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SPRACHE/665: Die Sprache der Wende - eine Wende der Sprache? (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 3/2009

Runder Tisch, Reisefreiheit, Wendehals
Die Sprache der Wende - eine Wende der Sprache?

Von Isabell Lisberg-Haag


"Harte Wende ist jetzt Pflicht, Kurve kriegen reicht uns nicht", forderten die Demonstranten in den aufregenden Monaten des Herbstes 1989. Die Wende-Zeit, auch ein typisches Wort dieser Wochen, ließ Hoffnungen sprießen, Kräfte wachsen und Worte entstehen - die Sprache blühte auf. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) identifizierten in verschiedenen Studien Schlüsselwörter dieser Umbruchphase.


Worte sind Erinnerungen, die uns eintauchen lassen in die Vergangenheit: Reisefreiheit, Ossi, Wendehälse, Begrüßungsgeld - wir sind mitten in der Wendezeit. Die Nachrichten drangen in unser Bewusstsein, vieles passierte, was vorher undenkbar war, aber die Sprache hielt Schritt. "Die Wendezeit hat eine Flut von neuen Wörtern hervorgebracht, allerdings von sehr unterschiedlicher Lebensdauer", sagt Doris Steffens. Die Sprachwissenschaftlerin stammt aus der DDR, forscht seit 1992 am Institut für Deutsche Sprache und seit 1997 über Neologismen - also neue Wörter, die in den allgemeinen Sprachschatz aufgenommen werden.

Das Zusammenwachsen zweier sehr verschiedener Kommunikationsgemeinschaften, die zwar dieselbe Sprache sprechen, aber über 40 Jahre getrennt lebten, in der Wendezeit beobachten zu können - ein seltenes Glück für Sprachwissenschaftler. Fragen ergeben sich viele: Was schrieb die Presse in Ost und West? Welche Losungen wurden auf den Demonstrationen ausgegeben? Konnten Menschen aus beiden deutschen Staaten ohne Missverständnisse miteinander reden? Welche Wörter waren tabu und welche "en vogue"?

Zu den unzähligen linguistischen Untersuchungen und Veröffentlichungen gehört auch das Projekt "Sprachwandel der Wendezeit" des IDS. Ein Teilprojekt, an dem auch Doris Steffens beteiligt war, konzentrierte sich auf "Schlüsselwörter". Mit dem so genannten Wende-Korpus, einer Sammlung von Tages- und Wochenzeitungen, öffentlichen Reden aus der DDR und der alten Bundesrepublik, sowie Flugblättern und Aufrufen, standen den Forscherinnen und Forschern insgesamt 3,5 Millionen Wörter zur Verfügung. "Diese Texte hatten alle etwas mit den Themen 'Umbruch in der DDR' und 'Annäherung beider deutscher Staaten' zu tun. Wir haben nach Wörtern gesucht, die besonders häufig genutzt wurden und um die herum Wortfelder entstanden sind", erläutert die Sprachwissenschaftlerin. In 16 Kapiteln des Buchs "Schlüsselwörter der Wendezeit" tut sich die Sprachlandschaft jener Umbruchzeit auf: Alt-Funktionäre, Betonköpfe, Blockflöten geben sich im Abschnitt "Vertreter des alten Systems" ebenso die Ehre wie rote Socken, Wendehälse oder Hardliner. Dabei listen die Sprachforscher nicht bloß häufig verwendete Wörter auf, sondern liefern auch ausführliche Interpretationen, Erklärungen von Wortveränderungen sowie eine zeitliche und thematische Eingruppierung.


Sprachbefreiung

Die vielen Wörter während der Wende - dieses Wort stammt noch aus dem offiziellen SED-Diskurs - waren Produkte einer Sprachrevolte. Auf Transparenten und in Parolen demonstrierten die Menschen eines deutlich: die Umkehr der Verhältnisse - kulminiert in dem berühmten Ruf "Wir sind das Volk und nicht die SED". Der Alleinvertretungsanspruch der Partei und ihre proklamierte Einheit mit dem Volk existierten nicht mehr, erstmals bestimmten Bürgerinnen und Bürger die öffentliche Diskussion. "Wir drehen alte Losungen um, die uns gedrückt und verletzt haben, und geben sie postwendend zurück (...) Ja, die Sprache springt aus dem Ämter- und Zeitungsdeutsch heraus, in das sie eingewickelt war, und erinnert sich ihrer Gefühlswörter", machte die Schriftstellerin Christa Wolf bei der Ost-Berliner Demonstration am 4. November 1989 deutlich. Und Gefühlswörter wurden häufig verwendet. Manfred Hellmann, bis 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter am IDS, recherchierte in seinem Wörterbuch zum Wendekorpus des IDS etwa 300 Grundwörter zu Emotion, Moral oder Ethik und fand 4.000 Wortformen mit fast 50.000 Belegen. Am häufigsten stieß er auf Verantwortung/verantwortungsvoll, vertrauen/Vertrauen, Angst/Ängste, Gewalt, Hoffnung. Auch hier zeigt sich die Sprache als Seismograph für Befindlichkeiten.


Der rund Tisch

"Wer sich nicht bewegt, fühlt seine Fesseln nicht" oder "Nach 40 Jahren Wüstenwanderung glauben wir nicht mehr an die alten Propheten" - diese Parolen zeugen von der sprachlichen Kreativität, die unter der SED-Herrschaft nicht gedeihen konnte. Doris Steffens sieht das auch in ihren Forschungen bestätigt: "Einige der Wörter, die nun ungehindert geäußert und abgedruckt werden konnten, gab es bereits in der DDR-Alltagssprache, aber sie waren im öffentlichen Sprachgebrauch tabu." Viele Wörter waren, wie politische Ideen und Strömungen, Übergangsphänomene: Übersiedlerflut, Gorbi-Rufe, Einheitseuphorie werden nicht mehr gebraucht, weil die Dinge, die sie bezeichnen, nicht mehr existieren.

Andere Wörter wiederum sind in den allgemeinen Sprachschatz übergegangen: Mauerfall, Einigungsvertrag oder Mauerspecht. Doch Vorsicht: Wissen junge Menschen ab Jahrgang 1990 wirklich, dass es sich beim Mauerspecht nicht um eine Vogelart handelt? Gehalten haben sich Begriffe, die in der Wendezeit emotional prägend waren und heute noch passen: Stasi-Akte gehört dazu, Betonkopf, der heute für alle geistig unbeweglichen Menschen herhalten muss, Blockflöte für die DDR-Blockparteien und deren Vertreter, die schnell zu Wendehälsen mutieren konnten, und eine außerparlamentarische Institution, die sich völlig losgelöst von den Ereignissen inzwischen zu vielen gesellschaftlich relevanten Fragen etabliert hat: Der runde Tisch. "Diese Wortverbindung hat wirklich Karriere gemacht. Im Dezember 1989 trat der erste runde Tisch zusammen und beeinflusste bis zur ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 die Politik des Kabinetts Modrow erheblich", erläutert Doris Steffens. Auch heute treffen sich Vertreter verschiedener Interessengruppen am runden Tisch, um gleichberechtigt Konflikte zu besprechen und Kompromisse auszuhandeln. Tabu waren seit 1989 solche Wörter, die durch den offiziellen Sprachgebrauch der SED verschlissen waren. Wer wollte noch von Bruderland oder Planerfüllung sprechen? Auch Solidarität, Friede und Sicherheit mussten Pause machen, um zu neuen Bedeutungen zu gelangen.


Wörterwanderung

Schon nach kurzer Zeit zeigte die Sprache, was Realität wurde: Die einseitige Übernahme westlicher Ideen, Standards und Vorstellungen überformte die kreative Phase - Aufbruchvokabular adé. Weder politisch noch sprachlich konnte sich ein "dritter Weg" durchsetzen. Aus dem Westen wanderten die Wörter gen Osten, vor allem solche aus Politik und Wirtschaft: Parlament, Bundestag, Koalitionsvertrag, Joint Venture, Rendite, Tarifverhandlung oder Kurzarbeitergeld. Auch die Alltagssprache hatte es eilig, den Intershop, die Ingenieurhochschule oder den Delikatladen zu vergessen, dagegen blieben der Broiler und die Kaufhalle wenderesistent. Manfred Hellmann stellte fest, dass bereits wenige Monate nach der Wende die Angleichung an den "Westsprachgebrauch" abgeschlossen war - zumindest in der öffentlichen Sprache. An der Oberfläche herrschte zwar sprachliche Einheit, von einer sprachlichen Vereinigung jedoch konnte noch nicht die Rede sein.

"Weder Wendezeit noch Nachwendezeit konnten die Angleichung leisten, das ist vielmehr Aufgabe einer ganzen Generation", ist sich Doris Steffens sicher. Sie hat auch die Nachwendezeit sprachlich analysiert und dabei erneut festgestellt, wie sensibel die Sprache auf politische und mentale Unterschiede reagiert. Während Besserwessi, Buschzulage, Leihbeamte aus den neunziger Jahren heute kaum noch in Gebrauch sind, begleitet uns Ostalgie auch im 20. Jahr der deutschen Einheit.

Die Hoffnung, dass die gemeinsame Sprache als einigendes Band über unterschiedliche Erfahrungen hinweghelfen könne, erfüllte sich nicht vollständig: Missverständnisse gehören auch heute noch zur Kommunikation zwischen Ost und West. Analog zur politischen Entwicklung überformte der westdeutsche Sprachgebrauch: Nicht zwei Sprachkulturen wuchsen zusammen, sondern die eine verschwand zugunsten der anderen.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 3/2009, Seite 6-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2009