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AKZENTE/093: Scham in der englischen Literatur (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 20.03.2006

Die Scham rast blitzartig zwischen Menschen hin und her

Anglistik


Scham ist hoch ansteckend und vielseitig wie kaum ein anderer Affekt. Prof. Ingrid Hotz-Davies untersucht, wie in der englischen Literatur mit dieser besonderen Emotion umgegangen wird. Anhand ausgewählter Texte vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart zeigt sie, wie unterschiedlich Schriftsteller Scham einsetzen, um ihre Leserschaft zu beeinflussen und wie sich die Schaminhalte im Laufe der Zeit verändern.


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Tübinger Anglistin untersucht den vielschichtigen Affekt in der englischen Literatur

Scham ist in hohem Maße ansteckend, lässt sich nur schwer unterdrücken und wird geteilt wie kaum ein anderer Affekt: man schämt sich vor anderen, mit anderen oder für andere - manchmal sogar dann, wenn der andere es selbst nicht tut. Gegen die körperlichen Symptome wie etwa das Erröten können wir uns auch nicht so recht wehren. Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, ist sehr wahrscheinlich angeboren. Wofür wir uns schämen, ist hingegen in der Sozialisation verankert und unterliegt dem historischen Wertewandel der Gesellschaft. Prof. Ingrid Hotz- Davies vom Seminar für Englische Philologie der Universität Tübingen untersucht dieses Phänomen nun aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Sie erforscht, wie der Affekt in der Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart verwendet wird. Anhand ausgewählter Fallbeispiele zeigt sie auf, wie verschiedene Autoren in unterschiedlichen Epochen mit der Scham umgegangen sind.

Dabei untersucht sie vor allem, wie die besonderen Eigenschaften der Scham in literarischen Werken genutzt und dazu eingesetzt werden, den Leser zu beeinflussen: "Die Scham ist der Affekt, durch den die Literatur ihre Leser auf der Ebene der körperlichen Reaktionen manipulieren kann", erklärt Hotz-Davies, "Scham kann vom Verfasser bewusst instrumentalisiert werden, weil sie so ansteckend ist und wir uns so schlecht gegen sie wehren können. Diese Strategie findet sich häufig in Werken, die ihre Botschaft mit der Scham aussenden, das heißt den Leser mit der Scham in eine bestimmte Richtung lenken." Ideologien, die diese Scham motivierten, würden für den Leser unter dem Druck der Peinlichkeit dann unsichtbar. Die kritische Distanz ginge verloren. "Wir fragen uns als Leser oder Zuschauer nicht mehr, warum wir uns denn jetzt gerade schämen und ob wir das überhaupt wollen." Als Beispiel führt Hotz-Davies William Shakespeares 1607 entstandenes Theaterstück "Antonius und Cleopatra" an. Antonius hat seine Triebe nicht unter Kontrolle, verliert Schlachten und selbst der Suizid misslingt ihm, kurz: die Figur des Antonius wird in ihrer Männlichkeit beschämt. "Heutzutage ist Unmännlichkeit in diesem Sinne vielleicht nicht mehr peinlich", meint Hotz-Davies, "aber es ist wahrscheinlich, dass wir auch heute noch unter dem Druck der Schaminszenierung und aus dem Mit-Gefühl der Scham heraus die Ansicht übernehmen, Antonius hätte doch besser gemäß der römischen Wert- und Normvorstellungen handeln sollen. Schließlich wäre ihm solche Schmach dann erspart geblieben." Und so ließe sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Tendenz feststellen, dass sich Leser mit der Scham des Helden Antonius identifizierten.

Viel mehr noch interessiert sich Hotz-Davies aber für die literarischen Figuren, die versuchen, sich der Scham zu entziehen. Denn "Figuren, die sich nicht schämen, zwingen den Leser, sein eigenes Wertesystem zu überdenken und Position zu beziehen." Die Schamlosen seien in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts noch häufig zu finden. Bei Shakespeare und seinen Zeitgenossen sprechen sie von der Bühne herunter das Publikum direkt an und beziehen bewusst Stellung zur eigenen Schamlosigkeit. So fragt der Trunkenbold Falstaff, der das Überleben mehr schätzt als die Ehre, in dem Werk "Heinrich IV" die Zuschauer "What is honor?" und bringt damit zum Ausdruck, dass er sich nicht für einen in seinen Augen unsinnigen Ehrbegriff umbringen lassen würde. Das Publikum, meint Hotz-Davies, könne sich diesem Argument nur sehr schwer entziehen, zumal Falstaff trotz seines schamlosen Lebensstils zugleich eine sympathische Figur sei. Wir Angesprochenen würden dadurch aufgefordert, selbst auch den Sinn der männlich- militärischen Ehre zu hinterfragen, die von den anderen Figuren des Stücks teilweise hymnisch beschworen werde.

Die Anglistin nennt noch zwei Schriftstellerinnen des 17. Jahrhunderts, die ganz anders mit der Scham umgingen: Mary Wroth und Aphra Behn tun in ihren Texten so, als existiere Scham gar nicht oder besetzten Scham mit völlig neuen Inhalten: "Mary Wroth erfindet zum Beispiel in einem ihrer Sonette eine Scham, die es sonst für Frauen dieser Epoche gar nicht gibt. Sie besetzt die Option, sich von erotischer Leidenschaft abzuwenden, mit Scham", sagt Hotz-Davies. Die geschlechtspezifische Vorgabe der Gesellschaft, Frauen müssten sich ihrer Leidenschaft schämen, werde hier vorgeführt und hinterfragt durch die Verdrehung ins Gegenteil. Der Fall zeige weitere Charakteristika der Scham, nämlich zum einen, dass sie geschlechterdifferent, also an Frauen und Männer unterschiedlich, vermittelt wird und zum anderen, dass sie immer auch mit Begehren verbunden sei: "Man muss erst einmal etwas Verbotenes wollen, um sich schämen zu können" erklärt Hotz-Davies, "und was von der Gesellschaft untersagt wird, wirkt erst recht anziehend."

Die Forscherin hat beobachtet, dass die schamlosen Figuren im 18. Jahrhundert zusehends verschwinden, gleichzeitig verschieben sich die Schaminhalte. Explosionsartig vermehren sich die Gründe, sich zu schämen: zu dieser Zeit wird auch das Benehmen zum Gegenstand von Scham gemacht, etwa wenn jemand die Regeln der Tischsitten nicht auf die vorgegebene Art und Weise befolgt. "Die Schamlosen tauchen in der Literatur jetzt nicht mehr als selbstbewusste Figuren auf, sondern nur noch als die Vulgären, als Unwissende, die sich gar nicht darüber im Klaren sind, dass sie sich falsch verhalten", erklärt Hotz-Davies. In den englischen Benimmromanen, den so genannten novels of conduct, dienten die Vulgären nun als Kontrast zum gesellschaftlich akzeptablen Verhalten der Heldinnen oder Helden. Zu diesem Genre frauendisziplinierender Literatur, wie Hotz-Davies diese Richtung nennt, gehören später auch Jane Austens Werke. Als Beispiel nennt die Anglistin Austens Roman "Stolz und Vorurteil" von 1813. Dort schämt sich die Heldin in einem fort, vor allem für ihre Familie und ganz besonders für ihre Schwester Lydia, die hier die Rolle der Vulgären übernimmt. Diese erkennt keinerlei gesellschaftliche Regeln an. Es bleibe jedoch unklar, ob sie nur zu dumm ist, oder ob das Überschreiten abgesteckter Schamgrenzen Struktur habe, sagt Hotz- Davies. "Die Heldin jedenfalls wird durch Schamerlebnisse so lange 'zurechtgeboxt', bis sie am Ende doch noch heiraten kann." Dass im 19. Jahrhundert die schamlosen Figuren in der Literatur weiter verschwinden, begründet Hotz-Davies damit, dass die Gesellschaft es zu dieser Zeit nicht ertragen habe, von solchen Figuren derart in Frage gestellt zu werden. Die Schamlosigkeit an sich verschwinde jedoch nicht. "Zum Beispiel der Lyriker Algernon Swinburne, ein enthusiastischer Leser Baudelaires, nahm für sich in Anspruch, keine bürgerlichen Ideale zu verfolgen - und war damit ein typischer Vertreter der Avantgarde, die Schamlosigkeit zwar zum Programm machte, sie aber anders benannte."

Für das 19. und 20. Jahrhundert führt Hotz-Davies als Beispiel schriftstellerischer Auseinandersetzung mit der Scham die Darstellungstechniken des camp an, die verbotene Wunschinhalte überzogen darstellen, um damit schambesetzte Befindlichkeiten ästhetisch auszudrücken. Camp handle ganz nach der Prämisse "Scham ist schön, ich besetze diesen Ort". Feminine Affekte werden dabei oftmals übersteigert dargestellt und Homosexualität oder Travestie - schon immer stark mit Scham besetzt - mit einbezogen, etwa indem Männer erklären "Mein Lippenstift ist rot". Der Hauptinhalt der Scham des 20. Jahrhunderts sei das Versagen, das Gefühl, etwas nicht geschafft zu haben. Für eine interessante Figur hält Hotz-Davies in diesem Zusammenhang keinen Schriftsteller, sondern den Regisseur Orson Welles. "Er hat Filme über Menschen gemacht, die sich nicht schämen und sich selbst dabei mit einbezogen: Er hat sich selbst in seinen Filmen als Monster dargestellt, hässlicher und dicker, als er in Wirklichkeit war." Überhaupt kann Ingrid Hotz-Davies nur einzelne Werke unter dem Aspekt der Erforschung der Scham herausgreifen: "Eine umfassende Darstellung ist noch in weiter Ferne. Dabei ließe sich die ganze Literaturgeschichte unter diesem Blickwinkel neu schreiben."

Nähere Informationen:
Prof. Ingrid Hotz-Davies
Seminar für Englische Philologie
Wilhelmstraße 50
72072 Tübingen
Tel. 0 70 71/2 97 52 54
E-Mail ingrid.hotz-davies@uni-tuebingen.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution81


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Michael Seifert, 20.03. 2006
Universität Bremen, Eberhard Scholz, 13.12.2006
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