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FRAGEN/001: Internationale Tagung spürt europäischem Bildungsgut nach (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 10 vom 8. Juni 2010

"Der Mensch ist zwecklos, aber sinnvoll"
Internationale TUD-Tagung spürt europäischem Bildungsgut nach

Das Gespräch mit Frau Professor Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz führte Michael Ernst


Die Professur für Religionsphilosophie und vergleichende Religionswissenschaft am Institut für Philosophie der TU Dresden veranstaltet vom 15. bis zum 18. Juni in Zusammenarbeit mit dem Mitteleuropäischen Institut für Philosophie der Karls-Universität Prag eine öffentliche internationale Tagung zum Thema "Die Bildung Europas". Warum das nicht nur unter dem Aspekt aktueller Pisa-Debatten ein brisantes Thema ist, klärt ein Gespräch mit der Philosophin und Professurinhaberin Prof. Dr. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz.


UJ: Was ist Anlass der Tagung - etwa Konkurrenzdenken im Kontext mit aufstrebenden Regionen wie China und Nahost? Selbstbehauptung europäischer Werte? Abgrenzung zu Amerika?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Europa als Kontinent ist tatsächlich etwas in den Windschatten anderer Regionen geraten. Dabei stammt die wissenschaftliche und technische Kultur ja ursprünglich aus Europa. Doch ich denke schon, ein gewaltiges Potential ist hier nach wie vor ausgeprägt vorhanden, auch wenn damit derzeit nicht die allererste Reihe besetzt ist. Gewaltige Ressourcen sehe ich insbesondere in der Kultur, im Menschenbild, in der Rechtsstaatlichkeit - das sind nach wie vor Modelle für andere. Wir sehen das beispielsweise an den globalen Migrationsströmen, da sind längst nicht mehr die USA an vorderer Stelle für Einwanderer attraktiv, sondern europäische Staaten.

Damit ist nicht nur Europas Kultur gemeint, sondern auch die Forschungslandschaft mit ihren enormen Leistungen des 20. Jahrhunderts. Daran anknüpfend kann sich Europa mit einem guten Selbstbewusstsein aufstellen. In diesen Wettbewerb sollten wir aber nicht als Konkurrenten gehen.

Auch mit einem Blick nach China, wo wirtschaftlich wirklich eine unerhörte Überlegenheit wächst, ist festzustellen, dass momentan verstärkt europäische Philosophen übersetzt und gelehrt werden. Ich sehe dies als Zeichen dafür, wie sehr unsere geistigen Ressourcen dort anerkannt und herausfordernd sind.

UJ: Wie stark ist der europäische Bildungsgedanke an das Stichwort Aufklärung gebunden?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Ganz erstrangig, weil Aufklärung der letzte, auch im kollektiven Gedächtnis haftende Aufbruch war, um dem Thema Vernunft den ersten Platz einzuräumen. Insofern ist die Aufklärung Maßstab dafür, wie wir in die Welt schauen, wie wir Welt betrachten. Es gibt allerdings eine Rückseite: Ende des 20. Jahrhunderts geriet die Vernunft stark in die Kritik, weil sie nur zweckrational verstanden wurde. Wer Vernunft nur einsetzt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, nimmt nur einen begrenzten Ausschnitt von ihr wahr. Vernunft hat Bereiche, die mit "nützlichem Zweck" überhaupt nichts zu tun haben. Als Philosophin unterscheide ich zwischen Zweck und Sinn.

Zu leben ist für sich sinnvoll. Zweckrationalität ist nur untergeordnet. Wir können doch Welt, Mensch, Leben nicht nur auf Nutzen reduzieren. In diesem Sinne sind die Geisteswissenschaften meiner Meinung nach gefordert zu klären, welches Menschenbild wir haben beziehungsweise im Zusammenhang mit Fortschrittsdenken haben wollen.

Der Mensch ist das Wesen der Möglichkeiten, und Möglichkeiten haben nun einmal freies Spiel, sind erst einmal ohne klare Zieldefinitionen. Diese Spielräume müssen wir haben, Universität ist ja auch so ein Spielraum. Dazu gehört natürlich auch Denken als Selbstzweck. Dazu gehört Philosophie als Umgang mit dem Zwecklosen, aber Sinnvollen am Menschen. Der Mensch ist zwecklos, aber sinnvoll.

Wir müssen die Menschen bilden, ihre Möglichkeiten größer ansetzen als nur in den Grenzen einer ergebnisorientierten Zwecklichkeit. Alles Musische gehört unbedingt mit dazu. Wie wichtig diese breit gefasste Form der Aufklärung ist, wird hoffentlich im Verlaufe unseres Kongresses gezeigt.

UJ: Wie enttäuscht sind Sie denn vom derzeitigen Zustand der Menschheit?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Ja, wir haben schon turbulente Zuspitzungen im Sinne der zwecklichen Studiengänge, wenn ich das erst einmal nur im Nahbereich des Universitären beantworte. Ich halte es für schwierig, wenn von vornherein klar ist, was beim Studium am Ende herauskommen soll - da fehlen die Spielräume! Wenn Leute nicht das studieren dürfen, was sie eigentlich mit Lust wollen. Ich glaube, wir orientieren uns zu sehr an praktischer Ausbildung anstelle von Bildung. Da gibt es einen großen Unterschied.

Und der allgemeine Bildungsstand - je älter man wird, desto mehr Pessimismus kommt auf. Das hat sicherlich auch mit dem Einfluss der Medien zu tun, was da so an Plattitüden und Verflachung verbreitet wird. Das Niveau ist erschreckend! Was allein im Fernsehen an Nichtkenntnis herrscht und in Debatten wie beispielsweise über Religion deutlich wird, das ist einfach lächerlich.

UJ: Die "Leistungen Europas" werden oft im Rückblick gesehen, was häufig in eurozentristische Sicht mündet. Aber schon vor der europäischen Hoch-Zeit gab es anderswo herausragende Entwicklungen in Kultur, Ethik und Bildung. Soll die Tagung das historisch Erreichte beleuchten, dessen "Rettung" betreiben oder die Chance einer Art Renaissance fördern?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Wir wollen im Kongress den Bildungsgedanken Europas in den Vordergrund stellen, weil wir ihn für offen halten. Bildung ist ja kein singulärer Gedanke, sondern stützt sich auf die Philosophie des Griechentums, auf die römische Geschichte und römisches Recht, auf das Judentum und das Christentum. All diese Positionen und eben auch die Aufklärung sind im 20. Jahrhundert ja stark verzerrt worden, wurden durch Ideologien und Diktaturen teilweise zerschmettert und sind bildungspolitisch in ein Desaster gebracht worden.

Von dieser Offenheit und Weite Europas aus haben wir heute die Chance, gerade den Bereich des Möglichen zu betrachten. Wenn wir den Menschen als freies Wesen wahrnehmen, als bildbares Wesen, dann werden wir eben nicht einen Bildungskanon formulieren und anderen Kulturen etwas vorschreiben, sondern ganz ursprünglich und fundamental die Frage stellen: Wie können wir diesen unerhörten und unerschöpften Möglichkeiten des Menschen gerecht werden?

Das heißt, wir plädieren eigentlich für eine Grenzüberschreitung. Wenn Europa etwas hat, das seine Stärke ausmacht, dann hat das immer mit einer Grenzüberschreitung zu tun. Im Guten wie im Negativen, wenn wir an das koloniale Erbe denken. Europa ist einfach zu klein, um sich nur auf sich selbst zu konzentrieren.

UJ: Birgt der "Horizont der Freiheit" auch Gefahren von Beliebigkeiten?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Das ist eine enorme Versuchung. Freiheit und Relativierung wachsen auf einem Holz. Deswegen braucht die Freiheit Kriterien, sie ist ja nur dort zielführend, wo sie nicht in der Beliebigkeit endet. Freiheit ist immer die Freiheit zu dem, was man kann, und nicht einfach zu dem, was man will. Dieses Können und seine Grenzen müssten ausgereizt werden. Wer seine Begrenztheit wahrnimmt, denke ich, hat eher die Chance, sie als Glück wahrzunehmen und wirklich auszufüllen. Oder die Grenzen etwas zu weiten. Denn da gibt es viele Optionen, die noch nicht freigesetzt sind.

UJ: Wie definieren Sie Europa - als Geschichtsgut, geografische Abgrenzung oder Wirtschaftszentrum?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Europa hat eine enorme wirtschaftliche Stärke, steht aber schon längst nicht mehr dort, wo es einmal war. In puncto Umwelt ist Europa allerdings der momentan wohl besonnenste Kontinent.

Geografisch ist die Abgrenzung schwierig, was aber im heutigen Selbstverständnis kaum eine Rolle spielt. De facto ist die europäische Identität bis zum Ural zu sehen, es gibt aber auch Städte in Sibirien, die sehr europäisch geprägt sind.

Wir werden versuchen, Europa vorrangig kulturell zu sehen und nicht nur vom Eigenen, sondern auch vom Fremden her zu betrachten. Das war bei den Griechen schon so, die viel von den Persern übernahmen, Rom hatte Einflüsse aus Nordafrika - diese Gemengelage macht das Europa von heute aus. All diese Wurzeln sind keine übereinstimmenden Kulturen, da gab es Kampf, Abgrenzungen, alles in allem eine vitale Auseinandersetzung.

UJ: Europa und Ethos - steht das nicht im krassen Gegensatz zur heutigen Situation? Der Kontinent brennt an vielen Ecken, es geht um Krisenbewältigung statt -lösung; welche Chance hat da die Bildung? Wie deprimierend empfinden Sie Nationalismus?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Je mehr die Globalisierung um sich greift, desto deutlicher wächst der Wunsch nach Regionalisierung. Dadurch steht der Nationalismus nicht mehr an erster Stelle, dank Wirtschaft und Mobilität ist ohnehin alles vernetzt. Zugleich wächst der Bezug zu starken Identitätsmerkmalen wie Sprache, Dialektpflege und Religion auch dort, wo sie nicht aktiv gelebt wird. Im menschlichen Bewusstsein sind Perioden längerer kultureller Einheit prägend.

Das Sprachliche wird demzufolge ein wesentlicher Aspekt unseres Treffens sein. Monolingualismus ist keine Lösung, sondern gipfelt höchstens im Formelhaften. Wir werden daher sehr deutlich auch auf die Bedeutung der Polyfonie Europas hinweisen. Regionalismus ist allerdings etwas anderes als Neonationalismus, dies wird mit dem einstigen tschechischen Botschafter in Bonn, Jirí Grusa, schon unser erster Redner betonen.

Nation ist eine Fassung für Identität. In Deutschland sind wir gebrannte Kinder, was Nationalismus betrifft, in Frankreich ist man da viel souveräner. Das liegt auch am historischen Selbstverständnis, wir kommen nun einmal mehr aus einer deutschen Stammesgeschichte und sind somit regional geprägt. Aber Neonationalismus ist ganz eindeutig kein europäischer Weg.

UJ: Muss ein Europa ohne Gott ein gottloses Europa sein?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Das ist eine spitzfindige Frage. Ich denke schon, man muss Europa und die Gottesfrage zusammen denken. Europa hat es ja nicht geschafft, leider, eine Präambel in seinen Vertrag zu setzen, dass man sich verpflichtet weiß, den Menschen nicht nur von seinem Nutzen her zu sehen. Ein Würdebegriff wie in unserem Grundgesetz hat ja auch eine transzendente Qualität, allerdings keinen direkten Gottesbezug. Das hätte ich mir zumindest für den Europavertrag schon gewünscht.

Deutschland ist trotz allem ein tief religiöses Land. Hier ist die Reformation ausgebrochen und wird vielleicht, hoffentlich irgendwann einmal vollendet. Wir haben einen deutschen Papst und eine weltweit anerkannte Theologie. Hier ist ein Raum, in dem sich Menschen ernsthaft um Religion bemühen - oder sie ernsthaft ablehnen. In Europa mit seinen extrem starken Ideologien des 20. Jahrhunderts stagniert die Religiosität, wobei ich überzeugt bin, dass sich die Vitalität des Christentums nicht nur über den Besuch von Gottesdiensten definiert.

UJ: Ihr Wunschziel der Tagung?

PROF. GERL-FALKOVITZ: Da gibt es ein äußeres und ein inneres Ziel. Das äußere ist der Erhalt der Professur. Im nächsten Jahr werde ich pensioniert und bislang steht da aus Spargründen ein "k.w.", sinngemäß: "kann wegfallen". Es gibt eine hoffnungsvolle Studenteninitiative, die diesen "Kirschgarten" im Tschechowschen Sinne dringend erhalten will.

Und der innere Wunsch wäre, einen Bildungshorizont zu gewinnen, der einerseits polyfon ist und eine Freiheit zulässt, auf der anderen Seite unser Moduldenken im Bildungswesen aufsprengt. Wir müssen aus diesem Häppchendenken in Bildungsfragen herauskommen.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 10 vom 08.06.2010, S. 7
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2010