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HINTERGRUND/006: 5. Mai 1895 - Geburtsstunde der Comics?


Die lange Geschichte der Comics


Der 5. Mai 1895 wird offiziell als Geburtsstunde der Comics gehandelt. Wenn man sich mit deren Entstehung und Geschichte beschäftigt, stößt man allerdings recht schnell darauf, daß Comics nicht erst mit diesem Datum entstanden sind - man denke da nur an die Bildergeschichten Wilhelm Buschs (1832 - 1908), die auch schon alle wesentlichen Elemente des Comics, Bilderreihung, gleichbleibende Figuren und in das Bild integrierten Text, enthalten. Deshalb wollen wir einmal der Frage nachgehen, was mit dieser Datierung eigentlich gemeint ist und welche symbolische Bedeutung ihr zugemessen wird.

Comics haben eine lange Geschichte und ihre Vorläufer sind überall dort zu finden, wo Menschen sich in irgendeiner Form darstellerisch verewigt haben - als früheste Beispiele werden in diesem Zusammenhang gerne Wandzeichnungen oder Reliefs genannt, die Bildergeschichten enthalten. Diese Bildergeschichten erklären sich zum Teil selbst, das heißt, man versteht sie zumindest in groben Zügen, auch ohne die jeweilige Kultur zu kennen. Bestimmte Symbole, wie etwa, daß die wichtigste Person größer als die anderen und im Mittelpunkt stehend dargestellt wird, versteht man automatisch, über die Grenzen von Jahrhunderten und Kulturen hinweg.

Später, als Sprache und bildnerische Darstellung sich mehr und mehr voneinander differenziert hatten, in "Literatur" und "Kunst", die den vornehmeren und wohlhabenderen Kreisen der Bevölkerung vorbehalten waren, läßt sich die Spur der Comics in den im Mittelalter sehr populären und beliebten Bilderbogen verfolgen, die zum Teil auf Marktplätzen von Moritatensängern oder Erzählern vorgetragen wurden. Aber auch unter betuchteren Zeitgenossen, für die es nicht schicklich war, sich auf dem Marktplatz unter dem niederen Volk zu zeigen, waren diese illustrierten Geschichten und Begebenheiten sehr beliebt. Sie erwarben vervielfältigte, zum Teil kolorierte Bilderbogen, die als eine Art Vorläufer von Illustrierten in erster Linie den Damen des Hauses der Unterhaltung und Information dienten.

Von hier aus führt die Spur weiter zu den frühen Formen der Zeitungen, zu denen auch fliegende Blätter oder politische Handzettel gehörten, die reichlich mit Illustrationen oder den ebenfalls sehr beliebten Karikaturen ausgestattet waren. Mit Hilfe der Drucktechnik war hier eine Möglichkeit entstanden, aktuelle Geschehnisse, politische Ereignisse oder Begebenheiten, die einfach nur der Unterhaltung dienten, "unters Volk" zu bringen. Häufig in diesen Blättern vertreten waren mit Texten versehene Bildergeschichten, die zum Teil schon Vorformen der Sprechblase, die sogenannten "filatterios", eine Art Spruchbänder, die dem Erzählenden aus dem Mund flatterten, enthielten. Durch ihre Ergänzung von Wort und Bild hatten diese Bildergeschichten einen hohen Informationsgehalt auch für diejenigen, die kaum oder gar nicht lesen konnten und eigneten sich somit hervorragend als Kommunikationsform für die breite Bevölkerung.

Genau aus diesem Grunde hatten insbesondere Bildergeschichten unter den gebildeteren Mitmenschen von Anfang an einen schlechten Ruf und waren ihnen ein Dorn im Auge. Bisher waren Kunst und Literatur - in Form von teuren Originalen bzw. nur für belesene Menschen verständlichen, gut gehüteten Büchern und Schriftrollen - nur einem Kreis von wenigen wohlhabenden und einflußreichen Menschen vorbehalten gewesen, die aus ihrem Wissen entsprechend Kapital schlugen. Nun gab es ein Medium, das diese Privilegien anzukratzen drohte. Gegen die Gefahr, daß einem auf diese Weise plötzlich ein Teil des, wie man meinte, einem privilegierten Kreis vorbehaltenen Wissens, "weggenommen" und dem gemeinen Volk zugänglich gemacht wurde, setzte man sich mit Verachtung zur Wehr. Schnell verbreitete sich die Meinung, es handle sich um billigen und niederen Schund, den da plötzlich jeder Hans und Franz verstehen und sich leisten konnte. Wenn es sich bei diesem Stein des Anstoßes allerdings ausschließlich um verachtenswerten Schund handelte, so fragt man sich, warum regten die Leute sich dann so vehement darüber auf und sorgten sich um ihre Bildungsvorrechte?

In diesem Zusammenhang gesehen, haben die heutzutage immer noch bestehenden Vorurteile gegen Comics eine durchaus lange und historische Tradition.

Die Entwicklung der Comics ging unter anderem über die Karikatur, die schon früh Stilelemente entwickelte, die sich zum großen Teil auch in modernen Comics finden. So enthielten Karikaturen Bewegungslinien und Sprechblasen, überzogene Darstellungen von Figuren, "lebendige" Gegenstände, Tiere, die sprechen konnten, usw. Karikaturen wurden zum großen Teil als Vervielfältigungen verbreitet, was übrigens die englische Regierung wegen der schnell um sich greifenden Sitte, Raubdrucke anzufertigen, dazu veranlaßte, das Copyright einzuführen.

Einige berühmte Karikaturisten gelten als bedeutende "Vorväter" der Comics, so unter anderem William Hogarth, (1697 - 1764), Rodolphe Töpffer (1799 - 1846) und Wilhelm Busch (1832 - 1908). Der in England lebende Maler, Graveur und Karikaturist William Hogarth war mit seinen Karikaturen sehr beliebt und erfolgreich. Seine oft als Serie angelegten detailreichen Bilder erzählten regelrechte Geschichten - ein weiteres gemeinsames Element von Comic und Karikatur, das beide als echte Kommunikationsmedien auszeichnet, ist in dieser Liebe zum Detail, der "Mitteilsamkeit", zu finden, von der ein guter Comic oder eine gute Karikatur leben. Wenn man Bildergeschichten von Rodolphe Töpffer oder Wilhelm Busch ansieht, kann man kaum einen Unterschied zu den uns bekannten, modernen Comics entdecken. Zwar verwendeten sie keine Sprechblasen, aber das tat beispielsweise Hal Foster in seinem Comic-Epos "Prinz Eisenherz" auch nicht.

Schon an diesem kurzen Abriß kann man also erkennen, daß die Entwicklung des Comics fließend verlaufen ist, und man nicht von einer "Entstehungsstunde" sprechen kann.

Da Comics jedoch auch heutzutage immer noch als "niedere Abkömmlinge" von Literatur und Kunst betrachtet werden, gab es ein starkes Bestreben, ein bestimmtes Datum festzulegen, das die "Geburtsstunde" des Comics bezeichnete, damit es offiziell als eigenständige Darstellungsform gelten konnte. Deshalb suchte man ein Symbol, das für die Entstehung des Mediums Comic stehen kann. Um den Comic als Massenkommunikationsmittel des technischen Zeitalters zu definieren, bot sich hierfür eine der Serien an, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Wochenendbeilagen amerikanischer Tageszeitungen als "comic supplements" - komische Beilagen, erschienen waren.

Am 5. Mai 1895 erschien in der Sonntagsbeilage der "New York World" die erste Folge einer Serie, die sich "Hogans Alley" (Hogans Gasse) nannte und im Slum-Milieu angesiedelt war. Der Zeichner war Richard Felton Outcault. Jede Folge bestand aus einen großen Einzelbild zu einem bestimmten Thema, auf dem es von zahlreichen Gestalten, Bewohnern der "Hogans Alley", wimmelte. Mitten unter ihnen befand sich ein zunächst noch namenloses Kind mit Segelohren, das nur mit einem blauen Nachthemd bekleidet war. Auf seinem Hemd trug das Kind bissige Kommentare und rotzfreche Bemerkungen, die genauso respektlos wie die zahlreichen übrigen Sprüche waren, mit denen das Bild ausgefüllt war.

Besonders gegen Obrigkeiten hatten die Bewohner von "Hogans Alley" so einiges. Ein Bild hieß zum Beispiel: "Was die Bewohner der Hogans Alley mit dem Hundefänger machen" - mit dem Mann hätte man wahrlich nicht tauschen mögen! Gerade diese unverhohlene Respektlosigkeit liebte das Publikum, und die Serie bekam regen Zuspruch. Die Rechnung des Großverlegers Pulitzer, der, wie andere Verleger auch, die bunten Beilagen eingeführt hatte, um die Auflagen zu erhöhen, ging also auf.

Im Laufe der Zeit wurden einige Neuerungen eingeführt, so verwendete Outcault zum Beispiel ab Februar 1896 Sprechblasen. Aber die wohl wichtigste Änderung ging mit einer technischen Neuerung einher - es war erstmals gelungen, eine gelbe Druckfarbe für den Zeitungsdruck zu entwickeln. Am 5.1.1896 ließ Outcault das bis dahin blaue Nachthemd des namenlosen Jungen knallgelb werden, was seine Beliebtheit und seinen Bekanntheitsgrad schlagartig ansteigen ließ. Er bekam nun auch einen Namen, "The Yellow Kid", in den später die ganze Serie umbenannt wurde.

Obwohl die Serie "Yellow Kid" eigentlich gar kein "richtiger" Comic war, denn ihr fehlt das wesentliche Element der Bilderreihung, schien sie am geeignetsten zu sein, symbolisch als "erster" Comic zu gelten. Die Einführung der gelben Druckfarbe, die bei dieser Serie mitverfolgt werden konnte, war ein wesentlicher Grund. Zum anderen kann der kleine Junge "Yellow Kid" als die erste über dieses Medium hinaus bekannt gewordene Comic-Persönlichkeit gelten. Er wurde als Werbefigur verwendet, es gab "Yellow Kid"-Spiele und Figuren sowie einen Nachdruck seiner Abenteuer als Buch. Übrigens soll der Ausdruck "Yellow Press" - Skandalpresse, von einem Pressekrieg um "Yellow Kid" herrühren. Großverleger Hearst hatte Pulitzer den Zeichner und seine Figur schon im Jahr 1896 abgeworben, woraufhin dieser beide wieder zurückkaufte, um wiederum von Hearst aus dem Felde geschlagen zu werden. Am Ende erschien in den Zeitungen beider Verleger jeweils eine andere Version von "Yellow Kid", in Pulitzers "New York World" eine, die nun der Maler George Lucas zeichnete, in Hearsts "New York Journal" die Version von Outcault.

Man kann die Serie "Yellow Kid" somit als Bindeglied zwischen den frühen Comics mit ihren Vorläufern und dem technischen Zeitalter verstehen. Beides ist in dieser Serie symbolisiert, die Herkunft der Bildergeschichten durch das Volk in "Hogans Alley", die industriellen Entwicklungen eines technisierten Zeitalters durch die Einführung der gelben Druckfarbe und das Massenmedium Zeitung.

5. Februar 2007