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BERICHT/055: Vortragsreihe - Orte als Anker- und Ausgangspunkt (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2012

Orte als Anker- und Ausgangspunkt

Von Annika Schlitte



Was ist ein Ort? Welche Rolle spielt er für unsere Wahrnehmung der Welt, wie bestimmt er kulturelle Erfahrungen und soziale Beziehungen? Die Diskussion solcher Fragen scheint auch Ausdruck eines spezifisch modernen Gefühls der Ort- und Heimatlosigkeit zu sein.

"To be in the world is to be in place" (E. Casey) - was auch immer wir tun, stets befinden wir uns an einem Ort. Obwohl jeder zugeben muss, dass der Aufenthalt an irgendeinem Ort für unser alltägliches Leben unvermeidlich ist, denken wir über diese Tatsache im Allgemeinen wenig nach. Was aber ist ein Ort? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Der berühmte Ausspruch des Augustinus über die Zeit lässt sich daher getrost auf den Ort übertragen: Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es, wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären soll, weiß ich es nicht. Einer der wenigen Philosophen, welche die Frage nach dem Ort in jüngster Zeit zu einem systematischen Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens gemacht haben, ist der US-amerikanische Phänomenologe Edward S. Casey, Professor an der Stony Brook University in New York, den die Teilnehmer des philosophischen Forschungskolloquiums der KU Eichstätt bei einem Workshop kürzlich persönlich kennenlernen konnten.


Der Lehrstuhl für Philosophie beteiligte sich an der Organisation dieses Workshops zum Thema "Heimat und Ort", der von der Konrad-Adenauer-Stiftung zusammen mit dem Sonderforschungsbereich "Transzendenz und Gemeinsinn" vom 31.05. bis zum 01.06.2012 an der TU Dresden veranstaltet wurde. Das Treffen stand im Kontext einer Reihe der Konrad-Adenauer-Stiftung, die sich der Auseinandersetzung mit dem schwierigen Begriff der "Heimat" verschrieben hat. "Heimat" als anthropologisches Konzept ist auch mit der Erfahrung bestimmter Orte verbunden - ein Punkt, der im Zeitalter der Globalisierung und zunehmenden Mobilität verstärkt in den Fokus des öffentlichen Interesses tritt.


Philosophisch bedeutet der Ort, so wie Edward Casey ihn entwirft, jedoch weit mehr. In Caseys Buch "The Fate of Place", welches dem Workshop zugrundelag, unternimmt dieser den Versuch, die "verborgene" Geschichte des Ortes in der Entwicklung des abendländischen Denkens aufzudecken. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass der Ort im Laufe der Denkgeschichte durch den Raum verdrängt wurde und in Vergessenheit geriet. In den antiken Schöpfungsmythen sowie bei Platon und Aristoteles spielte der Ort nämlich noch eine entscheidende Rolle: Bei Aristoteles ist es der Ort (topos), der ein Ding zu dem macht, was es ist. Nach Casey hat der Ort seine bestimmende Kraft jedoch im Laufe des Mittelalters verloren und wird von der Idee des leeren, unendlichen Raumes gleichsam absorbiert und auf einen Punkt im Koordinatensystem reduziert. Erst nach Kant kommt es in der phänomenologischen Philosophie zu einer Wiedergewinnung eines gehaltvollen Ortskonzepts, indem sich die Aufmerksamkeit auf unsere leibliche Erfahrung richtet.


Orte sind für Edward Casey nicht einfach natürliche Gegebenheiten; etwas, das wir bloß vorfinden, sondern bilden einen Teil unseres Zugangs zur Welt. Im Gegensatz zum homogenen Raum der modernen Naturwissenschaft hat der Ort eine Innenseite, die für ein leibliches Wesen erfahr- und erlebbar ist. Erst aufgrund dieser Erfahrung bildet sich unsere Vorstellung vom mathematischen Raum als eine Abstraktion - Caseys Philosophie des Ortes reiht sich damit ein in die Versuche der Phänomenologie, der Verkürzung des Erfahrungsbegriffs durch die moderne Wissenschaft etwas entgegenzusetzen. Vortrag und Workshop gaben den Teilnehmern (zum größten Teil Doktoranden und Habilitanden an der KU) die Gelegenheit, ihre Kenntnisse in der Philosophie des Ortes zu vertiefen und Caseys Ansatz mit dem Autor persönlich zu diskutieren.


Die Beschäftigung mit der Thematik ging an der KU unterdessen weiter: Im Sommersemester fand unter dem Titel "Getting Back into Place" eine interdisziplinäre Vortragsreihe statt, die einen vielfältigen Einblick in die Bedeutung und den Stellenwert von Ortsbeziehungen in den verschiedenen Fachtraditionen (Geographie, Kunstgeschichte, Anglistik und Soziologie) bot. Der erste Vortrag von Julia Walla und Sebastian Hillebrand (Mitarbeiter des Lehrstuhls für Kulturgeographie) kreiste um Venedig; ein Paradebeispiel dafür, welche Macht kollektive Bilder und Mythen von bestimmten Orten entwickeln können, aber auch ein Beispiel für eine Geschichte des Verlusts. Es wurde gezeigt, wie sich Venedig als Ort der Sehnsucht, als Reiseziel, von seiner konkreten geographischen Verankerung löst und zu einem medialen Muster wird. Casey spricht vom Phänomen der "Wiederverortung" - einer Veränderung, die Orte durch jegliche Form der Darstellung erfahren. Angesichts der touristischen und popkulturellen Vereinnahmung wurde in der Diskussion die Frage erörtert, inwiefern eine Venedigerfahrung überhaupt noch "authentisch" sein kann bzw. ob diese Kategorie hier überhaupt sinnvoll verwendet werden kann. Venedig ist überall - und doch nirgends.


Am zweiten Abend kam mit dem Landschaftsbegriff eine räumliche Einheit in den Blick, welche bereits Gegenstand interdisziplinärer Forschung geworden ist. Das Bedürfnis der modernen Welt, sich die Natur künstlerisch-ästhetisch als Landschaft anzueignen, ist von Joachim Ritter als Gegenbewegung zum modernen Naturverständnis gedeutet worden, welches die Natur dem Menschen nur noch in Einzelteilen, als Beobachtungsobjekt entgegentreten lässt. In der Landschaftsmalerei, die das Mensch-Natur-Verhältnis ins Bild setzt, zeigte Prof. Dr. Michael Zimmermann (Lehrstuhl für Kunstgeschichte) in seinem Vortrag eine Dialektik von Einbindung und Entfremdung auf. Dabei kam auch die Gegenüberstellung eines abstrakten Einheitsraumes und eines erlebten Ortes zur Sprache.


Der politische Raum als Sphäre des Handelns, Sprechens und Miteinander-Umgehens rückte am dritten Abend mit der Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichem und Privatem ins Zentrum. Die räumliche Basis der Unterscheidung von "öffentlich" und "privat" wird besonders deutlich bei Hannah Arendt, welche sich auf die antike Gegenüberstellung von privatem Raum des oikos und öffentlicher Sphäre der polis bezieht und betont, dass die politische Freiheit in der Antike stets an den Raum bzw. an einen konkreten Ort gebunden sei, an dem sie erscheinen könne. Dass mit der antiken Polis, mit der Agora - die dieser Zeitschrift ihren Namen gibt - ein solcher Ort existiert hat, bezeichnet Arendt als "Glücksfall der Geschichte".

Doch was passiert, wenn ein solcher Ort für die Freiheit verlorengeht? Offensichtlich haben wir es auch hier wieder mit der Gefahr eines Verlustes zu tun. Denn nicht nur das Fehlen einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit, sondern auch das Verschwinden der Privatsphäre ist schon beklagt worden. Wie der Vortrag von Prof. Dr. Ulf Schulenberg (Lehrstuhl für Amerikanistik) ausführte, ist für Richard Rorty nicht so sehr die Zurückdrängung des einen auf Kosten des anderen Bereichs zu befürchten, sondern die Vermischung von beiden. Rorty schlägt eine strikte Trennung von privater und öffentlicher Sphäre vor und verweist die dichterische Selbsterschaffung in den Bereich des Privaten und die Entwicklung eines moralischen Konsenses in den Bereich des Öffentlichen.


Im letzten Vortrag mit dem Titel "Being at Home" von Prof. Dr. Joost van Loon (Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und Soziologische Theorie) ging es wieder um einen bestimmten Ort, nämlich das Zuhause und seine Bedeutung für die Bildung nationaler Identität. In seinem Vortrag suchte er am Beispiel des "Good Housekeeping" zu zeigen, mit welchen Praktiken das Zuhause überhaupt erst zu einem Ort gemacht wird und inwiefern die Sehnsucht nach einem schönen Heim mit gesellschaftlichen und politischen Prozessen verwoben ist.


An vier Abenden erfolgte eine Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Ort, und in verschiedener Weise zeigte sich der Ort als ein gefährdeter, im Verschwinden begriffener. Für den modernen Menschen scheint die Ort- und Heimatlosigkeit viel kennzeichnender zu sein als das "Being at Home". Man denke nur an Lukacs' Diktum von der "Transzendentalen Obdachlosigkeit", das für die Erschütterungen des 20. Jahrhunderts einen passenden Ausdruck findet. Doch welche Rolle spielt die Philosophie bei diesem modernen Gefühl des Heimatverlusts? Bei Novalis gibt es ein Fragment, das von Heidegger in seiner Bestimmung der Philosophie ausgewertet wird, in dem es heißt: "Die Philosophie ist eigentlich Heimweh - ein Trieb, überall zu Hause zu sein". Heidegger bemerkt, dieser Satz setze voraus, dass wir als Philosophierende gerade nicht überall zuhause sind, wohl aber nach dem "Sein im Ganzen" streben. Die Beheimatung, das Sich-zuhause-Fühlen in der Welt scheint auch für die Philosophie primär etwas Verlorenes zu sein; steht doch am Beginn der Philosophie das Staunen und damit eher ein Befremden gegenüber der Welt als ein Sich-in-der-Welt-zuhause-Fühlen. Man kann die Philosophie als Versuch verstehen, diese Beheimatung wiederzugewinnen und aus dieser Perspektive erscheint das Errichten von Denkgebäuden, wie es in den großen Systementwürfen der Philosophie immer wieder versucht worden ist, als Suche nach einem wirksamen Schutz gegen das Ausgesetztsein des Menschen auf der Erde; einem Obdach, das in der nachmetaphysischen Philosophie schließlich immer schon als verloren gilt. Kant beschreibt in der Kritik der reinen Vernunft seine transzendentale Elementarlehre als eine Untersuchung des Baumaterials für ein Gebäude, welches nach sorgfältiger Materialprüfung bescheidener ausfallen musste als vorher geplant: Wenngleich wir "einen Turm im Sinne hatten, der bis an den Himmel reichen sollte", so habe sich gezeigt, dass "der Vorrat der Materialien doch nur zu einem Wohnhause zureichte, welches zu unseren Geschäften auf der Ebene der Erfahrung gerade geräumig und hoch genug war, sie zu übersehen" (A 707/B 735).


Immerhin. Was für ein Gebäude auch immer die Philosophie heute bewohnt, sie tut gut daran, die Tür ihrer Behausung zu öffnen und im (universitäts-)öffentlichen Raum mit den anderen Disziplinen ins Gespräch zu kommen. Hier kann die Auseinandersetzung über den Ort als fundamentale, aber unterbeleuchtete sinnstiftende Kategorie ein möglicher erster Ansatzpunkt auch für eine Grundlagenreflexion der Kulturwissenschaften sein.

Die Reihe soll fortgeführt werden. Interessenten für eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Thema können sich unter philosophie@ku.de melden.


Dr. Annika Schlitte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie (Prof. Dr. Walter Schweidler).

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Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Ausgabe 2/2012, Seite 30-31
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr. Richard Schenk
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Telefon: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-2594
E-Mail: pressestelle@ku.de
Internet: www.ku.de
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. November 2012