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BERICHT/050: 25 Jahre Kulturhauptstädte Europas (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2010

25 Jahre Kulturhauptstädte Europas

Von Edda Rydzy


RUHR 2010 ist derzeit viel beachtet. Doch seit wann gibt es eigentlich Kulturhauptstädte? Unsere Autorin geht auf die Entwicklung der Kulturhauptstädte Europas ein - als Spiegel der Zeit und Entwicklungslabor.


Im Projekt der Kulturhauptstädte Europas spiegelt sich deutlich die Entwicklung der vergangenen 25 Jahre. Als im Jahr 1985 dieser Prozess gestartet wurde, ging es im Kern auch darum, dass die kulturellen, zivilgesellschaftlichen und politischen Prozesse in den Mitgliedsländern nicht den Anschluss an die Dynamik der ökonomischen Integration der europäischen Gemeinschaft verlieren.

Folgerichtig bestand eine der Hauptabsichten darin, Anreize dafür zu schaffen, dass die Europäer sich gegenseitig kennen lernen. Dass sie sich als kulturell Verwandte begreifen und durch das Knüpfen von grenzüberschreitenden Netzen weitere Gemeinsamkeiten stiften. Darüber hinaus geht es um das gegenseitige Verständnis von Kultur und Kunst, sowie die Zurschaustellung und Pflege des in den jeweiligen Kulturhauptstädten verorteten bedeutenden kulturellen Erbes.

Allein durch die rasante Entwicklung von Billigfluglinien und Städte-Massentourismus sowie durch die unendlichen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation und durch das inzwischen schier uferlose Angebot privater elektronischer Medien erfolgen inzwischen die wechselseitige Kenntnisnahme und Horizonterweiterung der europäischen Bürger auf andere Weise viel effektiver und effizienter, als das mit dem Medium der "Kulturhauptstädte Europas" möglich wäre.

Parallel dazu hat sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Geschwindigkeit der Globalisierung die politische Landschaft entscheidend geändert.

Der gesamte Kulturbereich hat - repräsentiert in Schlüsselbegriffen wie Soziokultur, Kulturmarketing bis hin zu Creative Industries und Kulturwirtschaft - rasante Erweiterung, Differenzierung und Entwicklung erfahren.


Titel Kulturhauptstadt als Geschenk des Himmels

All dies ist nicht ohne Wirkung auf das Projekt der "Kulturhauptstädte Europas" geblieben. Bereits in den 80er Jahren begann sich eine Sensibilität dafür zu entwickeln, dass es verschenkte Anstrengung bedeutet, sich in den Kulturhauptstädten lediglich auf das Aufpolieren geerbten Kulturguts und auf den Einkauf möglichst spektakulärer Events zu konzentrieren. Glasgow 1990 war das erste Beispiel für die Potenzen kultureller Instrumentarien im Blick auf nachhaltige Stadtentwicklung. Weimar 1999 hat mit der Schneise zwischen der Stadt und dem Konzentrationslager Buchenwald den mutigen Schritt unternommen, die Kulturhauptstadt in den Dienst historischer Konfliktverarbeitung zu stellen.

Noch im Jahr 1999 reagierten das Europäische Parlament und die Europäische Kommission auf die neue Situation. Anforderungen wie Partizipation und Nachhaltigkeit hielten Einzug in den damaligen Kulturhauptstadt-Beschluss. Die geradezu inflationäre Verwendung der Vokabel "europäischer Mehrwert" verwies auf die zunehmende Erwartung, dass durch die jeweiligen Akteure ein gemeinsamer europäischer Lernprozess befördert wird.

Die Anfangsjahre des neuen Jahrtausends waren durch eine besondere, zum Teil durchaus widersprüchliche Dynamik geprägt. Einerseits begriffen immer mehr Städte, dass aus der Sicht von Stadtmarketing und angestrebter Imageentwicklung der Titel "Kulturhauptstadt Europas" ein Geschenk des Himmels ist. Zum ersten Mal in Vorbereitung des Kulturhauptstadtjahres 2008 führte dieses multiple Interesse in Großbritannien zu einem nationalen Wettbewerb von 8 Städten.

Gleichzeitig gab es andererseits heftige Kritik, die 2002-2004 besonders die deutschen Medien bewegte: Sie zielte vor allem auf die im Vergleich zum Nutzen unverhältnismäßig hohen Kosten, auf den Eventcharakter und darauf, dass viele Städte nach Ablauf des Jahres mit Investitionsruinen auf Schuldenbergen saßen. Die Europäische Kommission nahm sich dessen an. Sie gab eine Analyse der Kulturhauptstadtergebnisse in Auftrag, die von einem Team um Robert Palmer durchgeführt wurde. Allerdings hatte sie dabei manche neue Chancen noch nicht im Blick.

Denn: Nicht nur die Auseinandersetzung um das Projekt der Kulturhauptstädte erreichte eine neue Qualität, auch das Interesse daran. Eine besondere Ausstrahlung des Bewerbungsprozesses liegt darin, dass die meisten der Bewerberstädte für sich und aus sich heraus einen kulturellen Aufschwung hervor brachten, wie ihn das Land seit der Geburtsstunde der Neuen Kulturpolitik in der Brandt-Ära nicht gesehen hatte. Tausende Bürger diskutierten die Geschichte ihrer Städte, deren europäische Wurzeln und die Frage, wo sie gemeinsam hinwollen und was sie Europa Positives hinzufügen können. Gleichzeitig ist aber den zentralen Akteuren immer bewusst gewesen, dass es sich hier um einen durchaus harten Wettbewerb der Städte handelte, der noch dazu lange Zeit völlig ungeregelt stattfand und deshalb mit kraftraubenden Unsicherheiten behaftet war.


Kulturhauptstädte mit Laborcharakter

In einer unübersichtlichen Gleichzeitigkeit von Herausforderungen, Chancen und Konflikten haben es die Bewerberstädte für 2010 vermocht, sich nicht nur als Konkurrenten um den Titel zu begegnen, sondern als Kooperationspartner über die Zukunft des Projekts "Kulturhauptstädte Europas " zu diskutieren. Sie dachten grenzüberschreitend darüber nach, wie es mit den Instrumentarien der Kultur möglich ist, Beiträge zur Lösung von Problemen wie Integration, Arbeitslosigkeit, Umweltzerstörung, soziale und ökonomische Disproportionalität zu leisten. Die in der "Budapester Erklärung" von 2005 zusammen gefassten Ergebnisse haben, immerhin was methodische Fragen betrifft, Eingang in den seit 2007 geltenden neuen Beschluss des Europäischen Parlaments gefunden. Es wird dort die Möglichkeit eingeräumt, im Vorfeld der europäischen Entscheidung nationale Wettbewerbe durchzuführen. Das sollte zur Regel werden. Und: Die Arbeit des auf der Europaebene eingesetzten Monitoring Committee erfolgt intensiver und nachhaltiger als in den Jahren zuvor.

Leider verwendet die europäische Ebene - obwohl in manchen Jahren in den künftig titeltragenden Mitgliedsländern insgesamt bis zu 160 Städte im Wettbewerb stehen - zu wenig Aufmerksamkeit auf diese Phase. Dabei sind gerade dann die Lernbereitschaft und der Leistungswille besonders stark und breit anzutreffen. Gerade dann also könnten durch geschickt europäisch organisierte Möglichkeiten des Erfahrungsaustauschs und der Bildung besonders wirkungsvolle Lern- und Entwicklungseffekte ausgelöst werden.

Diesem Anspruch wird entgegengesetzt, er sei sinnlos, wenn nicht kontraproduktiv. Die Unterschiedlichkeit der Städte schließe solche Effekte von vornherein aus. Im Blick auf die Titelträger von 2010 könnte man fast geneigt sein, einem solchen Vorbehalt zuzustimmen.


Pécs, Istanbul, Ruhrgebiet

Pécs hat etwa 200.000 Einwohner, seit 2005 zwei Bürgermeisterwechsel durchlebt und so gut wie gar keine Industrie, dafür abermit den Übergriffen einer zentralistisch organisierten Kulturpolitik zu kämpfen. Trotz alledem kulturelle Brücken über den Balkan zu schlagen, mit der Zsolnay-Manufaktur einen integrierten Kultur-, Produktions- und Tourismusstandort zu schaffen sowie wider Erwarten doch noch die überfällige Autobahnanbindung an Budapest zu realisieren - all dies fußt auf einer großen, wertzuschätzenden Anstrengung.

Die Dunkelziffer eingerechnet, leben in Istanbul etwa 20 Millionen Einwohner. Eine türkische Kulturpolitik existiert insofern, als es einen ausgeprägten staatlichen Willen zur Sanierung besonders des architektonischen Erbes gibt. Moderne Kunst, kulturelle Bildung usw. sind überwiegend der Spendierfreude von Mäzenen und damit einer gewissen Willkür überlassen. Dass es zur Bewerbung kam, ist dem zähen Ringen eines mehr als heterogenen Konglomerats zivilgesellschaftlicher Organisationen zu verdanken. Es gab keine institutionelle kulturpolitische Ordnung für den Diskurs. Hier geht es nicht nur darum, Europa zu beweisen, dass die Stadt von alters her aus europäischen Wurzeln zehrt. Die erste Adresse solchen Wissens sind viele Istanbuler selbst. Wie problematisch das ist, kann man an der Zunahme der von Kopf bis Fuß schwarz verhüllten Frauen im Stadtteil Fatih ablesen. Die Organisatoren von Istanbul 2010 sind darauf angewiesen, sich weithin populärer Stile und Angebote zu bedienen.

Wie sollte man das mit RUHR 2010 vergleichen? Es handelt sich auch hier um schwierigstes Gelände: 5 Millionen Einwohner, 53 beteiligte Städte, mehrere zu berücksichtigende politische Entscheidungsebenen, hunderte Institutionen und Einrichtungen der Kunst und Kultur, in mehrerlei Hinsicht Restposten der Industriegesellschaft, Haushaltsnotstand, Armut, Problemquartiere. ... Trotzdem gelang es, nicht nur ein Programm, von dem das ganze Gebiet und eine Vielzahl europäischer Partner partizipiert, sondern auch die bislang größte Nachhaltigkeit und intelligente, stabile Arbeitsstrukturen zu erarbeiten. Die Voraussetzungen dafür nimmt man in Deutschland als selbstverständlich hin: institutionell eingeübte und ins Bewusstsein geprägte Föderalität und Subsidiarität, Autonomie der Kunst, Jahrzehnte kulturpolitischen Diskurses, starke zivilgesellschaftliche Akteure wie die Kulturpolitische Gesellschaft, der Deutsche Kulturrat, die soziokulturellen Zentren, dazu eine breite und differenzierte Kulturwissenschaftslandschaft.

RUHR 2010 beweist, dass Kulturhauptstädte Laborcharakter annehmen können. Im Kern der Versuchsanordnung steht eine strukturelle Frage, die weit über Kulturhauptstädte hinaus von Bedeutung ist: Wie können Kooperationsformen zwischen heterogenen Partnern so institutionalisiert werden, dass sie zugleich flexibel und stabil, praktisch handlungs-, urteils-, konflikt- und entscheidungsfähig sind?

Genau darüber, wie die Beziehungen von Akteuren in einer komplexen Welt der kulturellen, ökonomischen und sozialen Vielfalt praktisch fruchtbar gestaltet werden können, sollte und kann im Kontext der Kulturhauptstädte und ihrer Bewerber ein Lernprozess organisiert werden.


Edda Rydzy (*1956) Philosophiestudium in Leipzig und Berlin, Geschäftsführerin der Deutschen Vereinigung der Europäischen Kulturstiftung.
rydzy@europkult.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 5/2010, S. 18-20
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. August 2010