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SPRACHE/456: Kiezdeutsch als sprachliche Innovation (Portal Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2007

Lassma oder musstu
Kiezdeutsch als sprachliche Innovation im Gegenwartsdeutschen

Von Heike Wiese, Institut für Germanistik


Etwa seit Mitte der 90er Jahre ist eine neue Jugendsprache in den Blick der Öffentlichkeit getreten, die sich in Wohngebieten mit hohem Migrantenanteil ausgebildet hat. Diese Varietät ist teilweise unter dem Begriff "Kanak Sprak" bekannt.


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Von ihren jugendlichen Sprechern wird sie häufig als "krass reden" oder auch als "Kiezdeutsch" bezeichnet. Kiezdeutsch ist eine Varietät, die ihre Basis in Ethnolekten oder ethnischen Sprachstilen hat (wie etwa dem so genannten "Türkendeutsch", das an der Universität Potsdam am Arbeitsbereich Kommunikationstheorie und Linguistik des Instituts für Germanistik untersucht wird). Es ist selbst jedoch kein Ethnolekt mehr, sondern wird gerade auch in ethnisch gemischten Gruppen, von Sprechern mit und ohne Migrationshintergrund, gesprochen. Ähnliche multi-ethnische Jugendsprachen finden sich auch in anderen europäischen Ländern, etwa Schweden, den Niederlanden und Dänemark.

Am Arbeitsbereich Deutsche Sprache der Gegenwart interessiert die Mitarbeiter an Kiezdeutsch insbesondere der Aspekt der sprachlichen Innovation. Kiezdeutsch, so die These, ist nicht grammatisch defizitäres, "gebrochenes Deutsch", sondern weist interessante sprachliche Neuerungen auf. Dies zeigt sich beispielsweise an der Integration lexikalischer Elemente aus den Herkunftssprachen einiger Sprecher, etwa türkisch "lan" (Typ/Mann), oder arabisch "wallah" (wörtlich "bei Gott"). Sichtbar wird dieser Aspekt auch bei der Entstehung von Partikeln, beispielsweise "ischwör" zur Emphase von Aussagen, entstanden aus "ich schwör" oder "lassma" und "musstu" zur Einleitung von Aufforderungen aus "lass (uns) mal" beziehungsweise "musst du".

Im Fall von "lassma" und "musstu" entsteht bereits ein neues grammatisches Subsystem. "Lassma" dient zur Einleitung von Aufforderungen, die den Sprecher selbst einbeziehen (wir-Vorschläge). "Musstu" leitet dagegen Aufforderungen ein, die nur dem Hörer gelten (du-Vorschläge). "Lassma Moritzplatz aussteigen" drückt beispielsweise den Vorschlag aus, gemeinsam am Moritzplatz aus dem Bus zu steigen, "Musstu Doppelstunde fahren" ist ein Vorschlag an den Hörer, in der Fahrschule eine Doppelstunde zu fahren. Die Entwicklung solcher Partikeln ist ein Phänomen, das grundsätzlich ins grammatische System des Deutschen passt: So konnte im Standarddeutschen etwa eine Partikel wie "bitte" aus der Verbform "(ich) bitte" entstehen. In Kiezdeutsch findet sich somit nicht nur bloße sprachliche Reduktion, sondern der produktive Ausbau von Optionen, die das grammatische System bietet.

Ein möglicher Praxisbezug, den das Team näher untersuchen will, liegt darin, sich diesen Aspekt im Deutschunterricht an Schulen zu Nutze zu machen, gerade auch für die Sprachförderung in Klassen mit hohem Migrantenanteil. Im Deutschunterricht könnten Schüler verschiedene Aspekte von Kiezdeutsch untersuchen, beispielsweise die Wortstellung, den Gebrauch von Ausdrücken wie "lassma" oder auch das Auftreten türkischer und arabischer Wörter. Über eine solche Beschäftigung mit Kiezdeutsch könnten Jugendliche Interesse an grammatischen Themen entwickeln und damit auch eher Zugang zum Standarddeutschen finden.

(Heike Wiese ist Professorin für deutsche Sprache der Gegenwart an der Uni Potsdam.)


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2007, Seite 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2007