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GESCHICHTE/030: Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte in der Literatur (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 209, Juli 2009
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Literatur als Spiegel der Geschichte
Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte

Von Frank Erdnüss


Am 1. Oktober 2008 hat das von der DFG finanzierte wissenschaftliche Netzwerk "Postkoloniale Studien in der Germanistik" seine Arbeit aufgenommen. Insgesamt 15 deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die nicht nur in Deutschland, sondern auch an Universitäten in England, Irland, der Schweiz, Kolumbien und den USA forschen, widmen sich der Kolonialgeschichte Deutschlands und ihren Folgen. In thematisch unterschiedlichen Einzelprojekten untersuchen die Forscherinnen und Forscher die historische Entwicklung vom Präkolonialismus im 19. Jahrhundert bis heute und beziehen dabei auch die aktuellen gesellschaftlichen Phänomene Interkulturalität, Migration und Globalisierung mit ein.


Wenn man von Kolonialisierung spricht, denken sicher die wenigsten zuerst an Deutschland. Große Kolonialmächte wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal und die Niederlande stehen im Vordergrund, zu Recht, denn sie begannen schon im 16. Jahrhundert mit der Eroberung und Unterwerfung ferner Länder. Die deutsche Kolonialgeschichte beginnt dagegen erst 1884 und endet schon 34 Jahre später mit dem Ende des Ersten Weltkrieges. Dennoch, mit den großen afrikanischen Kolonien im heutigen Namibia, Kamerun, Togo und Teilen Ostafrikas sowie den Gebieten in Neuguinea und der Insel Samoa umfasste das deutsche Kolonialreich insgesamt knapp drei Millionen Quadratkilometer und war damit rund sechsmal so groß wie das damalige Deutsche Reich. "Gemessen an der indigenen Bevölkerung dieser Gebiete von zirka 13,5 Millionen Menschen war Deutschland die viertgrößte Kolonialmacht in Europa, nach Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden", erläutert Dr. Axel Dunker, einer der Initiatoren des Netzwerks. Bereits 2004 hatte Dunker eine internationale Tagung am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität organisiert (vgl. JOGU 188/2004), die sich erstmals mit den Spuren des Kolonialismus in der deutschen Literatur beschäftigte. "Solche Studien werden zum Beispiel in den USA, in England und Frankreich schon lange betrieben, so dass eine entsprechende Analyse in der Germanistik überfällig war", so Dunker.

Da fragt man sich natürlich, warum unsere Kolonialgeschichte bislang nur rudimentär aufgearbeitet wurde? Ein Grund ist sicher die Dominanz des Schreckens, den das Dritte Reich hinterlassen hat. Wenn die schwarzen Kapitel der deutschen Geschichte analysiert werden, stehen die Gräueltaten der Nationalsozialisten stets im Vordergrund. Der vor mehr als hundert Jahren von deutschen Soldaten in Namibia verübte Völkermord - im Jahr 1904 kamen beim Aufstand der Herero vermutlich 60.000 Afrikaner ums Leben - rückt da schnell in den Hintergrund. Es fiel Dunker, von Hause aus vergleichender Literaturwissenschaftler, nicht schwer, Kollegen zur Mitarbeit an dem Netzwerk zu motivieren. Zusammen mit der Hamburger Kollegin Dr. Gabriele Dürbeck formulierte er einen Forschungsantrag, der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) positiv begutachtet wurde. Im Dezember 2008 startete die Gruppe dann mit einer Tagung in Mainz, im Mai 2009 folgte die zweite Konferenz in Basel. "Insgesamt finanziert die DFG sechs solcher Tagungen und eine abschließende Veröffentlichung der Ergebnisse in Buchform", sagt Dunker. Damit fördert die DFG erstmals die postkoloniale Forschung in der Germanistik. Der Begriff "postkolonial" bezieht sich auf alle Kulturen, die vom imperialen Prozess seit Beginn der Kolonialisierung bis heute betroffen sind; aber er bezeichnet auch den Prozess der Entkolonialisierung nach 1945. Viele verwenden ihn auch im Sinne von 'antikolonial'.

Das Treffen in Basel stand unter dem Motto "Ost-Westliche Kulturtransfers: Orient, Amerika", eine Problemstellung, die Edward W. Said in seinem 1978 erschienenen Werk "Orientalism" begründete. Darin zeigen sich die Aktualität und die gesellschaftliche Relevanz der Forschung, die weit über die Analyse des reinen Kolonialismus in fernen Ländern hinausgeht. So untersucht auch Dunker mit seinem Projekt "Orientalismus in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts" die Beziehungen zwischen Orient und Okzident, die spätestens seit dem 11. September 2001 die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Welt in weiten Teilen bestimmen. "Dabei möchte ich nicht nur den Verlauf der "deutsch-orientalischen" Kulturbeziehungen dokumentieren, sondern auch das in der Literatur vorhandene Potential aufzeigen, wie sich die vorhandenen Antagonismen zwischen Orient und Okzident in ein "hybrides" Inoder Nebeneinander überführen lassen", erläutert der Komparatist. Interessant ist hier der Begriff der Hybridisierung, der in der Biologie die Kreuzung von zwei eigenständigen Arten beschreibt. Übertragen auf die kulturellen Beziehungen, etwa Deutschlands zur Türkei, bezeichnet der Begriff Hybridisierung, dass sich Subjekte situativ, interkulturell und unabhängig von ihrer Herkunft selbst bestimmen können. Insofern ermöglicht eine hybride Existenzform, dass Vorurteile abgebaut und Subjekte einander angenähert werden. Insbesondere spielen dabei Kulturschaffende eine Rolle, die einerseits einen Migrationshintergrund haben und sich andererseits in deutscher Sprache äußern. Als Beispiele können der Autor Feridun Zaimoglu sowie die Kabarettisten Fatih Cevikkollu und Kaya Yanar dienen.

Betrachtet man nun die deutschen Kolonialgebiete, so fällt auf, dass mit diesen nur sehr wenige kulturelle Hybridisierungen stattgefunden haben. Eine postkoloniale Migration fehlt und es gibt keine Autoren, wie etwa in der anglo-amerikanischen oder in der französischen Literatur weit verbreitet, die aus Kolonialgebieten stammen und in der Sprache des Kolonisators, sprich in Deutsch, publiziert haben. "Ein Grund dafür ist, dass in vielen Teilen Afrikas eine orale Kulturtradition vorherrscht", erläutert Dunker. Schreiben ist häufig nicht der primäre Weg der Überlieferung beziehungsweise der Verarbeitung von Alltagsproblemen. Die boomende Filmindustrie "Nollywood" unterstreicht diesen Aspekt ebenfalls (vgl. dazu S. 26 in diesem Heft). Insofern beschränken sich die Studien auf deutschsprachige Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wie sie Dunker zum Beispiel in seinem 2008 erschienenen Buch "Kontrapunktische Lektüren" behandelt hat. Seine Aufmerksamkeit gilt darin ausschließlich der kanonischen Literatur des 19. Jahrhunderts, wie Kleists Erzählung "Verlobung in St. Domingo" oder Fontanes "Effi Briest". Dunker kommt zu dem Schluss, dass fast alle Autoren "ein Unbehagen am Kolonialen" artikulieren, die Ambivalenz der Gedanken ist stets spürbar. Die großen Autoren dieser Zeit schwanken in Bezug auf den Kolonialismus zwischen Bestätigung und kritischer Distanz.

Die Wissenschaftler des Netzwerks legen bei ihren Untersuchungen großen Wert auf eine Beteiligung fremder Kulturen. Das oben erwähnte Fehlen von deutscher Literatur aus den ehemaligen Kolonien wird kompensiert, indem Gäste aus Afrika oder Indien zu den Tagungen eingeladen werden. Für ihre Analysen bedienen sich die Forscher auch der Theorieansätze und Methoden, die sich in der postkolonialen Erforschung der frankophonen und englischsprachigen Literatur etabliert haben. Diese Literatur- und Kulturtheorie des Postkolonialismus wurde dabei vor allem von Personen entwickelt, die gewissermaßen zwischen zwei Kulturen standen, wie Edward W. Said, der als Palästinenser in den USA lebte. Obwohl das Konzept teilweise als amerikanischer Theorieimport missverstanden wurde, hat es sich nun durchgesetzt. Inzwischen gilt es als unstrittig, die Bedeutung des Kolonialismus für Deutschland nicht an der Dauer des Kolonialreiches zu messen. "Die heutigen gesellschaftlichen Probleme von Migration und Globalisierung lassen sich von den historischen Prozessen der Kolonialisierung nicht trennen", betont Dunker. Weil die deutsche Situation nicht direkt mit der anglo-amerikanischen vergleichbar ist, haben sich die postkolonialen Studien in der Germanistik in den letzten Jahren mit charakteristischen Eigenschaften neu formiert. Beispielsweise gestaltet sich die Forschung insofern interdisziplinär, als dass Kolonialismus auch als "Kultur" verstanden wird. Dass hat zur Konsequenz, dass nicht nur auf einschlägige Texte der Literaturgeschichte zurückgegriffen wird, sondern gleichermaßen auch auf andere Medien, Zeitschriften, Museen und materielle Güter wie Kolonialwaren. "So hat man jüngst das Phänomen von Sammelbildchen in Zigarettenpackungen untersucht, auf denen Mitglieder afrikanischer Völker zu sehen waren", erzählt Dunker. "Und um 1900 gab es zum Beispiel in Hamburg und Berlin sogenannte Völkerschauen, bei denen aus Afrika verschleppte Schwarze in nachgebauten Dörfern wie im Safaripark vorgeführt wurden", so der Experte. Eine vielfältige Forschung also und wir dürfen auf die Ergebnisse gespannt sein; die abschließende Publikation ist laut Dunker Anfang 2012 zu erwarten.


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Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 209, Juli 2009, Seite 18-19
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
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Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009