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PROFIL/077: Zum 100. Todestag Lew Nikolajewitsch Tolstois (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 45 vom 12. November 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die Bauern, das Leiden und Wahrheit bestimmten sein Schaffen
Zum 100. Todestag Lew Nikolajewitsch Tolstois am 20. November

Von Rüdiger Bernhardt


"Aber mein Leben, mein ganzes Leben, wie auch immer es sich äußerlich gestalten mag, jeder Augenblick meines Lebens wird jetzt nicht zwecklos sein wie bisher, sondern zu seinem alleinigen, bestimmten Zweck das Gute haben. Denn das liegt jetzt in meiner Macht: meinem Leben die Richtung auf das Gute zu geben!"

Lew Nikolajewitsch Tolstoi, in "Anna Karenina"


Seiner Frau Sofja soll er vor der Hochzeit 1862 seine Tagebücher zum Lesen gegeben haben, damit sie, die im Kreml aufgewachsene Tochter eines Hofarztes, über ihn - Offizier, Schriftsteller, Spieler, Jäger und Frauenheld - die "Wahrheit" erfahre. Es war der Beginn einer komplizierten Ehe, aus der 13 Kinder hervorgingen. Die Novelle "Die Kreutzersonate" wurde eines ihrer Dokumente. Das ist der oft verbreitete, meist von der Sensationspresse genutzte Teil von Tolstois Schaffen. Der andere war bedeutsamer und betraf auch "Wahrheit". Tolstoi - das war um 1900 ein vielfältiges Programm. Der Name steht für großartige Romane, für unübertroffene Menschengestaltungen, eruptive Leidenschaften und farbige Schilderungen, psychologisch meisterlich beschrieben. Dabei gab er, der Adlige, allen sozialen Schichten und Klassen des zaristischen Russland ihren historischen Platz. "In dem genialsten Romanschriftsteller der Gegenwart lebte von Anfang an neben dem rastlosen Künstler ein rastloser sozialer Denker." (Rosa Luxemburg) Tolstoi wurde 1828, im gleichen Jahr wie Henrik Ibsen, auf dem Gut Jasnaja Poljana, geboren. Frühzeitig Waise, wurde er in Moskau und Kasan bei Verwandten aufgezogen, scheiterte beim Studium, wurde Offizier, schrieb Erzählungen und eine autobiografische Trilogie und wurde als Schriftsteller erfolgreich, kehrte 1848 und 1856 nach Jasnaja Poljana zurück, dazwischen in Moskau lebend, und übernahm die Verwaltung des Gutes; sie wechselte mit Auslandsreisen. Tolstoi interessierte sich für gesellschaftliche Probleme wie Schulwesen, Leibeigenschaft und die Funktion der Kunst, wurde abgestoßen von dem "endlosen Tratsch" der Aristokraten und der "endlosen Heuchelei"; "unerträglicher Ekel" vor seiner Klasse erfasste ihn.

Er wollte ein guter Landwirt sein und lebte wie seine Bauern, sagte sich von der orthodoxen Kirche los und schuf sich ein weltlich gedachtes sittliches Christentum, mit dem er die Probleme lösen wollte. 1882 lernte er, beteiligt an einer Volkszählung, in Moskau unvorstellbares Elend kennen. Gegen Ende seines Lebens - den Nobelpreis hatte er abgelehnt - erkannte er, in eine Sackgasse geraten zu sein, und flüchtete aus den familiären Bindungen Jasnaja Poljanas in einen Neuanfang, der 1910 mit seinem Tod auf dem kleinen Bahnhof Astapowo abbrach.

Stefan Zweig hat den letzten Abschnitt in seinen Szenen "Die Flucht zu Gott" als Epilog zu Tolstois Fragment "Und das Licht scheinet in der Finsternis" - eine dramatische Selbstbiografie - entwickelt: Tolstoi sagte sich darin von der Theorie der Gewaltlosigkeit, die sein Weltbild prägte, los und erkannte, gegen blutigen Terror würden nicht nur Worte und Demut helfen.

Der zaristische Staat hatte ihn frühzeitig als Gegner ausgemacht: Bereits 1882 stand er unter polizeilicher Bewachung; 1908 wurden seine Texte bei einer Hausdurchsuchung beschlagnahmt.

Mit Ibsen und Zola wurde Tolstoi um 1890 gemeinsam genannt, wenn es um ausländische Anreger des deutschen Naturalismus, wenn es um die Analyse einer verkommenden Gesellschaft und um die Erhellung sozialer Widersprüche ging. Es waren zuerst deutsche Dichter und Intellektuelle, die sich für Tolstoi begeisterten. Neben ihnen entstand ein Tolstojanertum, das aus dem großen Dichter einen Heiligen und Märtyrer zu machen versuchte und das von Gorki ironisch kritisiert wurde ("lauter winzige, furchtlose Hündlein"). Man verband damit eine duldende, leidende Haltung, die auf entschiedenen Widerspruch, zum Beispiel bei Lion Feuchtwanger, stieß. Die weltberühmten Romane Tolstois "Krieg und Frieden" (1868/69) und "Anna Karenina" (1875/77) erschienen vor dem eigentlichen Durchbruch Tolstois in Deutschland. Die Tolstoi-Rezeption im deutschen Naturalismus ging vom Drama "Die Macht der Finsternis" (1886) aus; der Titel wurde zu einem Bannerwort.

Den jungen naturalistischen Dichtern und unter ihnen Gerhart Hauptmann war es ein Beispiel schlimmster sozialer Verhältnisse, wie man sie selbst auf die Bühne zu bringen trachtete. Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" (1889) war, vom Dichter eingestanden, ohne Tolstois Drama nicht zu denken. Das Stück sollte die Erfahrungen, die der Schriftsteller bei seinen Besuchen und Studien in den Hütten der Leibeigenen gemacht hatte, illustrieren und erschien dabei wie ein zugespitzter und naiver Naturalismus.

Das Stück spielt auf einem großen russischen Hof. Der schwächliche, aber sehr reiche Bauer Peter wird von seiner Frau Anissja mit dem Knecht Nikita betrogen und schließlich umgebracht. Nach der Heirat Anissjas und Nikitas betrügt der sie mit seiner Stieftochter, die von ihm schwanger wird und deren Neugeborenes Nikita umbringt. Nun kann die Stieftochter heiraten, aber Nikita ist von seinen Taten zerrüttet und wird durch die Begegnung mit seiner einstigen Geliebten Marinka, die das Sinnbild reiner Menschlichkeit ist, in einen Läuterungsprozess getrieben, an dessem Ende er seine Taten beichtet und abgeführt wird. Die Beschreibung weist auf die sozialen Probleme ebenso hin wie auf die Beziehungen, die von Gerhart Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" über Zolas "Die Bestie im Menschen" bis zu Maxim Gorkis "Nachtasyl" reichen.

Tolstois Grenzen werden in dem Stück ebenfalls erkennbar: Leiden und Läuterung sollten die Konflikte lösen. Maßstab war ein allgemein gültiges Sittengesetz, das durch die Laster der oberen Zehntausend zerstört worden war. Vieles dieser Laster führte Tolstoi auf die Errungenschaften der Kultur zurück, speziell auf die großstädtische Kultur. Dagegen setzte er ein humanes, auf einen schlichten Gottesbegriff ausgerichtetets Bauerntum, in dem Kräfte des sozialen Kampfes wachsen und gewaltlos wirken sollten. So wurde ihm der arme Mensch zum vollkommenen, weil zum sittlichen Menschen, der die Wirklichkeit verändern kann. Tolstois Ideen und Glauben fanden im russischen Volk einen denkbar geeigneten Nährboden, zumal Tolstoi alles Streitbare zurückstellte und demütiges Bescheiden verkündete, getragen von einer Menschlichkeit, der sich alle verpflichtet sehen sollten. Da war viel Idealismus im Spiel, trotzdem wurden Widersprüche der Wirklichkeit deutlich, die Tolstoi in scharf formulierte Kampfschriften verwandelte, die wiederum die revolutionäre Situation in Russland mitentwickelten.

Die Lösung der sozialen Konflikte entstand aus seinem Wissen um die russische Bauernschaft; ihm fehlten gründliche Einblicke in die großstädtischen Strukturen Westeuropas und dadurch wurde auch sein Blick für die großen Kunstleistungen dieser anderen Welt verstellt. Werke von Sophokles und Euripides erschienen ihm als roh, wild und oft sinnlos, Michelangelos "Jüngstes Gericht" als "abgeschmackt" und auch die aktuelle Gesellschaftskritik der Ibsen, Zola und anderer, die Musik Wagners, Brahms' und Richard Strauß' wurden im Traktat "Was ist Kunst?" (1897/98) scharf abgelehnt: Es seien Nachahmungen von Nachahmungen. Er verurteilte die Schönheit in der Kunst ("Je mehr wir uns der Schönheit hingeben, um so mehr entfernen wir uns vom Guten.") und bewertete das Gute als eigentlichen Gegenstand der Kunst. Tolstois ästhetische Ansichten waren einseitig und zwiespältig, wiesen aber auf den hohen Stellenwert hin, den er der Kunst bei der Erziehung des Menschen gab. Wie oft in der Literaturgeschichte setzten sich die ästhetischen Forderungen im eigenen Schaffen nicht durch und ließen Werke entstehen, die weltliterarischen Rang von Dauer bekamen und sie an die Seite der von Tolstoi verurteilten "völlig nichtssagenden, völlig unnützen Werken" stellte, zu deren Schöpfern er neben den genannten Namen auch Shakespeare und Goethe, Bach und Beethoven rechnete.

1899 erschien der dritte der großen Romane Tolstois, "Auferstehung"; Tolstoi wurde dafür 1901 vom Heiligen Synod exkommuniziert. Der Roman ist anders als die beiden früheren Romane, die den Glanz der großen Welt mit der Natürlichkeit des ländlichen Lebens, der die Leben der Großen in schillernder historischer Bedeutsamkeit und die Leben der Kleinen in der sittsamen Bescheidenheit vorführte.

"Auferstehung" erschien wie eine Weiterführung der "Macht der Finsternis": Ein Geschworener erkennt vor Gericht eine Angeklagte als das von ihm verführte junge Mädchen wieder und folgt ihr nach der Verurteilung in die Verbannung. Die Ehe lehnt sie, obwohl sie ihn liebt, ab, weil sie einem anderen Häftling helfen will. Das wirkt wie eine Illustration der Weltanschauung Tolstois: Die Läuterung des Menschen zur fehlerlosen Geistigkeit geschieht durch Wahrheit, Ehrlichkeit und gelebte Sittlichkeit, ohne Triebhaftigkeit und Sex; der geläuterte Mensch praktiziert die Liebe zu allen Geschöpfen und sucht sein Heil in der säkularen Entsagung.

Modern war diese Anschauung nicht, aber sie war Widerspruch zur feudalen Struktur Russlands und zur imperialen Entwicklung Europas. Daraus entstand Tolstois Ruhm. In diesem Roman hat Tolstoi die soziale Analyse der russischen Bauernschaft weitergeführt zur Kritik am Kapitalismus, an der Unmenschlichkeit seiner Machtinstrumente, an der immer diffiziler werdenden Unterdrückung der Menschen und am sittlichen Verfall.

Es war eine der Grundlagen, auf der Maxim Gorkis Werk, der mit Tolstoi oft gesprochen hat, entstehen konnte. Gorki sah Tolstois Größe und Widersprüche. Fern aller Theorien war er für ihn ein "Mensch, ein menschheitlicher Mensch". Gorki deutete auch Tolstois widerspruchsvolles Verhältnis zu Frauen, das er aus unerfüllter Lust und aus Feindschaft des Geistes gegen die Triebe erklärte, aber, so Gorki, "sogar die unangenehmsten und feindseligsten Gefühle, die er erweckte, waren von der Art, die die Seele nicht bedrückt, sondern eher aufwühlt und erweitert".

Der Kreis schließt sich. Tolstois letztes Wort, auf der kleinen Bahnstation Astopowo, auf der er während seiner Flucht auch vor seiner Frau starb, dem Sohn Sergej zugeflüstert, war "Wahrheit". 1941 erschien "Krieg und Frieden" in den USA mit einer Karte, auf der Napoleons Zug nach Moskau und der vernichtende Rückmarsch eingezeichnet waren. Eine zweite Eintragung markierte den Weg der faschistischen deutschen Armee; die Vernichtung war noch offen. Doch wurde die von Tolstoi beschriebene historische Wahrheit wiederholt.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 45,
12. November 2010, Seite 13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. November 2010