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FILMKRITIK/010: "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" (SB)




"Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" - der Titel des Films des bulgarischen Regisseurs Stephan Komandarev läßt aufhorchen. Er verbindet die vielversprechende Perspektive der tausend Möglichkeiten, die die Welt bietet, mit einer Hoffnung auf Erlösung, die sich aus deren Unerreichbarkeit schöpft und der demgemäß wie bei allen Heilserwartungen eine eher pessimistische Grundstimmung vorausgeht.

Nach einem Roman von Ilja Trojanow erzählt, in dem er Elemente seiner eigenen Biografie verarbeitet hat, macht die Geschichte um eine bulgarische Migrantenfamilie, die ihr Glück im Exil in Deutschland sucht und auf dem Weg dorthin alle Leidenserfahrungen macht, die Flüchtlinge in Europa üblicherweise heimsuchen, dem Zuschauer das Streben nach Errettung unmittelbar greifbar.

Der Film um den jungen Alexander, dessen Eltern am Wechsel in die neuen Verhältnisse scheitern, sich trennen, nach langjähriger Entfremdung wieder zueinander finden, nur um auf einer deutschen Autobahn zu sterben, bedient sich starker Kontraste und Symbole. Der Aufbruch im ländlichen kleinbürgerlichen Milieu Bulgariens, die krasse Ablehnung, die den Flüchtlingen aus dem damaligen Ostblock in der sogenannten freien Welt entgegenschlägt und zu ihrer jahrelangen Internierung in einem Lager führt, die Armut, die ihnen im Angesicht der Auslagen luxuriöser Geschäfte schmerzhaft bewußt wird, und die Kälte der nicht eben freundlich, sondern ganz auf Effizienz getrimmten deutschen Gesellschaft sind Erzählung und Metapher in einem. Das Schicksal ihrer Heimat durch äußere Zwänge verlustig gegangener Menschen, die durch Europa irren und in der Fremde vom Regen in die Traufe kommen, läßt sich ohne weiteres auf die großen Migrationsbewegungen verallgemeinern. Getrieben von einer repressiven Staatlichkeit, gelockt vom besseren Leben, erweist sich die Hinkunft des Neuen als schlechter Tausch gegen die Herkunft des Alten.

Gesucht wird die Rettung in der Besinnung auf die persönliche Geschichte und Kultur, allerdings ohne den feindseligen Tenor einer Heimatidylle zu bedienen, die sich gegen alles andere definiert. Freunde kann man in aller Welt gewinnen, und Kraft kann man aus allen Kulturen schöpfen, wenn man sie nur in ihrer Eigenständigkeit respektiert und nicht dem Zwang unterwirft, sich in der großen Klammer der kapitalistischen Globalisierung verwert- und verfügbar zu machen.

Alexanders Großvater Bai Dan reist, nachdem er von dem Unfall erfahren hat, nach Deutschland, wo er auf einen Enkel trifft, der ihn nicht wiedererkennt. Er hat sein Gedächtnis verloren und damit auch den Faden, an dem sich alles entspinnt. Ein Fremder in der Fremde, um mit Karl Valentin zu sprechen, bedarf seiner Herkunft, um sich mit seiner Umgebung auf eine Weise ins Benehmen zu setzen, die ihn nicht auf eine Folie herrschender Verhältnisse reduziert.

Bai Dan erfaßt die Lage mit einem Blick und entreißt seinen Enkel ohne Rücksicht auf das Entsetzen des Krankenhauspersonals auf handfeste Weise der Lethargie, der er sich im Krankenbett hingibt. Mit Hilfe des uralten Brettspiels Backgammon legt Bai Dan Spuren aus, auf denen Alexander, den er in seiner Kindheit in der Kunst des Tabla, so der bulgarische Name, unterrichtet hat, sein Erinnerungsvermögen zurückerlangt. Dabei symbolisieren die Würfel die Unergründlichkeit schicksalshafter Fügungen, die es dem strategischen Geschick des Spielers überlassen, sein Leben dennoch in die Hand zu bekommen.

Auf einem Tandem radeln Großvater und Enkel von Deutschland durch halb Europa nach Bulgarien, um auf hohen Bergpässen und langen Talfahrten inmitten grandioser Landschaften der Fremdheit die Macht zu nehmen, die sie über jene besitzt, die sich ihr widerstandslos hingeben. Bai Dan konfrontiert seinen Enkel, der sich zur Kur seiner Amnesie auf die Medikamente verläßt, die die Medizin in einem solchen Fall anbietet, auf entschiedene Weise mit der Realität. Er wirft die pharmazeutischen Prothesen ins Feuer und fordert ihn so auf, aus eigener Kraft zu gehen. Mit der Vitalität eines Alters, das im streitbaren Umgang mit allen Widrigkeiten belegt, wie unwichtig die Zahl der Jahre ist, wenn man sich treu bleibt, lehrt ihn der Großvater, sich niemals aufzugeben. Im Finale des Films, einem Backgammon-Turnier um die Meisterschaft zwischen Bai Dan und Alexander, wird der Faden, der alles zusammenhält, parallel zum schier endlosen Ausrollen der Würfel in umgekehrt chronologischer Reihenfolge abgespult. Am Ende der Reise erweist sich der Schritt, mit nichts in der Hand alles zu wagen, um das Unmögliche zu schaffen, als jedem Menschen zur Verfügung stehendes Vermögen.

Der auf dem gleichnamigen Roman von Ilja Trojanow basierende Film beeindruckt mit der Subtilität einer Geschichte, die den Blick des Zuschauers auf unspektakuläre Weise auf die Probleme von Menschen lenkt, die die programmatische Bindungslosigkeit des flexibilisierten und individualisierten Menschen in Kauf nehmen, um auf angemessene Weise leben zu können. Die im Titel anklingende Ironie entspringt der Unbeschwertheit einer Lebenskunst, mit der auch gewichtige Probleme zu meistern sind, wenn man sich auf die Stärke einer Verbindlichkeit besinnt, die sich unerwarteterweise nicht als enge Fessel, sondern Schlüssel zur Selbstbestimmung erweist.

Der 2007 in bulgarischer, deutscher, italienischer und slowenischer Koproduktion entstandene Film "Die Welt ist groß und Rettung lauert überall" läuft in der Bundesrepublik am 1. Oktober 2009 an.


Die Welt ist groß und Rettung lauert überall
Regie: Stephan Komandarev
Bulgarien/Deutschland/Italien/Slowenien 2007,
Länge: 105 Minuten
35mm, 1:1.85, Farbe, Dolby Digital SR-D


16. September 2009