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SPRACHE/857: Ukraine und Russland - Vertraute, fremde Verwandte. Interview mit Prof. Kuße (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 6 vom 1. April 2014

Vertraute, fremde Verwandte

Von Mathias Bäumel



TUD-Experten gefragt: Wie hat sich das Verhältnis von Ukraine und Russland historisch und sprachlich entwickelt? UJ fragte Prof. Holger Kuße, Professor für Slavische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft und geschäftsführender Direktor des Instituts für Slavistik der TU Dresden


UJ: Wie hat sich die staatliche Landkarte in der zur Debatte stehenden Gegend zwischen St. Petersburg, Nowgorod, Moskau, Kiew und dem Schwarzen Meer entwickelt? Immerhin: Die Kiewer Rus gilt wohl - nach dem Machtbereich von Nowgorod - als eine Wiege des Russischen Staates, aber auch als "Vorläufer" der Ukraine ...

Prof. Holger Kuße: Die Rus zwischen Nowgorod im Norden und Kiew im Süden entstand im 9. Jahrhundert. Im Jahr 882 wurde Kiew bereits das Zentrum. Ein wichtiger Schritt zur Konsolidierung des Staates war 988 die sogenannte Taufe der Rus, mit der der Großfürst Vladimir das Christentum in der Kiewer Rus durchsetzte. Wichtig ist, dass die Christianisierung von Byzanz aus erfolgte und Geistliche aus dem bereits orthodoxen Bulgarien in die Kiewer Rus geholt wurden. Damit wurde das südslavische Kirchenslavisch zur Literatursprache im ostslavischen Kiew. 1240 erlag das Kiewer Reich dem Mongolensturm, während Nowgorod eigenständig, wenn auch abhängig von der Goldenen Horde blieb. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts erlebte das Großfürstentum Moskau seinen Aufstieg. 1380 gab es den ersten Sieg über die Mongolen durch Dmitrij Donskoj, womit der Grundstein für die Moskauer Vorherrschaft im ostslavischen, mongolisch (tatarisch) besetzten Raum gelegt wurde. 1552 eroberte Iwan IV, der auch als "Iwan der Schreckliche" bekannt ist, Kazan und 1556 Astrachan und beendete damit das "Tatarenjoch". Damit verbunden war aber auch der Niedergang Nowgorods, das bereits unter Ivan III. 1478 in den Moskauer Staat eingegliedert worden war. 1570 wurde die Stadt von Ivan IV. überfallen und zerstört und ist seitdem nur noch ein Provinzstädtchen, wenn auch mit großer Vergangenheit. Das "Sammeln der russischen Erde", wie die russische Reconquista vom 14. bis 16. Jahrhundert genannt wurde, erfasste nicht Kiew und die heutige Westukraine. Die Grenzen verschoben sich im Verlauf der Jahrhunderte. Auf das Fürstentum Galizien-Wolhynien im 13. und 14. Jahrhundert folgte bis zum 17. Jahrhundert das Großfürstentum Litauen bzw. Litauen-Polen ab 1569. Im 17. Jahrhundert etablierte sich ein eigenständiges Hetmanat der Dnepr-Kosaken, danach geriet die Ukraine immer mehr unter russischen Einfluss, insbesondere zur Zeit Katharinas II., also in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so dass es erst nach dem 1. Weltkrieg zwischen 1918 und 1920 zu einer staatlichen Eigenständigkeit kommen konnte, die dann jedoch schnell in der Eingliederung in die Sowjetunion mündete. 1991 erfolgte die Unabhängigkeitserklärung.

Die Geschichte der Krim ist wiederum ganz anders verlaufen. Die Halbinsel wurde im Zuge der mongolischen (tatarischen) Eroberungen besiedelt, hat dann aber eine sehr eigenständige Entwicklung genommen. 1502 haben die Krimtataren die Goldene Horde besiegt, gehörten damals aber schon zum osmanischen Reich. Die Bevölkerung war also muslimisch. Erst 1783 wurde die Halbinsel von Katharina II. ins russische Reich eingegliedert. 1954 schlug sie dann Chrustschow der Ukraine zu - als eine Art Wiedergutmachung für die große Hungerkatastrophe 1932/33, die von Stalin absichtlich herbeigeführt worden war (der Holdomor), und zahlreiche weitere Gräueltaten (übrigens auch an den Krimtataren). Offiziell war dies ein Jubiläumsgeschenk zur 300-jährigen russisch-ukrainischen Einheit (1654 waren Kiew und Gebiete am linken Ufer des Dnepr an das Russische Reich gefallen).


UJ: Das Wort "Ukraine" heißt etwa "am Rande", "an der Grenze", "an der Gemarkung". Damit könnte zweierlei gemeint sein. Erstens das Grenzgebiet zum sogenannten Wilden Feld, also den riesigen Steppenlandschaften mit ihren Reitervölkern südöstlich der damaligen Kiewer Rus. Zweitens als Folge einer politischen Machtverlagerung innerhalb des heterogenen Reiches nach Moskau (im 15. Jahrhundert mit Iwan dem Großen), so dass Kiew nicht mehr Zentrum war, sondern "an den Rand" geriet. Ab wann aber entstand warum in den "Gebieten an der Grenze" ein Bewusstsein von Eigennationalität und Eigenstaatlichkeit?

Prof. Holger Kuße: In der Kiewer Rus hat man sich nicht "am Rand" gefühlt. Der Ausdruck kam tatsächlich im Verlauf des "Sammelns der russischen Erde" auf. Das ist übrigens nicht die einzige Benennung von Land und Leuten. Eine alte Bezeichnung ist Ruthenen oder Russinen, die vor allem von den Bewohnern im habsburgischen Galizien gebraucht wurde. Mit diffamierender Intention wurde im Russischen Reich die Bezeichnung "Kleinrussland" eingeführt. Dabei handelt es sich eigentlich um eine byzantinische Bezeichnung, die gar nicht die Größe, sondern die Entfernung von Byzanz meinte: nach Kiew ist der Weg "klein", nach Moskau "groß". Aber als im 19. Jahrhundert die Bezeichnung verpflichtend und das Wort "Ukraine" sogar verboten wurde, sollten natürlich andere Assoziationen geweckt werden.

Ein Gefühl der Eigenständigkeit hat es ungeachtet der Aufteilung des Territoriums wohl immer gegeben. Ein Nationalbewusstsein in unserem Sinne hat sich wie überall in Europa im 19. Jahrhundert in der Romantik entwickelt. Es wurde verstärkt durch die massiven Repressionen im Russischen Reich insbesondere ab 1863, als zum Beispiel Sprachverbote gegen das Ukrainische erlassen wurden.


UJ: Wie hat sich dies in der Entwicklung der ukrainischen und russischen Sprache niedergeschlagen? Das heutige Ukrainisch und das heutige Russisch haben sich doch aus einem Dialekt-Gemenge des alten Russisch entwickelt und sie unterscheiden sich ja wohl weit weniger voneinander als beispielsweise das Platt und das Bayerische.

Prof. Holger Kuße: So nah sind sich Ukrainisch und Russisch gar nicht. Nehmen wir nur ein Beispiel. Der "Majdan", der jetzt in aller Munde ist, bedeutet nichts weiter als "Platz". Vollständig heißt der Platz "Maidan nesaleschnosti", also "Platz der Unabhängigkeit". Auf Russisch ist das "Ploschtschad nesavissimosti". Klingt doch ziemlich anders oder? Der Ursprung des heutigen Ukrainischen und des heutigen Russischen ist das Altostslavische der Kiewer Rus, aus dem sich dann auch das Weißrussische entwickelt hat. Die Sprachen haben einen gemeinsamen Ursprung, aber es ist nicht die eine aus der anderen hervorgegangen. Außerdem gibt es in beiden Fällen große Einflüsse aus dem Kirchenslavischen, das über Jahrhunderte auch in der Moskauer Rus die Literatursprache war.


UJ: Wann also handelt es sich um eine eigenständige Sprache, wann um einen Dialekt?

Prof. Holger Kuße: Wann etwas eine Sprache ist, hat weder rein historische noch ausschließlich sprachliche (Nähe und Verwandtschaft) Gründe, sondern auch politische, kulturelle und gesellschaftliche. Ein sehr wichtiges Merkmal einer eigenständigen Sprache ist die sogenannte Polyfunktionalität. Das heißt, dass die Sprache in allen gesellschaftlichen Bereichen - von der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft bis hin in die Verwaltung, ins Recht und weiteres mehr - funktioniert und nicht nur, wie im Falle des Dialektes, auf alltagssprachlicher Ebene. Außer in politisch unseriösen Kreisen bestehen an der Eigenständigkeit des Ukrainischen als Sprache längst keinerlei Zweifel. Allerdings: Das von der Übergangsregierung unmittelbar nach dem "Majdan"-Sieg beschlossene neue Sprachengesetz, das Russisch als regionale Amtssprache abschaffen sollte, ist aus meiner Sicht ein riesengroßer politischer Fehler gewesen und musste von Russen innerhalb und außerhalb der Ukraine als Bedrohung empfunden werden. Es ist jedoch vom Übergangsparlament nicht verabschiedet worden.


UJ: Ob Englisch, Französisch, Russisch oder Deutsch: In allen großen Sprachen gibt es ganz selbstverständlich einen Unterschied zwischen Aussprache und Schriftbild. Warum beharrt man in der Ukraine hartnäckig darauf, das Schriftbild der Aussprache anpassen zu wollen und kämpft verbissen um die Durchsetzung dieses Vorhabens im Ausland? Beispiel: Der aus der Stadt Riwne (früher "Rowno" geschrieben, aber dennoch "Riwne" gesprochen) stammende frühere T-Mobile-Radrennfahrer Sergej Gontschar wurde in allen Sportmedien der Welt mit viel Aufwand zu Serhij Hontschar gemacht.

Prof. Holger Kuße: Das ist einfach eine Frage der Transkription, also der Übertragung sprachlicher Ausdrücke von einem Schriftsystem in ein anderes, die auf der Aussprache basiert. In den hier vorliegenden Fällen werden Worte aus dem Ukrainischen in unser deutsches Schriftbild mit lateinischen Buchstaben übertragen. Und das Ukrainische unterscheidet sich nun einmal vom Russischen in der Orthografie und der Lautung. Im Russischen gibt es kein "h" (wie im Ukrainischen) und in vielen Fällen entspricht dem russischen "o" im Ukrainischen ein "i". Natürlich kann man ukrainische Namen auch russifiziert gebrauchen. Wann das sinnvoll ist und wann nicht, hängt von der Sache bzw. der Person ab. Nikolaj Gogol zum Beispiel war Ukrainer und wäre deshalb als "Mykola Hohol" in Lateinschrift zu schreiben. Damit könnte aber in Deutschland wohl kaum jemand etwas anfangen. Außerdem schrieb Gogol fast nur russisch. In anderen Fällen, so im Falle ihres Sportlers, ist es aber ganz richtig, die ukrainischen Namen auch ukrainisch-gerecht zu schreiben bzw. zu transkribieren. Das ist auch eine Frage der Wertschätzung.

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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 25. Jg., Nr. 6 vom 01.04.2014, S. 3
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2014