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ANTIQUARIAT/001: "Die sieben Zwerge" von Marvano


Marvano


Die sieben Zwerge



Jeder Comic-Sammler hat besondere Favoriten, die er immer wieder zur Hand nimmt. Die Gründe dafür sind vielfältig: dichter Erzählstil, eine besonders schöne oder innovative grafische Gestaltung, oft ist es aber auch das Thema, das einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Der 1999 bei Comic Speedline erschienene Band "Die sieben Zwerge" vereint in sich gleich mehrere Beweggründe, die dieses Album zu einem "Evergreen" unter den Comics machen: Zum einen gelang dem Zeichner und Autor Marvano eine gelungene Aufarbeitung des eigentlich schon recht abgegriffenen Themas "menschliche Schicksale im Zweiten Weltkrieg", wobei die Personen so überzeugend und glaubhaft dargestellt sind, daß man sich von ihnen und ihrer Geschichte noch lange angerührt fühlt. Man hat bei diesem Album das Gefühl, daß hier jemand eine Geschichte erzählt, die ihm wirklich am Herzen liegt. Das macht das ganze so überzeugend. Da Marvano zum anderen ein absoluter Könner auf zeichnerischem Gebiet ist, kann man das Ergebnis als rundum gelungenes Werk bezeichnen.

"Die sieben Zwerge", so nennt sich die Besatzung des kanadischen Lancaster-Bombers S-Snowwhite - Schneewittchen. Die sieben jungen Männer, die die Besatzung bilden, riskieren Nacht für Nacht ihr Leben in gefährlichen Kampfeinsätzen. Sie gehören zu jener Generation junger Männer, die, "zu jung um Auto zu fahren, aber alt genug, einen Bomber zu fliegen - und zu sterben", in den Krieg geschickt wurden.

Südengland 1993: Auf einem verlassenen Flugplatz trifft sich eine etwas merkwürdige kleine Gesellschaft. Eine alte Dame im Rollstuhl, die von einem Herren begleitet wird, und eine weitere Dame. Sie kennen sich nicht, und doch haben sie sich etwas zu sagen. Die Dame im Rollstuhl übergibt der anderen eine Puppe und einen Brief. Diese versteht zunächst überhaupt nichts, doch als sie anfängt, den Brief zu lesen, begreift sie allmählich. Er stammt von David Auberson, einem jungen kanadischen Piloten, der im zweiten Weltkrieg hier stationiert war. Sie war noch ein kleines Mädchen und wohnte auf einem Nachbargut. "Aubie", wie er von seinen Freunden genannt wurde, kannte sie gut, er hatte sich ein wenig mit ihr angefreundet.

In Form dieses Briefes, der über 50 Jahre hinweg die damaligen Ereignisse noch einmal lebendig werden läßt, wird nun die nachdenklich stimmende Geschichte über das Schicksal des jungen Piloten erzählt. David Auberson ist einer der "sieben Zwerge". Als Pilot trägt er die Verantwortung für seine Mannschaft. Ganze 19 Jahre ist er alt, und, wie er weiß, ist seine Lebenserwartung nicht allzu hoch. Nach den deutschen U-Boot-Besatzungen ist die Verlustrate bei den alliierten Fliegern die zweithöchste. In dieser Atmosphäre, in der man von Tag zu Tag lebt und froh ist, wenn man den nächsten Morgen erlebt, versuchen Aubie und seine Kameraden trotzig, dem Schicksal doch noch ein Stückchen Leben abzugewinnen.

Die nächtlichen Einsätze zehren an den Nerven der jungen Flieger. Vor allem Berlin, das sie wieder und wieder bombardieren, ist ein Ziel, das hohe Verluste fordert. Immer öfter stehen sie morgens vor unbenutzen Betten, müssen Packtaschen einsammeln und Spinde aufbrechen - manche Kameraden weigern sich, ihre Schlüssel abzugeben, bevor sie zu einem Einsatz aufbrechen. "Sie haben recht", sagt Aubie dazu, "man soll sein Schicksal nicht versuchen".

Seine wenigen Mußestunden verbringt er manchmal bei einem Bauern aus der Nachbarschaft des Stützpunktes, dem er ein wenig zur Hand geht. Mit dem Mädchen Lisa, das dort wohnt, freundet er sich bald an. Der Vater des Kindes, der selber einmal Flieger war, nach einer schweren Verwundung aber den Dienst quittieren mußte, scheint dem jungen Mann skeptisch gegenüberzustehen. Er verlor seine Frau bei einem deutschen Bombenangriff auf London - die gleichen Brandbomben, die Aubie allnächtlich über Deutschland abwirft, wie er ihm zu verstehen gibt. Gekränkt geht Auberson davon.

Eines Nachts gibt es einen schrecklichen Zwischenfall: S-Snowwhite gerät unter feindlichen Beschuß. Aubie kann die Maschine nur mit Müh und Not wieder nach Hause bringen - aber zwei seiner Kameraden sind tot. Sarah Peters, die im Tower Dienst tut und mit der Aubie schon seit längerem gut befreundet ist, spendet ihm in dieser Situation Trost. Und weil das Maskottchen der S-Snowwhite, eine Puppe namens "Yvette", bei dem Unglück ebenfalls verlorenging, schenkt die kleine Lisa Aubie ihre eigene Puppe, die genau wie das Flugzeug "Schneewittchen" heißt.

Doch auch "Schneewittchen" kann nicht verhindern, daß eines Nachts geschieht, was alle Flieger einmal befürchten müssen: S-Snowwhite kehrt nicht mehr zurück...

50 Jahre später, auf dem verlassenen Flugplatz, erinnern sich die Anwesenden an diese Nacht. Sarah Peters (die Dame im Rollstuhl) hatte Dienst - daduch erfuhr sie unmittelbar von dem Verlust der S-Snowwhite. Auch die kleine Lisa hatte in dieser Regennacht Ausschau nach ihrem Freund Aubie gehalten, ihr Vater brachte sie völlig durchnäßt nach Hause. Nur der Herr, der die alte Dame begleitet, kann sich an nichts erinnern - David Aubersons Sohn war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren.

Natürlich fragt Elisabeth Owen - die kleine Lisa von damals - warum die alte Dame ihr die Puppe ausgerechnet jetzt, nach 50 Jahren zurückgibt. Diese erklärt ihr ein Mißverständnis, das sie selbst erst vor kurzer Zeit durch einen Zufall aufdecken konnte. Ein Jahr nach Kriegsende hatte eine junge Holländerin ihr eine Puppe überbracht - als Vermächtnis von Aubie, der über den Niederlanden abgeschossen worden war. Eine Familie hatte ihn versteckt gehalten, bis die Gestapo ihn verhaftete; danach gab es kein Lebenszeichen mehr von ihm.

In dem Glauben, es sei die "Yvette" von der S-Snowwhite, mit der Aubie ihr über den Tod hinaus hatte Lebewohl sagen wollen, bewahrte Sarah die Puppe fast 50 Jahre lang auf ihrem Nachttisch auf. Erst vor kurzer Zeit, als sie durch einen Zeitungsartikel von dem Fund eines Flugzeugwracks - der S-Snowwhite - in einem holländischen Polder zur Landgewinnung erfuhr, sah sie auf einem alten Foto, daß das ursprüngliche Maskottchen "Yvette" ganz anders aussah. Erst jetzt entdeckte sie auch die handgenähten Stiche an ihrer Puppe und fand in ihrem Inneren den Brief an sie, der auch die Bitte enthielt, diese Puppe ihrer kleinen Besitzerin Lisa zurückzugeben. Aubies Vermächtnis wurde schließlich doch noch erfüllt.

Keiner der "sieben Zwerge" hat den Krieg überlebt, sie sind gestorben, bevor sie gelebt haben. Sie haben kein einziges Fältchen bekommen und ihre Haare nie grau werden sehen. Aubie hat nie das Lachen seines Sohnes gehört. So ist es oft, wenn das Wesentliche bedroht ist. Einige müssen darauf verzichten und den hohen Preis dafür bezahlen, daß andere es erhalten können ...

heißt es im Schlußwort.

MARVANO, Jahrgang 1953, heißt mit bürgerlichem Namen Mark van Oppen, er ist studierter Innenarchitekt und machte sich zunächst als Illustrator (zum Beispiel für Heyne-SF) einen Namen, bevor er ins Comic-Fach wechselte. Einige Jahre lang war er Chefredakteur von "Kuifje", der holländischen Ausgabe von "Tintin" (Tim und Struppi). Als Adaption des Science-Fiction-Romans "Der ewige Krieg" von Joe Haldeman schuf er eine gleichnamige Comic- Trilogie, die einen intergalaktischen Krieg der Zukunft schildert. Eine weitere, mehrbändige Roman-Adaption folgte mit "Kate" nach Vorlagen des französischen Autors Paul-Loup Sulitzer. Für dieses, sein ambitioniertestes Album, wie es im Vorwort heißt, schrieb Marvano erstmals das Szenario selbst.


Die Sieben Zwerge
Marvano (Mark van Oppen)
Comic Speedline, 1999