen, vor seinen zerrütteten Beziehungen, der Liebe, die er verloren hat, vor seinem Leben in Armut im Flüchtlingslager. Und nach der ganzen Reise durch die Probleme, die durch sein eigenes Fehlverhalten verursacht wurden, kann er am Ende nur das richtige tun, also die Verantwortung für seine eigenen Taten übernehmen. Wenn man so will, begräbt er sich im Gefängnis, weil er für sie einsteht. Aber er wird auch ein besserer Mensch und bekommt seine Familie zurück, weil er sich dem am Ende stellt und die Verantwortung für alles übernimmt, was er seiner Geliebten, der Liebe seines Lebens angetan hat - in dem Film, meine ich. Der Hintergrund ist, daß er sie geschwängert hat und dann davongelaufen ist. Er hat ihr nicht geholfen, dadurch ist er gezeichnet, das ist sein Makel. Am Ende des ganzen nimmt er den Mord auf sich, den sie verübt hat. Und in gewisser Hinsicht ist er auch verantwortlich für diesen Mord, weil er die Situation hergestellt hat. Er war der Anlaß dafür, daß alle Ereignisse zu diesem Punkt geführt haben.


Steinbruch: Im Freien auf einem Stein sitzt der israelische Soldat, ihm sind die Augen verbunden, die Hände hinter den Rücken gefesselt; im Hintergrund beugt sich Mousa über das Auto. - Foto: © Palcine Productions

Auf der Flucht
Foto: © Palcine Productions

ML: Meinem Eindruck nach war der israelische Geheimdienst mehr oder weniger dafür verantwortlich. Durch ihn hat der Ehemann, der eigentlich überhaupt keinen Verdacht hegte, von der Affäre seiner Frau erfahren. Als er die Bilder vom Geheimdienst erhielt, wollte er sie umbringen.

MA: Das stimmt. Wenn Sie meine echte Antwort aus dem wirklichen Leben hören wollen: Der israelische Geheimdienst, Intel, benutzt das Privatleben von Palästinensern, um an Informationen zu kommen. Kürzlich habe ich in einer israelischen Zeitung gelesen, daß rund 40 Mitglieder des Intel-Teams, die Daten über das Privatleben von Palästinensern sammeln sollten, um mit deren Hilfe sicherheitsrelevante Informationen zu gewinnen, die Kooperation verweigert haben. Mitglieder der israelischen Armee haben sich geweigert, weiter im Privatleben von Palästinensern herumzuschnüffeln und wurden deshalb gefeuert. Wenn Sie etwas über das wahre Leben hören wollen: Ja, das geschieht tatsächlich. Und das bringt viele Palästinenser in ein Dilemma. Denn letztendlich wird nach Schwächen Ausschau gehalten, die sich auf gesellschaftliche Tabus beziehen, nach Menschen, die heimliche Beziehungen haben: Liebe, Sexualität. Viele Homosexuelle sind vom israelischen Geheimdienst erpreßt worden, um sie zur Zusammenarbeit zu zwingen, und das ist in vielen Fällen sehr gut dokumentiert. Es geht also im Grunde darum, nach Schwächen innerhalb deiner Gesellschaft zu suchen, nach Tabus, um sie gegen dich zu verwenden und dich dazu zu bringen, zu kooperieren. Und ja, das ist ein weiterer Druck, ein weiterer Teil des gesamten Drucks, der in dem Film auf Mousa lastet.

ML: Haben Sie zum ersten Mal von dieser Einheit gehört, als die Nachricht über die Männer kam, die diese Einheit verlassen haben?

MA: Vor dem Film, meinen Sie? Diese Nachricht ist ganz neu, das war letzten Sommer. Nein, es gab vorher keine Schlagzeile.

ML: Das zeigt aber, daß dieses Skript sehr realistisch ist. Es ist keineswegs eine Komödie, außer der Tatsache, daß es ein paar komische Szenen darin gibt.

MA: Nun, manchmal wenn man weint, kommt man an den Punkt, an dem man anfängt zu lachen. Und ich persönlich bin jemand, der in Jerusalem lebt und jeden Tag in die Westbank fährt. Jeden Tag bin ich mit israelischen Soldaten an den Kontrollpunkten konfrontiert, jeden Tag werde ich durchsucht, mein Auto wird durchsucht, zwei-, drei-, viermal. Sogar wenn du losfährst, um Gemüse zu kaufen, wirst du durchsucht. Und du kommst an den Punkt, an dem du die ganze Situation in Frage stellst. Alles scheint so ernst zu sein: Diese Soldaten mit ihren Gewehren nehmen mich mit und ich stehe in einer Schlange. Und du kommst an den Punkt, an dem du denkst: Was zur Hölle soll das, das ist surreal. Warum bist du hier? Du könntest woanders sein und etwas besseres tun. Du könntest bei deiner Familie sein, mit deinen Lieben zusammensein, du könntest die Welt bereisen. Ich könnte einfach passieren, um ein Foto zu machen, meine Familie auch und jeder andere könnte das, nicht wahr... Aber nein, dieser ganze Konflikt konstruiert diese Falle. Das ist ernst, wie Sie gesagt haben. Aber wenn man schon so lange darin lebt, beginnt man irgendwann, genug davon zu haben und zu denken: Was zur Hölle machen wir mit unserem Leben?! Wir können beide etwas besseres damit anfangen. Ja, und auf gewisse Weise ist da eine Starrsinnigkeit auf beiden Seiten. Man sieht das aus der Perspektive der Milizen, aus der Perspektive des israelischen Geheimdienstes, die so festgefahren und so von ihren Überzeugungen vereinnahmt sind, daß sie nichts anderes sehen - und sie machen Druck in diese Richtung.

ML: Sie sagen, Sie wollten zeigen, wie verbohrt beide Seiten in diesem Konflikt sind, nun ist aber der Ursprung dieses Konflikts die Kolonisierung des Landes.

MA: Natürlich. Ja.

ML: Wissen Sie, wie Ihr Film in Palästina wahrgenommen wird? Wurde er dort schon gezeigt?

MA: Er wurde noch nicht gezeigt, aber es gibt Aussichten darauf.

ML: Erwarten Sie, von den Milizen kritisiert zu werden, weil Sie diese auf eine bestimmte Weise dargestellt haben?

MA: Ich weiß, daß auf beiden Seiten einige ihn nicht mögen werden. Einigen Israelis wird er nicht gefallen, einigen Palästinensern wird er nicht gefallen. Aber ich hoffe, daß die Traumwelt, die wir in diesem Film zu schaffen versuchen, die Märchenwelt, in der die Dinge zwar realistisch, aber nicht zu realistisch sind, den Menschen etwas vermittelt. Tatsächlich gibt es Ereignisse, die so auch stattfinden könnten, aber wir versuchen, mit ihnen zu spielen und sie in dieser Märchenwelt zu präsentieren. Ich hoffe, daß sich bei den Menschen mindestens dieses Gefühl einstellt und wenn es so ist, hoffe ich, daß das dann ihre Perspektive und ihren Standpunkt gegenüber dem Film und gegenüber der ganzen Geschichte beeinflußt. Und ich hoffe ganz bestimmt, daß sie mehr lachen als weinen werden.

ML: Ein weiterer Aspekt Ihres Film ist, daß er zeigt, wie einige ausländische Hilfsprojekte mit Mißhandlung und Korruption verbunden sind.

MA: Das stimmt, insbesondere in Palästina gibt es eine umfangreiche Kultur ausländischer Hilfe und Unterstützung.

ML: Das könnte ein schlechtes Gewissen verursachen, weil sie an der Wurzel dieses Konflikts angesiedelt sind.

MA: Nicht nur das. Ich denke, daß die Europäer, die Amerikaner, alle Länder Palästina helfen, weil es absolut keine Möglichkeit für den Aufbau einer tragfähigen Wirtschaft gibt, solange die palästinensischen Gebiete besetzt sind. Es gibt für uns keine Möglichkeit einer belastbaren Finanzierung. Sogar unsere Regierung, die palästinensische Regierung erhält Hilfen für die Gehälter aus dem Ausland - aus Europa, aus Amerika, aus Japan, von den verschiedensten ausländischen Hilfsmissionen. Es gibt eine ganze Kultur der ausländischen Hilfe und der Sichtweise der ausländischen Arbeiter in Palästina dem ganzen gegenüber. Bestimmte Missionen haben bestimmte Ziele, die sie bei den Palästinensern im Gegenzug für ihre Hilfe umsetzen wollen. Jeder ist beschäftigt mit der eigenen Tagesordnung.

ML: Die deutsche Regierung stellt den Palästinensergebieten jedes Jahr Millionen von Euro zur Verfügung, aber sie gibt es nicht der palästinensischen Regierung und sagt: Macht damit, was ihr wollt. Sie stellt Bedingungen, wie das Geld verwendet werden soll.

MA: Das ist wahr.

ML: Diese Hilfe ist ein Mittel der Außenpolitik. Sie stellen Bedingungen und sie wollen Einfluß nehmen.

MA: Das stimmt.

ML: Und die andere Seite der Medaille - zumindest im Falle Deutschlands - ist, daß sie Israel wesentlich mehr Geld für Waffen, für U-Boote, Kriegsschiffe, Munition und so weiter zur Verfügung stellen als der palästinensischen Zivilgesellschaft. Das heißt sie unterstützen die Besetzung in gewisser Hinsicht durch die Bereitstellung von Geld für israelische Waffen.

MA: Mir sind die Zahlen nicht bekannt. Wenn man in Palästina herumfährt, sieht man viele Schilder, die lauten: "ein Geschenk des deutschen Volkes", "ein Geschenk der Franzosen", fast jeder gibt uns etwas.

ML: "Fatah, ein Geschenk der Fatah" ...

MA: Zum Beispiel. Und jeder erwartet, dir auch die eigenen Vorstellungen mitzugeben. Das kann im Sport sein, in der Landwirtschaft. Sie wollen, daß du es auf ihre Weise machst. Sie geben dir nicht das Geld, damit du es auf deine Weise machen kannst oder um dir einfach nur zu helfen. Wenn Sie meine Meinung über die ausländische Hilfe für die palästinensischen Gebiete insbesondere und ganz speziell im Falle der europäischen und amerikanischen hören wollen, denke ich, daß Europa und Amerika im wesentlichen die Rechnung für Israel bezahlen. Denn, wenn du ein Gebiet besetzt - denke ich mir zumindest, ich bin kein Politiker oder Ökonom - solltest du dich um die Menschen kümmern, deren Land du besetzt. Du mußt dich verantwortlich zeigen für die Gesundheit, dafür daß die Infrastruktur in Ordnung ist. So wie die Dinge jetzt stehen, daß Europa und andere Geldgeber für die Palästinenser zahlen...

Vor der Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde war Israel verpflichtet, sich darum zu kümmern. Israel hat sich also aus bestimmten Gebieten zurückgezogen und den Palästinensern etwas "gegeben", sie haben nach dem Übereinkommen von Oslo die Palästinensische Autonomiebehörde geschaffen. Jetzt erhält diese die Hilfe aus Europa, die sie braucht, um das palästinensische Territorium zu verwalten. Israel muß sich nun also keine Sorgen mehr darum machen, nicht für die Bildung, nicht für die Gesundheitsversorgung, für nichts mehr zahlen. Die Welt bezahlt im wesentlichen die Rechnung für die israelische Besetzung. Wenn es keine Besetzung gäbe, wenn wir Palästinenser das Recht hätten, unsere eigene Wirtschaft zu begründen, Zugang zu den Grenzen hätten, so daß wir Handel treiben könnten, Export und Import, und wenn wir Bewegungsfreiheit hätten, alle Grundrechte, die jede Nation bekommen sollte, glaube ich nicht, daß wir in dieser ausweglosen finanziellen Lage wären, in der wir ausländische Hilfe benötigen. Das ist meine persönliche Meinung zu diesem Thema.


Zwei maskierte, bewaffnete Milizionäre bedrohen einen Mann und zeigen ihm ein Autoradio - Foto: © Palcine Productions

Fieberhafte Suche nach dem gestohlenen Auto
Foto: © Palcine Productions

ML: Ich würde gern noch einmal auf den Film zurückkommen. Zu Beginn hatten Sie gesagt, daß die Hauptfigur ein Leben führt, das keinerlei Beziehung zu politischen Fragen hat. Sie meinten, er versuche so gut er kann so zu leben, daß er nirgendwo in Politik hineingezogen wird. Das war offensichtlich nicht möglich.

MA: Es war nicht möglich.

ML: Vielleicht ist es in Deutschland möglich, dort könnte man leben, ohne sich mit Politik zu beschäftigen, ohne Medien zu nutzen. Aber in Ländern wie Palästina ist das nicht möglich.

MA: Das ist absolut nicht möglich. Aber die Menschen gehen auf unterschiedliche Weise damit um. Viele Menschen wollen teilhaben. Denn wenn deine Nation besetzt ist, wirst du automatisch politisch und beteiligst dich an politischen Parteien, Aktivitäten oder intellektuellen Diskussionen. Sogar, wenn du jemand bist, der mit nichts irgend etwas zu tun haben will, ist doch deine Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Es gibt eine Armee, die im wahrsten Sinne des Wortes Blockaden und Mauern baut, die dich von deinen landwirtschaftlichen Flächen trennt, vom Land deines Großvaters fernhält. Man verwehrt dir den Zugang zu anderen Gemeinschaften deiner eigenen Nation. Als Palästinenser kommst du nicht von der Westbank nach Jerusalem, wenn du keine Genehmigung vom Militär hast. Und du bekommst sie sehr selten, außer du hast einen sehr guten Grund. Deine Reisen werden von Israelis an den Grenzen kontrolliert. Überall, wo du hinschaust, siehst du Soldaten, siehst du Militär. Ich weiß nicht, wie man nichts mit Politik zu tun haben kann, wenn man unter Besetzung lebt.

Wenn man, wie Sie sagten, in Deutschland lebt, nicht mit dem Militär klarkommen und aufgrund seiner Identität, Religion und ethnischen Zugehörigkeit wegen was auch immer tagtäglich seinen Ausweis zeigen muß, denke ich, ist die Aussicht, daß man sich abkehren und beschließen kann, nichts damit zu tun zu haben, größer. Es ist wirklich schwer in Palästina, wirklich, wirklich schwer, man wird jeden Tag mit Politik konfrontiert.

ML: Ihr Film handelt ganz offensichtlich auch von Kriminalität. Das Thema wird selten in der palästinensischen Gesellschaft gezeigt, und natürlich sieht man auch, daß Menschen, die kriminell sind, hart bestraft werden.

MA: Ja.

ML: Aber von der Miliz, nicht von den Gerichten.

MA: Das ist richtig. Es kommt auf die Art des Verbrechens an. Ich dachte, Sie sprechen über den Mord am Ende, als die Hauptdarstellerin ihren Ehemann erschießt. Zwei Dinge: Als wir das geschrieben haben, wollten wir eine Zwangslage darstellen. Ich selbst wollte gern, daß die Frau sich gegen ihren Mann verteidigt und sich vor seiner Mordabsicht schützt. Ich wollte nicht, daß ein Mann das tut, sondern ich wollte, daß die Frau selbst die Aktive ist und diesen Typen erschießt. Aber wenn Sie über Kriminalität im allgemeinen sprechen, denke ich, daß die Dinge in den Palästinensergebieten unter Kontrolle sind, in denen Israel der palästinensischen Polizei erlaubt zu arbeiten. Dort, wo die palästinensischen Behörden keinen Zugang haben - wie Sie wissen, ist die Westbank geteilt und es gibt Gebiete, in denen Israel allein die Verantwortung für die Sicherheit trägt -, sind die Dinge etwas aus dem Ruder, weil die israelische Armee mehr an Sicherheitsfragen interessiert ist, als sich mit alltäglichen Verbrechen in diesem Gebiet zu beschäftigen.

ML: Aber auch die Palästinenser haben ein Interesse daran. Ich erinnere mich an ein Zitat von Präsident Mahmud Abbas, der meinte: Die Sicherheit Israels ist sehr wichtig.

MA: Ja gewiß, aber das sind zwei verschiedene Dinge. Das stimmt, er hat das gesagt, es war ein politisches Statement. Ich beziehe mich jedoch mehr auf die Verbrechen innerhalb der Gesellschaft. Ich meinte, daß es in der Westbank Gebiete gibt, die etwas chaotisch sind. Nach den Verträgen von Oslo ist diese aufgeteilt in die Zonen A, B und C. In den Gebieten A haben die Palästinenser das Sagen, sie haben die Kontrolle über das zivile Leben und die Sicherheit. In Gebiet B und Gebiet C ist Israel für die Sicherheit verantwortlich. Wenn also jemand anruft und jemand erschossen wurde, ist in Gebiet B und C die israelische Armee für dieses Verbrechen zuständig, nicht die palästinensische Polizei. In Gebiet A ist es die palästinensische Polizei. Was ich sagen will, ist, daß die israelische Armee in den meisten Fällen, wenn es auf palästinensischem Gebiet ein Verbrechen gibt, unglücklicherweise nicht auf dieselbe Weise reagiert, wie wenn eine Bedrohung der Sicherheit vorliegt. Wenn es eine Bedrohung der Sicherheit gibt, ist die Reaktion schneller als bei einem sozialen Verbrechen.

ML: Wie ist Ihre Wahrnehmung, gibt es eine hohe Kriminalität in den Gebieten B und C aufgrund dieser Konstellation?

MA: Ich weiß, daß in Gebiet C die Drogengeschäfte florieren und habe gehört, daß ein Dokumentarfilm zu diesem Thema entstehen soll. Ich weiß nicht, ob sie zur Zeit schon daran arbeiten, aber er soll sich mit Gebiet C und damit, wie es zu einem fruchtbaren Boden für Drogenaktivitäten und andere illegale Aktivitäten wurde, beschäftigen.

ML: Wäre es von einem moralischen Blickwinkel her nicht geboten, solche Verbrechen gerade unter der Besatzung zu vermeiden, weil die Umstände für alle Menschen sehr schwierig sind und Solidarität in solchen Zeiten wichtiger ist als Profit?

MA: Genau. Wissen Sie, ich denke, Ihnen ist bewußt, was in der palästinensischen Gesellschaft, insbesondere in den 80er Jahren während der 1. Intifada geschehen ist. Es hat in den letzten Jahren in dieser Hinsicht eine Art moralischen Zerfall gegeben und es gibt Menschen, die das zulassen. Ich will Israel in diesem Zusammenhang nicht beschuldigen, aber ich weiß daß es einen gewissen Freiraum für kriminelle und illegale Aktivitäten in diesen Gebieten gibt. Ich weiß nicht, wer davon profitiert, aber ich weiß, daß die Situation davor viel besser war. Während des ersten palästinensischen Aufstands gab es eine erstaunliche Solidarität. Wir hatten keine Polizei, aber die Menschen, die Sippen, die Familien in den Städten und in den Dörfern regelten ihre Probleme selbst. Sie kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten, sei es Diebstahl, Kriminalität oder was auch immer. Jetzt bei dieser ganzen politischen Aufteilung von Territorien, wer wo was zu sagen hat und wer welches Stück Land kontrolliert, weiß ich, ist die Kriminalitätsrate höher.

ML: Es gibt das Beispiel Beit Sahour, ein Dorf, in dem sie noch wirklich zusammenhalten.

MA: Genau das ist, wovon ich spreche. Ich nehme an, Sie haben den Dokumentarfilm darüber gesehen, "The wanted 18", den mit den Kühen, eine Geschichte über Beit Sahour von Amer Shomali. Das ist ein großartiger Film, ein wirklich guter Dokumentarfilm und ein erstaunlicher Filmemacher.

ML: Drogenschmuggel und -handel zu tolerieren, kann durchaus als Mittel zur Zerstörung einer Gesellschaft dienen.

MA: Das kann es.

ML: Natürlich macht es keinen Sinn, die israelischen Sicherheitskräfte zu beschuldigen, darüber hinwegsehen.

MA: Genau. Aber ich weiß, daß sie die Mittel hätten, es zu bekämpfen, wenn sie wollen. Man kann jedoch nicht sagen, daß Israel es zuläßt, ich habe das nicht recherchiert, ich habe keine Statistiken erstellt. Ich weiß nur, sie hätten sich drum kümmern können, wenn sie es gewollt hätten. Also Sicherheit hat Priorität, was auch immer auf der sozialen Ebene geschieht, ist nachrangig.

ML: Sie hatten erwähnt, daß die Gesellschaft während der 1. Intifada solidarischer war und jetzt zunehmend zerrüttet ist. Denken Sie daß die Gesellschaft so krank wird, daß sie sich nicht mehr gegen die Situation wehren kann?

MA: Ganz so schlimm ist es nicht. Nein, ich bin immer noch stolz auf uns in dem Sinne. Bei allem, was das palästinensische Volk, was wir durchgemacht haben, bin ich sehr stolz auf die Zivilbewegung, die wir sowohl in den Städten als auch in den Dörfern haben. Ich gebe zu, daß die politischen Abkommen, die geschlossen wurden, die Territorien und die Gesellschaft auf eine Weise zerrissen haben, die die Menschen weiter voneinander entfernt. Die Gemeinschaften sind geteilter, die Menschen haben nicht das Gefühl dazuzugehören. Das ist eine schlimme Lage. Wir haben eine Regierung, aber die Wahlen finden nicht statt, du nimmst nicht teil an den Entscheidungen, an nichts in deinem Leben. Und alles hängt von dem ab, was ein ausländisches Komitee beschließt und mit Israel und der palästinensischen Regierung auszuhandeln versucht. Am Ende bist du als Einzelperson oder du als Gemeinschaft verloren. Du hast das Gefühl, dich in gewisser Weise in einem Limbus zu befinden. Ich hoffe, daß sich das nicht fortsetzt. Das hoffe ich wirklich. Aber ich kann auch sagen, daß die Solidarität in der Vergangenheit viel viel stärker war - unglücklicherweise.

ML: In einer Dokumentation im deutschen Radio war von einer Droge die Rede, die unter den Augen der israelischen Besatzung in den Gazastreifen importiert wird. Es geht um den Mißbrauch von Tramal, das laut Dokumentation sogar in der Westbank produziert wird und eine der sehr wenigen Waren ist, die von dort in den Gazastreifen gebracht werden dürfen. Dort wird es in großem Umfang mißbraucht.

MA: Ein Antidepressivum, das exzessiv benutzt wird; zudem handelt es sich um eine starke Droge. Vor einigen Jahren habe ich eine Reihe von Artikeln darüber gelesen. Ich weiß nichts über die Produktion und den Import, ich weiß nur, daß dieses Medikament erlaubt ist und daß es extrem häufig mißbraucht und als Droge benutzt wird.

ML: Es schadet der Gesellschaft und verursacht viele Probleme. Die Sicherheitskräfte tolerieren es offensichtlich, denn man sieht keine Anstrengungen, es zu bekämpfen.

MA: So etwas geschieht, wenn man eine so schlimme Situation hat wie diesen Konflikt. Wenn es Krieg gibt, ist alles andere nebensächlich. Im Fall eines Konflikts, werden Fragen wie Gesundheit, Gewalt oder Wohlbefinden beiseitegeschoben, Priorität haben dann die politische Debatte und der politische Streit. Das ist traurig, ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.

ML: Man spricht jetzt auch über Umweltprobleme, in dem Film gibt es viel Müll an den Straßenrändern.

ML: Stimmt. Ich habe in Steinbrüchen gefilmt. Der Dokumentarfilm, den ich davor gedreht habe, handelte vom Steinabbau in der Westbank. Er heißt "Sacred Stones" [Heilige Steine], und es geht um die Geschichte des Steinbruchs in der Westbank und um die Beziehungen zwischen dem israelischen Bausektor und den Steinbruchgeschäften der Westbank. Die Idee des Films beruhte darauf - es ist ein investigativer Dokumentarfilm -, daß wir herausgefunden hatten, daß diese Beziehungen gleich nach der Besetzung im Jahr '57 begannen. Israel hob kurz danach die Umweltstandards für den Bergbau im eigenen Land an, weil man jetzt das ganze besetzte Gebiet hatte, auf das man sich bergbaumäßig stützen konnte. Die Regulierungen in Israel wurden also strenger. Gleichzeitig erleichterten sie den Import von Maschinen und das Ausstellen von Genehmigungen durch die israelische Armee, die das Gebiet besetzt hielt, sowohl für israelische als auch für palästinensische Geschäftsleute, im besetzten Gebiet Steinabbau zu betreiben, was gegen internationales Recht verstößt. Jetzt sind 99 Prozent der Steinbrüche in Israel stillgelegt und die Westbank hat eine der größten Steinbruchindustrien der Region. Sie exportiert in riesigem Umfang enorme Mengen zur Unterstützung des israelischen Bausektors. Wenn du heute in Israel arbeitest, stammen 90 Prozent der Steine, die du siehst, aus den besetzten Gebieten. Israelische Geschäftsleute wissen: Oh, roter Stein, der kommt aus diesem Dorf und grauer Stein ist aus jenem palästinensischen Dorf. Das ist schlimm. Die Umwelt ist ein weiteres Beispiel. Niemand kümmert sich um dieses Thema, weil alle auf die Politik gucken.

ML: Die meisten Häuser in der Westbank sehen im Vergleich ziemlich heruntergekommen aus. Sie können sich diese Steine selbst nicht leisten.

MA: Die Flüchtlingslager sind in einem schrecklichen Zustand, weil sie nicht zurück in ihre Heimat dürfen, was das richtige wäre. Und sie sind verarmt, es gibt eine absichtliche Verarmung dieser Menschen. Im Flüchtlingslager Deheija, in dem wir den Film gedreht haben, leben 13.000 palästinensische Flüchtlinge, die zweite und dritte Generation von Menschen, die '48 bei der Gründung Israels aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Sie sind dort, sie warten, sie hoffen, sie suchen nach einer Lösung. Weiß Gott!

ML: Warum haben Sie den Film in schwarz-weiß gedreht? Das ist nicht unbedingt üblich.

MA: Nein, das ist nicht üblich. Wie ich bereits erzählt habe, wollte ich künstlerisch das Gefühl herstellen, das ich oft bekomme, wenn es wirklich hart für mich selbst oder für meine Gesellschaft und die Art von Leben wird, die wir führen. Ich wollte eine Traumwelt, eine Märchenwelt, mit der wir auf diese tatsächlichen Ereignisse blicken, die wir durchmachen, mit denen wir in unserem Leben konfrontiert sind. Ich meine, wie oft stiehlt man schon ein Auto und findet dann einen Soldaten darin? Wie oft kommst du in solche Schwierigkeiten, daß eine Miliz hinter dir her ist und der israelische Geheimdienst dich erpreßt? Es ist dieses Gefühl von Wahnsinn in der Atmosphäre. Ich habe einmal - das ist eine persönliche Geschichte - in Jerusalem die Polizei gerufen, weil ich gesehen hatte, wie zwei Typen ein Mädchen in ein Auto schubsten und davonfuhren. Am Ende habe ich zwei Tage damit zugebracht, daß man mich immer wieder verhört und angerufen hat, weil ich als Palästinenser das gemeldet hatte und ihre einzige Sorge war: Sahen die, die das getan haben palästinensisch oder israelisch aus? Man bekommt wirklich das Gefühl: Fragen sie mich das wirklich? Ich erzähle ihnen, daß jemand gekidnappt wurde und sie fragen sich nur so etwas? Also es ist nichts als Politik, die in alltägliche Ereignisse des Lebens hereinbricht.


Hauptdarsteller, gekleidet in einen dunklen Anzug, in einem weißen Raum auf einem Stuhl - Foto: © Palcine Productions

Mousa beim Verhör
Foto: © Palcine Productions

Zurück zum Film: Wir wollten, daß sich dieses Unwirkliche einstellt, weil die Menschen bestimmte Erwartungen daran haben, wie Palästina oder Israel, dieser Ort des Konflikts aussieht. Der Großteil der Welt sieht uns in den Medien, in den Nachrichten. Es gibt sogar eine spezielle, ganz bestimmte Erwartung, was die Kameraführung betrifft und die Farben, die dabei herauskommen. Ich wollte das alles wegnehmen, ich wollte die Menschen in eine Traumwelt entführen, in eine Märchenwelt. Sie ist wirklich, aber nicht zu wirklich, man sieht es sich am besten an. Das Schwarz-Weiß ist einfach ein zusätzliches Element.

ML: Könnten Sie mir einen kurzen Überblick über Meilensteine des palästinensischen Films geben, wie sieht seine Geschichte aus? Auf jedem Festival werden palästinensische Filme gezeigt, in Venedig, in Cannes - gibt es so etwas wie das palästinensische Kino? Tatsache ist auf jeden Fall, daß es in Deutschland nicht sehr sichtbar ist.

MA: Die Geschichte des palästinensischen Films begann vor langer Zeit und man kann seinen Anfang auf verschiedene Art beschreiben. Einige gehen zurück vor '48, vor die Gründung Israels, mit der frühen Fotographie und der frühen Cinematographie in Palästina. Andere fangen an mit dem revolutionären Kino nach der Besetzung. Die PLO, die Palästinensische Befreiungsorganisation hatte eine Kino-Einheit, die Dokumentarfilme und Filme produzierte. So wie die Dinge unglücklicherweise laufen in den Weltmedien, wurde die palästinensische Version der Geschichte unterdrückt und diese Filme sind erst kürzlich aus den Archiven zurückgekommen. Ich weiß, daß sie weltweit gezeigt werden. Aber dann wiederum, wenn man Geschichten und Spielfilme meint, dann hat die Filmproduktion in Palästina, denke ich, in den 80ern begonnen, da wäre Michel Khleifi zum Beispiel zu nennen, in den späten 80ern. Und dann hatten wir in den 90ern sehr wenige, sehr selten Spielfilme, die produziert wurden. Die Dinge stehen jetzt besser. Wir haben so etwa zwei oder drei Spielfilme im Jahr, das ist hervorragend. Die Technologie hilft dabei, denke ich, aber es deckt sich ganz gewiß noch nicht mit dem, was man als Filmindustrie beschreiben würde.


[1] Interview mit Muayad Alayan und Christian Bruno, 29.7.2008
http://www.sf360.org/?pageid=11355

[2] http://www.lovetheftandotherentanglements.com/node/10 sowie www.palcine.net

[3] https://www.berlinale.de/en/programm/berlinale_programm/datenblatt.php?film_id=201504627#tab=video25

*

Quelle:
Martin Lejeune, 06.02.2015
Freier Journalist, Berlin
E-Mail: info@martinlejeune.com
Homepage: www.martinlejeune.com
Facebook: www.facebook.com/lejeune.berlin
Blog: martin-lejeune.tumblr.com

Transkription und Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2015

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