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BERICHT/031: Autorinnen und Verlage in der Türkei (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 91, 1/05

Jenseits von Harem und Hamam Zeitgenössische Autorinnen und Verlagswesen in der Türkei

Interview mit Bahar Siber-Zamur


Um mehr über die junge Generation türkischer Autorinnen und deren Umfeld zu erfahren, führte Iris Wrana für die 'Frauensolidarität' ein Gespräch mit Bahar Siber-Zamur vom Verlag Iletisim, Istanbul.


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"Die Stadt wuchs und breitete sich aus, sie veränderte sich. Neue Straßen und Häuser brachten fremde Menschen mit sich, deren Verhalten neu und ungewohnt war. (...) Die Frauen, die ihre Zeit meist im Haus verbrachten, empfanden Furcht und Scheu vor der Veränderung, die in der Stadt und in ihren Männern vorging. Sie sahen, dass Risse entstanden im alten soliden Bollwerk der Tradition."(1) Die türkischen Autorinnen der zweiten Hälfte des 20. Jhs haben es verstanden, diese Risse für sich zu nützen und zu erweitern, um darin den Samen für feministisch-literarische und gesellschaftliche Entwicklungen zu säen. Mit ihrem ausgeprägten kritisch-humanistischen Realismus haben Schriftstellerinnen wie Duygu Asena oder Adalet Agaoglu, die "Grande Dame" der türkischen zeitgenössischen Literatur, berührende Einblicke in weibliche Lebenswelten ermöglicht. Asenas autobiographisches Hauptwerk "Die Frau hat keinen Namen" handelt von der Emanzipation und dem Unabhängigkeitsstreben einer Frau und war in den 1980ern noch auf dem Index verbotener Bücher. Eine weitere Autorin mit starkem feministischen Anspruch ist Füruzan. Die Protagonistinnen in ihren Werken entstammen vorrangig dem städtischen Proletariat, sind Dienstmädchen, Arbeiterinnen und Prostituierte, aus deren Perspektive vorher in der türkischen Literatur noch kaum erzählt worden war.

Die 29-jährige Siber-Zamur ist seit sieben Jahren bei Iletisim als Lektorin und Übersetzerin tätig. Sie hat bislang über 30 Bücher im Verlag betreut, zu ihren Übersetzungen zählen unter anderem auch die Kinderbuch-Bestseller von Madonna. Ihr Studium der Geschichte und Psychologie an der renommierten Istanbuler Bilgi Universität qualifiziert sie darüber hinaus für das Lektorat und die Betreuung wissenschaftlicher Reihen.

Frauensolidarität:

Frau Siber-Zamur, Sie sind seit mehreren Jahren bei einem der führenden Verlage der Türkei tätig. Wie charakterisieren Sie Ihr Arbeitsumfeld?

BAHAR SIBER-ZAMUR

Der Verlag ist besonders spezialisiert auf akademische Publikationen. Iletisims Serien aus Zeitgeschichte, Soziologie und Politikwissenschaft werden von den akademischen Kreisen aufmerksam verfolgt und oft als Referenzwerke verwendet. Der Verlag legt außerdem großen Wert auf die Publikation literarischer Werke, besonders türkischer Herkunft. Das Ziel beider Tätigkeiten ist das Verstehen und Entschlüsseln des Modernisierungsprozesses der Türkei und seiner Nachbarn, mit Rücksicht auf den Nachlass des Osmanischen Reiches. Der Verlag wurde 1983, also nach dem Militärputsch 1980, gegründet und diente seitdem als alternativer Informationsvermittler. Die vorab genannten akademischen Publikationen haben dabei geholfen, theoretische Charakteristika des Wandels im Land zu identifizieren, während die literarischen Werke den praktisch- sozialen und humanistischen Inhalt dazu geliefert haben.

Frauensolidarität:

Wie ist es um die Entwicklung der zeitgenössischen Autorinnen bestellt; welche Themen behandeln sie und welche gesellschaftliche Relevanz haben sie?

BAHAR SIBER-ZAMUR

Der Anfang der 80er Jahre ist für die Türkei der Beginn des Öffnungs- und Integrationsprozesses mit der übrigen Welt. Wenn man dies als Beginn einer neuen Epoche akzeptiert, kann man, glaube ich, seitdem drei Perioden in der Beziehung "Literatur und Frauen" identifizieren. Die erste Periode würde ich einfach die "Periode des verspäteten Feminismus" nennen: Die feministische Welle, die in den 70er Jahren im westlichen Europa ihre Ziele aufgezeigt und sich dann abgedämpft hatte, hat die Türkei erst in den 80er Jahren erreicht. Das ist die Zeit gewesen, in der sich türkische Schriftstellerinnen intensiv mit dem Thema "Identitätsbildung der Frau" beschäftigt haben. Autorinnen wie Duygu Asena, Adalet Agaoglu und Pinar Kür sind damals zu Hauptfiguren der Diskussionen über die Frauenrechte geworden. Das war mit Sicherheit die Periode, in der Literatinnen den größten Einfluss auf die Gesellschaft ausgeübt haben. Als sich die Identität quasi gebildet hatte, haben sich die Themen in einem weiteren Schritt umgewandelt: Zu den Lieblingssujets türkischer Schriftstellerinnen in den 90er Jahren hat die Beschäftigung mit dem inneren Leben der Frau gezählt. Emotionale Probleme des Frauenlebens sowie Schwierigkeiten im Alltagsleben zählten zu den meist erzählten Themen dieser Periode. Jedoch hat das Millennium eine noch größere Umwandlung mit sich gebracht: die des Verlassens der Frauenidentität. Das heißt natürlich nicht, dass Autorinnen nicht mehr über Frauen geschrieben haben, sondern nur, dass sie nicht mehr "ausschließlich" über Frauen geschrieben haben. Vor allem junge Schriftstellerinnen dieser Periode (wie Elif Safak und Sebnem Isigüzel) haben den Mut gezeigt, in ihren Werken in männliche Persönlichkeiten einzudringen. Darüber hinaus zeigen die Romane dieser Periode eine weit größere Vielfalt an Themen wie z. B. soziale Unsicherheit, Intimität oder Lebenskonditionen der Minderheiten, aber auch an literarischen Stilen wie Krimis, Familienbiographien oder historische Romane. Die Folge dieser Tendenzen ist, dass sich die Diskrepanz zwischen Frauenliteratur und Männerliteratur heutzutage deutlich verringert hat.

Frauensolidarität:

Haben türkische Autorinnen Ihrer Meinung nach international Bedeutung bzw. Anerkennung?

BAHAR SIBER-ZAMUR

Die türkische Literatur ist weltweit leider kaum bekannt. Zu den wenigen türkischen AutorInnen, die in Fremdsprachen übersetzt werden, zählen meistens Namen wie Yasar Kemal oder Orhan Pamuk, also hauptsächlich Männer. Dennoch sehe ich die Sache optimistisch; die junge Generation von Schriftstellerinnen, von der ich bereits gesprochen habe, hat starke Kontakte zur Außenwelt. Mit Sicherheit werden diese Kontakte den Weg für die Übersetzung dieser Autorinnen bereiten. Es gibt bereits Beispiele - wie im Fall von Elif Safaks "Araf" -, bei denen das Werk zuerst auf Englisch geschrieben, im Ausland verlegt und erst dann ins Türkische übersetzt wurde. Je mehr türkische Schriftstellerinnen sich der Welt thematisch und auch persönlich nähern, desto umfassender werden ihre Werke aufgenommen.

Frauensolidarität:

Wie sind die beruflichen Möglichkeiten für Frauen im
Verlagsgeschäft?

BAHAR SIBER-ZAMUR

Es gibt viele Frauen, die in dem Bereich arbeiten. Ich kenne viele Übersetzerinnen, Lektorinnen und Herausgeberinnen, die eine erfolgreiche Karriere führen. Man kann sagen, dass sich für Frauen ein angenehmes Arbeitsumfeld bietet. Es ist schließlich ein überdurchschnittlicher Arbeitsbereich im Sinne des intellektuellen Niveaus, was zumindest offene Diskriminierungsmöglichkeiten ausschließt. Was jedoch Führungspositionen betrifft, da sind Frauen weniger sichtbar. Es gibt viele Herausgeberinnen, Lektorinnen und Übersetzerinnen, die im Verlagswesen gesucht werden, aber wenige Managerinnen. Iletisim ist einer der wenigen Verlage, in dem Frauen in Führungspositionen tätig sind.

Frauensolidarität:

Gibt es ein aus Ihrer Sicht derzeit besonders empfehlenswertes Buch einer türkischen Autorin?

BAHAR SIBER-ZAMUR

Sebnem Isigüzels letzter Roman "Cöplük" (Müll) ist eines der guten Beispiele für die neue Art der Türkischen Frauenliteratur. Isigüzel stützt ihr labyrinthisches Werk auf die Idee, dass "die Vergangenheit nichts weiter als Müll sei", beides vermehrt sich stetig. Während sie die unterschiedlichen Lebensgeschichten ihrer Helden verknüpft, geht sie der Analogie zwischen Vergangenheit und Müll nach und baut ihr Werk ähnlich einem Mülleimer auf, indem sie einst wertvolle, zur Zeit unbrauchbare Gedanken zwischendurch einwirft und zu einem überraschenden Schluss bringt. Abgesehen von Isigüzels hoher literarischer Leistung finde ich das Werk auch deswegen wichtig, weil es auf ein Tabu eingeht, das sowohl vom Sozialsystem in der Türkei als auch von der Gesellschaft systematisch vernachlässigt und ignoriert wird, nämlich das Problem der Obdachlosen.

Frauensolidarität:

Wie sehen Sie persönlich die zukünftige Entwicklung türkischer Literatinnen?

BAHAR SIBER-ZAMUR

Ich hoffe und glaube, dass die Vielfalt an verschiedenen Stilen und Themen die türkische Frauenliteraturszene weiter beherrschen wird. Es bleibt zu hoffen, dass die Autorinnen den Weg finden, um sich auch im Ausland bemerkbar zu machen. Die Ausrüstung, also das Selbstbewusstsein als Frau, und das vielfältige Literaturverständnis sind bereits aufgebaut!

Frauensolidarität:

Vielen Dank für das Gespräch!


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Anmerkungen:

(1) Özakin, Aysel:
Die kalten Nächte der Kleinstadt.
In: Wörle, Andrea (Hgin): Türkische Erzählungen
(München 1989) S. 246.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 91, 1/2005, S. 14
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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