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STANDPUNKT/006: Mehr Tanz, mehr Trommeln, mehr Theater - Artisten in der Bildungskatastrophe (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010

Mehr Tanz, mehr Trommeln, mehr Theater
Artisten in der Bildungskatastrophe

Von Sibylle Hoffmann


Wir haben es mit der Bildung. Jedes Kind mit guter Bildung wird klug, gewandt und erfolgreich, glauben wir. Und wenn es trotzdem keinen Arbeitsplatz findet, dann wird dieses Geschöpf nicht etwa traurig, depressiv oder drogensüchtig. Dank seiner Ausbildung hat es gelernt, sich in allen Lebenslagen zurechtzufinden. So die wunderbare Vision. Tatsächlich sieht die Welt anders und komplizierter aus. Die Zahl der Arbeitslosen steigt. Arbeitsplätze weichen neuer Technik, verfallen in der Wirtschaftskrise oder werden ins Ausland verlagert.


Im Herbst erscheint die nächste Pisa-Studie. Die nächste Statistik über arbeitslose Jugendliche steht bevor. Die nächsten Reports über Kinder aus Migrantenfamilien sind in Arbeit, und Berichte über Kinder aus Familien, die in dritter Generation von Staatsknete leben, werden auch wieder erstellt. Bildung für sozial Benachteiligte, Bildung für behinderte Kinder, Bildung für Erwachsene, Weiterbildung für Arbeitslose, Fortbildung für Führungskräfte: Wir glauben an den Sinn von Bildung, als ob mit mehr Bildung mehr Arbeitsplätze aus dem Boden schössen. Wir glauben so sehr daran, dass wir Schulklassen mit Kindern und Universitäten mit Studenten voll stopfen. Kleine Klassen, kleine Seminare und genügend gezielt ausgebildete Lehrer fehlen allerdings.

Wir sind zuversichtlich und arbeiten weiter an einer ständigen Optimierung unserer Kapazitäten. Jeder für sich und alle miteinander. Reformen an Universitäten und Schulreformen: Wir wollen, dass unsere Jugend marktfreundlich und kostengünstig fit für die Zukunft wird.

Es geht ja auch darum, Deutschlands Stellung in der Welt zu stärken und auszubauen. Und es geht um das individuelle Wohlsein. Wir halten uns mit Bioprodukten gesund, zeugen und gebären Kinder, die später Maschinenbauerinnen, Therapeuten, Exporteure oder Erfinderinnen werden: Ihre Bildung sichert die Zukunft unserer Nation. Sollte, was ja der Fall ist, die Bildung nicht ausreichen, dann erweitern wir das Bildungsmodul um ein Kulturmodul, das - so ganz nebenbei - auch die Vermittlung sozialer Kompetenzen verspricht.


Ausreichende Finanzierung - Fehlanzeige

Mit Kultur sichern wir Bildung. Bildung und Frieden. Bernd Neumann, der amtierende, und Michael Naumann, der ehemalige Kulturstaatsminister, sind sich einig, dass Deutschlands Freiheit nicht nur am Hindukusch verteidigt wird, sondern auch in Konzert- und Theatersälen, in Opernhäusern, Bibliotheken und Schulen. Nur gibt es leider angesichts leerer Stadtsäckel für die vielen Kulturaufgaben heute zu wenig Geld. Kultur ist eine Aufgabe der Kommunen. Aber keine Pflichtaufgabe. Bildung dagegen ist eine Pflichtaufgabe. Aber auch da fehlt es an ausreichender Finanzierung. Schließlich ist Bildung Ländersache, und die Kassen der Länder sind leer. Aber irgendwo liegt doch das Geld, das hier fehlt. In Liechtenstein, auf Guernsey oder den Cayman Islands vielleicht?

In einer so wohlhabenden Stadt wie Hamburg gilt etwa jeder vierte Jugendliche als sogenannter "Risikoschüler". Risikoschüler erwerben in ihrer Schulzeit so geringe schulische Kompetenzen, dass sie kaum ein selbstbestimmtes Leben führen werden können. Das gab die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft 2008 bekannt - damals, als die Wirtschaftskrise noch nicht sichtbar war. "Hamburg", meinte die Gewerkschaft, "hat als Großraum-Ballungsgebiet eine besonders ausgeprägte Struktur sozialer Gegensätze". Die Kluft zwischen wohl situierten und armen Familien ist sehr tief und sehr breit. Daran hat sich in den vergangenen zwei Jahren nichts spürbar gebessert, im Gegenteil: Der Graben wird als Folge der Krise wohl noch breiter und tiefer werden.

Nur die, die schon unten sind, fürchten sich davor nicht. Sie haben sich in ihren Hartz-IV-Gruben irgendwie eingerichtet und einige erliegen - verständlicherweise - einer defätistischen Karriereleiterphobie: Wer sich nach oben müht, fällt ja doch wieder runter.


Mangel, wohin man blickt

In Deutschland leben schätzungsweise 4 Millionen erwachsene Analphabeten. Menschen in aller Welt sollen via Goethe-Institut Deutsch lernen, denn das Auswärtige Amt möchte damit "langfristige Bindungen vor allem von zukünftigen Spitzenkräften in Deutschland entwickeln und so den Wirtschafts-, Wissenschafts- und Studienstandort Deutschland (...) stärken". Aber in Deutschland selbst kann jeder 20. Deutsche nicht flüssig lesen und nicht flüssig schreiben und schon gar nicht beides. 8.000 Analphabeten leben in Osnabrück, heißt es, 60.000 in Hamburg. Um diese für die Nation der Dichter und Denker beschämenden Verhältnisse endlich einmal wissenschaftlich nachzuzählen, wird an Universitäten in Berlin, Göttingen und Hamburg bis 2011 eine sogenannte "Literalitätsstudie" erarbeitet. Ermunterungen zur Alphabetisierung gibt es schon lange. Auch dieses Jahr: Der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. war auf der Leipziger Buchmesse zugegen. Er hat einen Schreibwettbewerb ausgerufen. Wer gewinnt, bekommt eine Reise zur Frankfurter Buchmesse geschenkt.

An Schulen arbeiten inzwischen Menschen, die keine pädagogische Ausbildung haben. Der Personalmangel ist so gravierend, dass Schulen - und Kindertagesstätten - gerne Honorarkräfte beauftragen. Eine Marketingreferentin aus Berlin-Mitte arbeitete als Aushilfslehrerin an einer Gesamtschule im Berliner Wedding. Von Musik, so erklärte sie dem Schulleiter gleich, habe sie keinen Schimmer, sie könne auch keine Noten lesen. Ihre Englischkenntnisse hatte sie gerade in einem Kurs etwas aufgefrischt. Sie wurde als Lehrerin für Musik und Englisch eingesetzt. Ihren Vertrag hat sie nicht verlängern wollen. Ob und was die Schüler gelernt haben, blieb in ihrem Bericht offen.

Musik, könnte man meinen, ist ja als Schulfach nicht so wichtig. Das sehen Pädagogen und Kulturwissenschaftler anders, Musiker sowieso. Trotzdem: Die Zeugnisnote in Musik spielt eine untergeordnete Rolle. Die in Kunst auch. Die Darbietungen der Schülerinnen und Schüler auf einer Theaterbühne, in einer Tanzperformance oder in einer Mediengruppe scheinen in vielen Schulen vor allem eine Art sozialpädagogische Dreingabe zu sein, eine Möglichkeit, Kindern Teamarbeit beizubringen, wo sonst Konkurrenz herrscht. Zudem bieten diese Fächer jenen eine Möglichkeit sich darzustellen, die sonst oft übergangen werden, weil sie im Unterricht lästig und nicht leistungskonform sind. Mit jeder Performance, mit jedem Kunstwerk und mit jedem öffentlichen Auftritt gewinnen die Kids auch Selbstbewusstsein, heißt es. Das bedeutet, dass die musischen Fächer in den Schulen zu Sozialisierungsvorhaben geworden sind: Kultur als Streit-Dämpfer.

Unser Verständnis von Kultur würde zerfieseln und zerfasern, gäbe es nicht all diese wunderbaren Künstlerinnen und Künstler, die ihr Können als Honorarkraft im Minijob für nur 15 Euro die Stunde in Schulklassen zeigen. Diese Artisten in der Bildungskatastrophe malen und musizieren, redigieren, choreografieren und führen Regie. Sie bringen frischen Wind ins Lehrerzimmer, in die Jugendfreizeitheime, in die Kindertagesstätten. Oft engagieren sie sich intensiver als die pädagogisch ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen, die im Laufe der Kämpfe, Reformen und Reförmchen an ihrem Arbeitsplatz ermüdet sind. Die Künstlerinnen und Künstler zeigen der Jugend, dass Demokratie, dass die Auseinandersetzungen um Ausdruck, um Bildung und Kultur Spaß machen können, dass man dabei lernt und dass Erfahrung und Wissen helfen, sich in der Welt zurecht zu finden.

Der Deutsche Musikrat meint sogar, dass musikalische Bildung eine zentrale Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft habe. Bleibt hinzuzufügen: Lesen auch. Malen auch. Tanzen, Theaterspielen, Fotografieren, Filmen, Wissenschaft, Forschung - und Wohlsein auch... Alles zusammen macht die Zukunft einer Gesellschaft von zufriedenen und glücklichen Menschen aus.

Kultur ist ein Bildungsgut, und Bildung ist ein Kulturgut. Wenn da irgendwo irgendetwas bröckelt, bröckelt aber nicht die Zukunft. Nur der Glaube zerbröselt, dass die Deutschen so sind wie sie sich selbst gerne sehen: klug, gewandt und erfolgreich.


Sibylle Hoffmann (* 1951) ist freie Rundfunkjournalistin in Hamburg.
sihoffmann@aol.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2010, S. 77-79
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2010