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INTERNATIONAL/015: Syrien - Sprachunterricht für Kurden boomt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. September 2012

Syrien:
Sprachunterricht für Kurden boomt - Unruhen schwächen Kontrolle des Regimes

von Karlos Zurutuza



Derik, Nordsyrien, 12. September (IPS) - "Ich möchte in meiner eigenen Sprache lesen und schreiben lernen", wünscht sich die junge Kurdin Manal, die in Syrien lebt. Diesem Ziel sind sie und ihre 30 Mitschüler nun so nah wie nie zuvor.

Die 21-Jährige ist alles andere als ungebildet. In nahezu perfektem Englisch erklärt sie, dass sie im nächsten Jahr an der Universität von Hasake, 600 Kilometer nordöstlich der syrischen Hauptstadt Damaskus ihren Abschluss in Wirtschaftswissenschaften machen möchte. Bis vor zwei Monaten hatte sie allerdings keine Möglichkeit, in ihrer kurdischen Muttersprache zu schreiben, die vor fast 50 Jahren von der im Land herrschenden Baath-Partei verboten worden war.

In diesen Sommerferien hat Manal kurdischen Sprachunterricht in der Badarhan-Akademie in Derik, etwa 700 Kilometer im Nordosten von Damaskus besucht. Zwei Sprachinstitute in der Stadt haben kürzlich Kurdisch mit in ihr Kursangebot aufgenommen. Drei wöchentliche Unterrichtseinheiten von jeweils einer Stunde sind für die Teilnehmer gratis. Finanziert wird das Lehrangebot durch einzelne private Unterstützer.

Kurdische Schüler im Nordosten Syriens - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kurdische Schüler im Nordosten Syriens
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

"Da ich Englisch spreche, kannte ich bereits das lateinische Alphabet, das auch im Kurdischen verwendet wird", sagt Manal, bevor sie den Klassenraum betritt. Am Ende des Schultags erzählt der Direktor Mohamed Amin Saadun, wie es zu der Initiative kam. Obwohl es den Unterricht in Derik erst seit zwei Monaten gibt, fanden sich in fast allen von Kurden kontrollierten Orten Vorläufer. So wurde Kurdisch schon vor Ausbruch der Unruhen vor mehr als anderthalb Jahren gelehrt.

"Wir hatten jahrelang Englisch- und Türkischunterricht angeboten und unsere Mühe damit, die kurdische Sprache sowie die Geschichte und Kultur unseres Volkes in das Angebot aufzunehmen", sagt Saadun, der als Schriftsteller und Lyriker bekannt ist.

Mohamed Sadik stellte zwei seiner Hinterzimmer kostenlos für den Unterricht zur Verfügung, damit das Institut den Ansturm neuer Schüler bewältigen konnte. "Viele Menschen sind für die Sache der Kurden gestorben", erklärt er. "Im Vergleich dazu zählt das, was ich anbiete, gar nicht."


Abkommen zwischen politischen Kurdenparteien

Seit der Unterzeichnung eines Abkommens zwischen den größten kurdischen Parteien Syriens in Erbil, der Verwaltungshauptstadt der autonomen Kurdenregion im Nordirak, wird das kurdische Bildungswesen in Syrien von der Partei der Demokratischen Union (PYD) überwacht, der stärksten politischen Gruppe der Kurden. Ein Ausschuss arbeitet zurzeit mit Hochdruck daran, Fächer wie Mathematik und Geschichte auf Kurdisch in den Lehrplan aufnehmen zu lassen.

Nachdem die Baath-Partei 1963 die Macht übernommen hatte, wurden die zwei bis vier Millionen Kurden in Syrien systematisch einer 'Arabisierung' unterzogen. An der Badarhan-Akademie lernen aber inzwischen wieder rund 600 Schüler Kurdisch.

Die indo-europäische Sprache hat fünf Varianten, von denen zwei besonders verbreitet sind. 'Kurmanji' basiert auf dem lateinischen Alphabet und wird von den Kurden in der Türkei und in Syrien gesprochen. 'Sorani' wird dagegen von der Mehrzahl der Kurden im Irak und Iran gesprochen und in persisch-arabischer Schrift geschrieben. Für beide Sprachvarianten gelten eigene Regeln. Die etwa 40 Millionen Kurden weltweit haben keine gemeinsame Sprache, die auf einem einheitlichen Alphabet beruht.

Manals Banknachbarin ist Fatima, eine Krankenschwester. Der Unterricht sei zweifellos wichtig, vor allem für künftige Generationen, meint sie. Die junge Frau erinnert sich noch gut daran, wie sie früher einmal für eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen wurde, weil sie in der Schule Kurdisch gesprochen hatte. "Wir haben die Sprache heimlich praktiziert, auch mit einigen Lehrern", erzählt sie.


Lehrer gefragt

Fatima will nun lernen, korrekt auf Kurmanji zu schreiben. Sie benutzt eine fotokopierte Grammatik und stützt sich vor allem auf ihren Tutor Hoshank, einer der ehrenamtlichen Lehrer. "Als ich hörte, dass Lehrer gebraucht wurden, habe ich keine Minute gezögert", sagt er. Hoshank hat sich selbst mit Hilfe des Internets beigebracht, auf Kurdisch zu schreiben. Er besitzt auch kurdische Bücher, die er zu Hause versteckt hielt. "Heute möchte ich etwas für mein Volk tun."

Als die ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich durch den Bau der Bagdad-Bahn 1916 stillschweigend eine Grenze festlegten, wurden kurdische Familien auseinander gerissen. Sie lebten fortan in der Türkei und in Syrien. Der 1920 geschlossene Vertrag von Sèvres sah zwar die Gründung eines Kurdenstaats vor. Diese Übereinkunft wurde aber niemals umgesetzt.

Seit der Verbreitung des Internets hat die Regierung in Damaskus den Zugang zu den wichtigsten sozialen Netzwerken und zu allen anderen Websites gesperrt, die das Regime als potenziell gefährlich einstufte. Diese Blockade wurde durch die seit Beginn des Krieges immer unzuverlässigeren Telefonverbindungen weiter verschärft.

Die meisten syrischen Kurden kommen aber fast ohne Schwierigkeiten ins Internet, weil das türkische Netz jenseits der Grenze für sie leicht erreichbar ist. Unbeabsichtigt trägt die türkische Regierung damit dazu bei, das kurdische Volk stärker zu einen. (Ende/IPS/ck/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/09/syrian-kurds-find-the-language-of-freedom/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. September 2012