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AKZENTE/098: Lesen und Schreiben nach Freud (Marburger Uni Journal)


Marburger Uni Journal Nr. 28 - Februar 2007

Lesen und Schreiben nach Freud

von Thomas Anz


Kaum ein wissenschaftliches Werk hat so nachhaltigen Einfluss auf die Literatur ausgeübt: Der Wirkung Sigmund Freuds konnten sich in den Jahrzehnten nach dem Erscheinen der Traumdeutung nur wenige bedeutende Autoren entziehen. Professor Dr. Thomas Anz über die "alles andere als harmonischen Beziehungen" zwischen Psychoanalyse und Literatur.


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Leser, die von der Psychoanalyse gelernt haben, suchen gerne nach einem geheimen Sinn, der sich unter der Oberfläche literarischer Werke verbirgt. Wenn die Romane, Erzählungen oder Dramen im 20. oder 21. Jahrhundert geschrieben wurden, kommt es allerdings häufig vor, dass die Autoren bei ihrem Schreiben selbst schon von der Psychoanalyse inspiriert sind. Psychoanalytischen Deutern geht es dann ähnlich wie Sigmund Freud in einer kleinen Geschichte Robert Gernhardts: "Zu Sigmund Freud kam einst ein Mann, der ihm einen seltsamen Traum erzählte. Sein Es habe - im Traum - Triebansprüche geäußert, das Über-Ich habe sie zu unterdrücken versucht, das Ich habe sie daraufhin sublimiert. 'Haben Sie das wirklich geträumt?' fragte Freud. 'Ja', entgegnete der Mann. Freud überlegte einen Moment und sagte: 'Die Erklärung des Traums ist einfach. Ihr Es wird vom Über-Ich unterdrückt und äußert Triebansprüche, die vom Ich ...' 'Das ist aber keine Erklärung, das ist mein Traum', unterbrach ihn der Mann. 'Wenn Sie nicht wollen, dass ich Ihnen Ihre Träume erkläre, brauchen Sie es nur zu sagen', antwortete Freud schroff und entließ den Mann, den von Stund an ein schrecklicher Minderwertigkeitskomplex befiel."

Die literarischen Tagträume fast aller bedeutenden Autoren und Autorinnen, die nach Freuds "Traumdeutung" geschrieben haben, tragen Spuren der Psychoanalyse in sich. Und die Autoren wissen, wenn sie schreiben, dass auch ihre Leser etwas von der Psychoanalyse wissen. In Hans-Ulrich Treichels letztem Roman "Menschenflug" über eine Familie, deren Leben von einem dunklen, traumatisch wirksamen Ereignis in den letzten Monaten des Weltkrieges beherrscht wird, leidet der Protagonist unter psychosomatischen Beschwerden. Er ist mit einer Psychoanalytikerin verheiratet, später mit einer Archäologin liiert. Bei einer Reise nach Ägypten sieht er die Sphinx. Der Roman rechnet mit einem Publikum, das von der symbolischen Bedeutung der Sphinx für Freud und von den Affinitäten der Psychoanalyse zur Archäologie weiß. Formal simuliert der Roman den psychoanalytischen Prozess des Erinnerns, Wiederholens und Durcharbeitens und eignet sich jene ästhetischen Qualitäten der Psychoanalyse an, die wohl mit zu ihrer Ausbreitung im 20. Jahrhundert beigetragen haben: die Spannung in der Aufdeckung von Familiengeheimnissen, den Witz ihrer Deutungseinfälle, das unverblümte Sprechen über Sexualität.


Ergriffen von einer "Weltbewegung"

Für die Gegenwartsliteratur hat die Psychoanalyse, sei es die von Freud, C.G. Jung oder Jacques Lacan, allerdings längst nicht mehr die Bedeutung, die sie in den 1970er Jahren hatte, als sie von der literarischen Intelligenz noch aus ihrer Verbannung durch den Nationalsozialismus zurückgeholt, gegen die notorischen Ressentiments der akademischen Psychologie oder Psychiatrie verteidigt und von den psychoanalysefeindlichen Traditionen eines orthodoxen Marxismus befreit werden musste. Wo Literatur heute auf Psychoanalyse zurückgreift, geschieht dies in der Regel nur noch spielerisch oder beiläufig.

Das war in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts anders. Die Literatur zeigte sich an der Psychoanalyse interessiert, seit es diese gab, zuerst in Wien, spätestens seit 1910 in allen anderen deutschsprachigen Zentren des literarischen Lebens, seit den zwanziger Jahren in ganz Europa und in den USA.

Ihre breiteste und stärkste Akzeptanz unter den Autoren der Moderne erreichte die Psychoanalyse in Deutschland im Verlauf der 1920er Jahre. Thomas Mann bescheinigte ihr 1929 in seiner ersten großen Freud-Rede, "Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte", die Bedeutung einer "Weltbewegung", von der "alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissenschaft sich ergriffen zeigten". Die Psychoanalyse sei, so resümierte er, "einer der wichtigsten Bausteine, die beigetragen worden sind zum Fundament der Zukunft, der Wohnung einer befreiten und wissenden Menschheit". Solche Hymnen auf Freud und die Psychoanalyse finden sich bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern dieser Zeit zuhauf. Als 1930 in Frankfurt hinter den Kulissen heftig darum gestritten wurde, wer den Goethe-Preis erhalten sollte, war es vor allem den Repräsentanten der literarischen Moderne, namentlich Alfred Döblin, zu verdanken, dass Freud die Auszeichnung erhielt. Von erheblicher Bedeutung war, dass in der zweiten Sitzung der Jury ein Antrag auf Verleihung des Nobelpreises an Sigmund Freud verlesen wurde. Dreißig Schriftsteller hatten ihn unterzeichnet. Auf der eindrucksvollen Liste standen Lou Andreas-Salomé, Alfred Döblin, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Hermann Hesse, Georg Kaiser, Thomas Mann, Walter Mehring, Romain Rolland, Ernst Toller, Ernst Weiß, Franz Werfel, Virginia Woolf, Paul Zech und Arnold Zweig.

Viele Autoren der Moderne waren durch ihre wissenschaftliche Ausbildung einschlägig auf die Psychoanalyse vorbereitet, mancher lernte sie als Patient kennen. Das Beispiel Rainer Maria Rilke, der im Winter 1911/12 eine psychoanalytische Behandlung erwog, doch dann davon Abstand nahm, weil er fürchtete, mit seiner Neurose auch seine Kreativität zu verlieren, ist keineswegs typisch. Hofmannsthal ließ sich zeitweilig von Wilhelm Fließ behandeln, Hermann Hesse unterzog sich 1916 bei einem Jung-Schüler, nach 1920 bei C.G. Jung selbst einer Therapie. Auch Richard Huelsenbeck, Arnold Zweig, Hermann Broch und sogar einer der heftigsten Kritiker (doch zugleich besten Kenner) Freuds, Robert Musil, ließen sich psychoanalytisch behandeln. Die meisten von ihnen litten unter schweren Arbeitsstörungen, und manche, so Hesse und Broch, beschrieben ihre Analyse als Befreiung zu neuer Kreativität. Hesse schrieb den Roman 'Demian' (1919), der eine neue Phase seiner literarischen Produktivität einleitete, in der Zeit und unter dem nachweisbaren Eindruck seiner Psychotherapie bei Josef Bernhard Lang.


Dramatische Spannungen

Die Literaturgeschichte der vergangenen hundert Jahre ist ohne ihre Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse nicht angemessen zu begreifen so wie umgekehrt die Psychoanalyse nicht ohne ihre Auseinandersetzung mit Literatur. Ob Schnitzler, Hofmannsthal oder Kraus, Franziska zu Reventlow oder Lou Andreas-Salomé, Thomas Mann, Hauptmann, Hesse, Kafka oder Musil, Döblin, Tucholsky oder Brecht, sie alle haben sich von der Psychoanalyse prägen lassen.

Die Beziehungen zwischen Psychoanalyse und moderner Literatur war jedoch alles andere als harmonisch. Bei aller gegen seitigen Wertschätzung sind sie durch dramatische Spannungen gekennzeichnet. Hofmannsthal schrieb 1908 in einem Brief: "Freud, dessen Schriften ich sämtlich kenne, halte ich [...] für eine absolute Mediocrität voll bornierten, provinzmäßigen Eigendünkels". Die polemischen Bemerkungen von Karl Kraus, der die Psychoanalyse nach anfänglicher Hochschätzung über Jahre hinweg in seiner "Fackel" verhöhnte, sind bekannt, vor allem sein Bonmot: "Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält." Alfred Döblin pries Freud 1926 als einen "Wohltäter der Menschheit", wies jedoch gleichzeitig nachdrücklich alle Prioritätsansprüche der Psychoanalyse gegenüber einer ihr verwandten Literatur zurück: "Man hat gesagt: Die Freudsche Tiefenpsychologie wird eine Tiefendichtung zur Folge haben, ein kompletter Unsinn. Noch immer hat Dostojewskij vor Freud gelebt, haben Ibsen und Strindberg vor Freud geschrieben. Und wir wissen ja, Freud hat selbst an ihnen gelernt und an ihnen demonstriert." Ihm persönlich habe Freud "nichts Wunderbares gebracht", erklärte er ein Jahr darauf, berief sich jedoch später mehrfach auf seine psychoanalytischen Erfahrungen, um die seinem 'Berlin Alexanderplatz' unterstellten Abhängigkeiten von James Joyce zurückzuweisen. Die "Assoziationstechnik" kenne er genauer als Joyce, "nämlich vom lebenden Objekt, von der Psychoanalyse". 1939 erklärte er: "Angriffe, besonders witzige, ironische auf Freud sind zu begrüßen. Er ist von einer aschgrauen Dogmatik und von einer fanatischen Härte und Unerbittlichkeit in der Handhabung seiner Doktrin, dass man von vornherein einer Attacke auf ihn mit dem Ruf 'in tyrannos' applaudieren soll. Diktatoren sind nicht nur politisch unerträglich." Seinen späten, der analytischen Erinnerungstechnik verpflichteten Roman 'Hamlet' oder 'Die lange Nacht nimmt ein Ende' kommentierte Döblin wiederum mit der Bemerkung: "Es wurde eine Art psychoanalytischer Roman."

Das vielleicht merkwürdigste literarische Beispiel für die Zwiespältigkeiten im Umgang mit der Psychoanalyse lieferte Thomas Mann. Als er Hermann Hesses 'Demian' gelesen hatte, notierte er mit Bewunderung in sein Tagebuch (29. Mai 1919), "das psychoanalytische Element" sei darin "entschieden geistiger und bedeutender verwendet" als im 'Zauberberg'. Da unterschätzte er den eigenen Roman erheblich. Dieser ist in seiner durchgehenden Sexualsymbolik, in den Schilderungen von Träumen oder auch von Lachanfällen sowie in der literarischen Psychopathologie innerer Konflikte zwischen zivilisierter Selbstbeherrschung und anarchischen Leidenschaften eine Hommage an die Psychoanalyse. Der im Roman auftretende Psychoanalytiker Dr. Krokowski ist andererseits so dargestellt, dass die Psychoanalyse durch ihn einen ziemlich unsympathischen Repräsentanten erhält. Als dubiose, quasi religiöse Heilslehre eines fanatisierten jüdischen Einzelgängers wird sie diskreditiert und im Romanverlauf dann auch noch in die obskure Nähe okkultistischer Praktiken gerückt.

Thomas Mann selbst hatte die Diskrepanz zwischen seiner negativen Darstellung des Dr. Krokowski und den eigenen Anleihen bei der Psychoanalyse gesehen und beschrieben, wenn auch in entschärfenden Formulierungen: Dr. Krokowski sei zwar "ein bißchen komisch", erklärte er 1925. "Aber seine Komik ist vielleicht nur eine Schadloshaltung für tiefere Zugeständnisse, die der Autor im Inneren seiner Werke der Psychoanalyse macht." Schärfer lässt der Autor seinen Settembrini die Diskrepanz der eigenen Einschätzung artikulieren. Auf die Frage "Sind Sie schlecht auf die Analyse zu sprechen?" antwortet er: "Sehr schlecht und sehr gut, beides abwechselnd." Die Psychoanalyse sei gut als ein "Werkzeug der Aufklärung und der Zivilisation", das "dumme Überzeugungen erschüttert", "die Autorität unterwühlt" und "Knechte reif macht zur Freiheit". Sie sei schlecht, "insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Wurzeln schädigt, unfähig, es zu gestalten".

Sehr schlecht und sehr gut zu sprechen auf die Psychoanalyse war ebenfalls Robert Musil. Er gehört zu jenen Autoren, die den Ursachen für die dramatischen Spannungen zwischen moderner Literatur und Psychoanalyse vielleicht am dichtesten auf der Spur waren. Denn diese standen sich damals so nahe, dass die Nähe immer wieder in Rivalität umschlug. Eine "finster drohende und lockende Nachbarmacht" sei die Psychoanalyse für den Dichter, befand Musil. Beunruhigt und gelockt zugleich haben ihn die literarischen Elemente, die der Psychoanalyse von Beginn an eigen waren. Es gebe, so notierte er, "psychologische Arbeiten, die wie Dichtungen sind. Es sind Beschreibungen pathologischer Seelenabläufe, die von einer wunderbaren Eindringlichkeit sind."

Mit ähnlicher Bewunderung hatte Alfred Döblin in seiner Rede zu Freuds 70. Geburtstag die inzwischen berühmte Bemerkung des Analytikers aus den 'Studien über Hysterie' zitiert: "Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren". Gerade die Affinitäten der Psychoanalyse zur Literatur waren es jedoch, die bei Robert Musil ähnlich wie bei Döblin Aggression auf die "Pseudodichter" Freud, Jung oder auch Adler hervorriefen.


An dieser Passage ist fast alles falsch

Psychoanalyse und literarische Moderne begegneten sich um und nach 1900 in einer kulturgeschichtlichen Konstellation, in der Literatur den Anspruch der naturalistischen Generation, den Fortschritten der Wissenschaften mit literarischen Mitteln Rechnung zu tragen, auf die Erkenntnis und Darstellung psychischer Prozesse übertrug. Umgekehrt näherten sich einflussreiche Segmente der Wissenschaft, unter ihnen die Psychoanalyse, den Erkenntnisqualitäten der Kunst und Literatur an, die von den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts für obsolet erklärt worden waren.

Die Verwissenschaftlichung des literarisch modernen Diskurses korrespondierte, zumindest was die Psychoanalyse angeht, um 1900 mit einer Literarisierung der Wissenschaft. Zum einen illustrierte und legitimierte Freud seine Theorien permanent mit literarischen Texten. Sie sind zum Teil in seine Terminologie eingegangen. Der "Ödipus-Komplex" ist dafür nur das prominenteste Beispiel. In seiner Studie über Wilhelm jensens 1903 erschienenen Roman 'Gradiva' nennt er die Dichter "wertvolle Bundesgenossen" der wissenschaftlichen Psychologie. Zum anderen näherte sich die Psychoanalyse durch ihre narrativen Darstellungen von Lebens- und Krankengeschichten selbst der Literatur an.

Krankengeschichten wiederum, wenn auch fiktive, sind für die psychopathophile literarische Moderne konstitutiv. Ihnen begegnete Freuds klassizistisches Literaturverständnis mit erheblicher Skepsis. "Psychopathische Personen auf der Bühne", so der Titel seines 1906 verfassten Aufsatzes, lehnte er ab, und nicht nur auf der Bühne, sondern in literarischen Texten generell. Und diese Abneigung ging mit Ressentiments gegenüber pathologischen Charakterzügen von Autoren einher. Dostojewskij beispielsweise hat er, wie ein Brief an Theodor Reik erklärt, "bei aller Bewunderung" nicht gemocht. "Das kommt daher, dass sich meine Geduld mit pathologischen Naturen in der Analyse erschöpft."

Besonders subtil äußert sich das gespannte Verhältnis Freuds zur Literatur und zu Autoren der Moderne in dem überaus freundliche Brief, mit dem Freud am 14. Mai 1922 Arthur Schnitzler zum 60. Geburtstag gratulierte. Er ist in dem Versuch, Prioritätsstreitigkeiten gar nicht erst aufkommen zu lassen, generös, doch an der folgenden Passage ist fast alles falsch: "So habe ich den Eindruck gewonnen, daß Sie durch Intuition - eigentlich aber in Folge feiner Selbstwahrnehmung alles das wissen, was ich in mühseliger Weise an anderen Menschen aufgedeckt habe." Schnitzler hatte, und Freud war das keineswegs unbekannt, sein psychologisches Wissen keineswegs allein durch Intuition und Selbstbeobachtung erworben. Der Arzt ist vielmehr durch dieselbe Wiener medizinische Schule gegangen wie Freud und hatte sich wie er auf das Gebiet der Nervenkrankheiten spezialisiert, insbesondere auf Hysterie und Neurasthenie, und darüber auch publiziert. Freud wiederum hatte sein psychoanalytisches Wissen keineswegs nur aus der mühseligen Auseinandersetzung mit anderen Menschen erworben, sondern ebenfalls in Folge intensiver, durch eigene Krisen stimulierter Selbstbeobachtung.

In den Auseinandersetzungen zwischen Literatur und Psychoanalyse ging es um gegenseitige Selbstbehauptungen und Abgrenzungen eines eigenen Terrains. Gleichsam als Einmischung in innere Angelegenheiten wies Freud das Interesse der literarischen Moderne an psychopathologischen Stoffen zurück. Umgekehrt reagierten Autoren der Moderne hochempfindlich, wenn Psychoanalytiker in ihrem Interesse an der Kunst und an Künstlerpersönlichkeiten gegenüber dem Autor und seinem Werk von vornherein einen vaterähnlichen Überlegenheitsanspruch behaupteten, während sie dem Autor die Rolle eines quasi neurotischen, bewusstseinsmäßig unterlegenen Patienten zuschrieben.

Den produktiven Anstößen, für die man der Psychoanalyse dankbar war, stand die Bedrohung gegenüber, die von ihren Kunstinterpretationen ausging. Denn jeder Autor konnte durch sie, und zwar unfreiwillig und sogar öffentlich, mit seinen Werken zum pathologischen Fall und Untersuchungsobjekt werden. "Ich bin unvermögend mich gegen Interpretationen der vagsten Art zu wehren, wenn morgen ein Freudianer meine sämtlichen Arbeiten bis aufs I-tüpferl als infantil-erotische Hallucination 'erkennt'", schrieb Hofmannsthal in einem Brief. Und Karl Kraus wütete: "Nervenärzten, die uns das Genie verpathologisieren, sollte man mit dessen gesammelten Werken die Schädeldecke einschlagen."

Mit dem Eingeständnis seiner "Doppelgängerscheu" vor Schnitzler formulierte Freud in dem zitierten Brief allerdings zutreffend, was Psychoanalyse und literarische Moderne verband: "die nämlichen Voraussetzungen, Interessen und Ergebnisse", das "Ergriffensein von der Wahrheit des Unbewussten, von der Triebnatur des Menschen" und der "Zersetzung der kulturell-konventionellen Sicherheiten".

Die Interessengemeinschaft zwischen Psychoanalyse und moderner Literatur war auf einen Problemkomplex hin zentriert: die seit der Aufklärung forciert in Anspruch genommene Autonomie des menschlichen Subjekts. Durch die Psychoanalyse, so konstatierte Freud, werde der menschlichen "Größensucht" eine noch größere Kränkung zugemutet als durch Kopernikus und Darwin. Nachdem die Menschheit von der Astronomie erfahren musste, dass ihr Ort nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, und von der Biologie auf ihre Abstammung aus dem Tierreich verwiesen wurde, zeige ihr nun die Psychologie, dass das Ich "nicht einmal Herr ist im eigenen Hause".

Das autonome, sich selbst bewusst kontrollierende Subjekt ist in Freuds Perspektive eine Illusion oder allenfalls das nie ganz zu erreichende Ziel selbstreflexiver Anstrengungen. In der freien Assoziation wie im inneren Monolog, im Traum wie im Wahn oder in pathologischen Symptomen zeigt es sich geschwächt, offenbaren sich auf erschreckende oder lustvoll entfesselte Weise die Wahrheiten des Unbewussten.


"Kampf mit dem Triebe"

Den Antagonismus von Sexualität und Moral, Unbewusstem und Bewusstem, Körper und Geist wird in Literatur und Psychoanalyse gleichermaßen immer wieder mit Metaphern des Kampfes dramatisiert. Zusammen mit "Unterdrückung", "Widerstand" oder "Abwehr" gehört auch "Kampf" zum festen Inventar des psychoanalytischen Vokabulars. Vom "Kampf mit dem mächtigen Triebe" oder "Kampf gegen die Sinnlichkeit" spricht Freud etwa in seiner 1908 erschienenen Schrift "Die 'kulturelle' Sexualmoral und die moderne Nervosität."

'Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens' hieß bezeichnenderweise jenes Zeitschriftenprojekt, durch das Franz Kafka sich dem unorthodoxen Freud-Schüler und Kulturrevolutionär Otto Gross verbunden sah. Und was damit bekämpft werden sollte, war nicht zuletzt der Machtwille im eigenen Ich. Er steht jener ethischen Regel entgegen, die Gross in der Formulierung zusammenfasste: "sich selbst nicht vergewaltigen lassen und selbst nicht vergewaltigen wollen".

Fragt man nach den Parteinahmen und Sympathieverteilungen der Psychoanalyse und der literarischen Moderne gegenüber den antagonistischen Kräften im Kampfgeschehen, so kann man im Blick auf größere historische Zusammenhänge seit dem 18. Jahrhundert drei Muster unterscheiden: das aufklärerische, das klassische und das ästhetisch moderne. Im Kampf zwischen Sinnlichkeit und Vernunft ergreift die Aufklärung Partei für die Vernunft, die Klassik, theoretisch am profiliertesten Schiller, zielt bei gleich verteilten Sym- und Antipathien auf eine harmonisierende und befriedende Aufhebung der Gegensätze. Das ist ungefähr die Position, die auch der Schiller-Verehrer Freud einnahm. Die Autoren der Moderne hingegen sympathisierten zur gleichen Zeit eher mit dem, was in dem Kampf den Herrschaftsansprüchen der Vernunft widerstreitet.

Das ist jedoch nur tendenziell so. Die literarische Moderne ist keineswegs durch ein einheitliches Muster geprägt, sondern durch ein Neben- und kämpferisches Gegeneinander von unterschiedlichen, bei einzelnen Autoren zuweilen rasch wechselnden oder sich unterlaufenden Positionen. Moral- und rationalitätskritische Appelle zur Befreiung libidinöser und unbewusster Energien konkurrieren mit aufklärerischen Programmen zur Stärkung des autonomen, mannhaften Subjekts und mit klassisch-idealistischen Postulaten zur befriedenden Aufhebung der Gegensätze durch die integrative Kraft der Selbstreflexion.

Die vielen Metaphern des Kampfes und des Krieges in den literarischen und psychoanalytischen Beschreibungen psychischer Konflikte lesen sich in der Rückschau wie Bestätigungen jener These des Soziologen Norbert Elias, die den Prozess der Zivilisation als eine Verlagerung alter Kriegsschauplätze zwischen den Menschen ins Innere des zivilisierten Subjekts begreift. Die furchterregenden "körperlichen Auseinandersetzungen, die Kriege und Fehden verringern sich [...]. Aber der Kriegsschauplatz wird zugleich in gewissem Sinne nach innen verlegt. Ein Teil der Spannungen und Leidenschaften, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch zum Austrag kamen, muss nun der Mensch in sich selbst bewältigen." Elias' in den dreißiger Jahren entstandene Zivilisationstheorie ist freilich selbst in ihrer geradezu plagiatorischen Adaption von Freuds Kulturtheorie dem Diskurs der Psychoanalyse und der literarischen Moderne um und nach 1900 verbunden. Die hochgradig konfliktbelastete Konstitution des modernen Subjekts, die Elias als "Prozess der Zivilisation" beschrieb, vor ihm Nietzsche als "Genealogie der Moral", Max Weber als "protestantische Ethik" und "Geist des Kapitalismus" oder Freud als "Kulturprozess", nach ihm Horkheimer und Adorno als "Dialektik der Aufklärung" oder Jacques Lacan als Eintritt in die "symbolische Ordnung", ist zugleich auch permanenter Problemstoff der literarischen Moderne.

Informationen zum Projekt "Psychoanalyse in der literarischen Moderne":
www.psychoanalyse-literatur.de; s.a. "Druckfrisch", S. 29


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Kontakt

Professor Dr. Thomas Anz

FB Germanistik und Kunstwissenschaften, Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien

E-Mail:anz@staff.uni-marburg.de


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Originalabschrift eines Briefs Freuds an Arthur Schnitzler.

8.5.1906

Verehrter Herr Doktor. Seit vielen Jahren bin ich mit der weit reichenden Uebereinstimmung bewusst, die zwischen Ihren und meinen Auffassungen mancher psychologischer und erotischer Probleme besteht und kürzlich habe ich ja den Mut gefunden eine solche ausdrücklich hervorzuheben (Bruchstück einer Hysterieanalyse 1905). Ich habe mich oft verwundert gefragt, woher Sie diese und jene geheime Kenntnis nehmen könnten, die ich mir durch mühseliges Erforschen des Objektes erworben und endlich kam ich dazu, den Dichter zu beneiden, den ich sonst bewundert.

Nun mögen Sie erraten, wie sehr mich die Zeilen erfreut und erhobenen, in denen Sie mir sagen, dass auch Sie aus meinen Schriften Anregung geschöpft haben. Es kränkt mich fast, dass ich 50 Jahre alt werden musste, um etwas so Ehrenvolles zu erfahren.

Ihr in Verehrung ergebener Dr. Freud.

Nachlass Schnitzler/Deutsches Literaturarchiv, Marbach. Sigmud Freud an Arthur Schnitzler, Wien IX, Berggasse 19, 8. Mai 1906. Aus: Sigmund Freud, Briefe 1873-1939. Ausgewählt und herausgeg. von Ernst und Lucie Freud. (c) S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. 1968, 1980.


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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Auseinandersetzung mit dem Ich. Sigmund Freud und die Büste, die Oscar Nemon in den 1930er Jahren von ihm angefertigt hatte.

Titelblatt der "Traumdeutung"
(Faksimile)

Alfred Döblin. Die Zeichnung von Emil Orlik zeigt ihn im Mai 1926 bei der Festrede zu Freuds 70. Geburtstag.


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 28, Februar 2007, Seite 16
Herausgeber: Der Präsident der Philipps-Universität Marburg
gemeinsam mit dem Vorstand des Marburger Universitätsbunds
Redaktion: Pressestelle der Philipps-Universität Marburg
Biegenstraße 10, 35032 Marburg,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2007