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PROFIL/100: Alicia Kozameh - Ihr Leben als politische Aktivistin und ihre Zeit im Exil (frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 143, 1/18

Sprünge zurück ins Leben
Alicia Kozameh: Ihr Leben als politische Aktivistin und ihre Zeit im Exil

von Sophie König


Die argentinische Schriftstellerin Alicia Kozameh stellte im November 2017 ihren autobiographischen Roman "259 Sprünge" in Wien vor. Erna Pfeiffer, die Übersetzerin dieses und vieler anderer Werke von Kozameh, dolmetschte an diesem Abend aus dem argentinischen Spanisch, während die Schauspielerin Lisa Furtner die deutsche Übersetzung las. Die Veranstaltung wurde von der Frauen*solidarität in Kooperation mit der Messe Buch Wien und der Schriftsteller_innenvereinigung PEN-Club organisiert.

Die ersten Sprünge sind unfassbar kurz. Meist nur ein paar Zeilen - mehr konnte Alicia Kozameh anfangs nicht schreiben. Es war unmöglich, intensiver an diese Zeit, in der sie politisch verfolgt wurde und sogar Morddrohungen erhalten hatte, zurückzudenken. Alles wand sich in ihr. Alleine schon kurze Augenblicke der Erinnerung an Gefängnis und Folter taten schrecklich weh. Es tat so sehr weh, dass die Autorin zu Beginn jedes Mal panisch von ihrem Schreibtisch aufspringen und Abstand zu den zermürbenden Gedanken gewinnen musste. Auch wenn es schwer war, mit dem Schreibprozess das Erlebte ein Stück weit wieder aufleben zu lassen, "musste es auf Papier gebracht werden", so Alicia Kozameh. 20 Jahre lang konnte sie nicht über ihre Zeit im Exil schreiben; die Zeit, die sie nach 1980 bzw. dann endgültig von 1988 bis heute in Kalifornien und Mexiko verbracht hat. Erst der zeitliche Abstand und der eingehende Reflexionsprozess ermöglichten ihr, "259 Sprünge" zu verfassen.


Zerrissenheit in Worte gefasst

Die sprunghaft anmutende Schreibweise wirkt, als würde der Roman nur so funktionieren, eine durchgehende Erzählform ist schier unvorstellbar. In ihrem Interview mit Meriem Ait Oussalah vom Radiokollektiv der Women on Air schildert die Autorin die Entstehung der "Sprünge": Sie seien keineswegs geplant gewesen, sondern erst im Prozess des Schreibens entstanden. Auffallend ist außerdem, dass der Text immer dichter, die Absätze länger, die Erzählungen ausführlicher werden. Möglicherweise, weil sich Alicia Kozameh an das Thema gewöhnt hat und durch das Reflektieren während des Schreibens so etwas wie eine persönliche Aufarbeitung des Geschehenen möglich war. Trotz der kurzen Ausführungen zu Beginn - die verdichteten "Sprünge" wirken wie in sich schlüssige Kurzgedichte - hat die Geschichte Kontinuität.

Kontinuität haben auch die Sprünge in Alicia Kozamehs Leben. Sie begleiten sie und strukturieren ihren Alltag. Ganz gleich, ob es die Fahrten zu ihren Lesungen sind oder ihr Weg zur Arbeit - die Sprünge wiederholen sich und werden zu Routine. Aber auch jedes neue Buch oder jede neue Seite eines Buches sei ein Sprung, erzählt die Argentinierin. "Der letzte Sprung, der wird mein Tod sein", davon ist sie überzeugt. Alicia Kozameh schafft es, auf fragmentarische Art und Weise ihre eigene Zerrissenheit in Worte zu fassen. Wie es wohl gewesen sein muss, als linke Aktivistin in der politischen Opposition Repressalien und Morddrohungen erfahren zu haben? Welche Gräueltaten Alicia Kozameh im Sótano (Keller), dem Frauengefängnis der Polizeidirektion von Rosario, Argentinien, erlebt haben muss? Wie es sich anfühlt, die eigene Heimat verlassen zu müssen und in ein Land zu fliehen, in dem es notwendig ist, Englisch - die Sprache der "anderen" - zu sprechen?


Aufarbeitung des Erlebten

"259 Sprünge" ist aber nicht der einzige Roman, in dem Kozameh ihre Erfahrungen als politische Gefangene aufarbeitet. "259 Sprünge" folgt thematisch dem Roman "Pasos bajo el agua" ("Schritte unter Wasser"), der ebenso einen Rückblick auf ihre Zeit als politisch verfolgte, gefangene und menschenunwürdiger Behandlung ausgesetzte Frau darstellt. Ihr aktuellstes Werk trägt den Titel "Bruno regresa descalzo" (übersetzt: "Bruno kehrt ohne Schuhe zurück") und erschien bisher nur auf Spanisch.

"Bruno regresa descalzo" ist ebenso wie die beiden anderen Werke ein Roman mit autobiographischen Einflüssen - anders als zuvor erzählt Kozameh hier aber aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines fiktiven Compañeros. Sie setzt sich in ihrem neuen Buch mit der Frage auseinander, wie Männer ihre Erfahrungen als politische Dissidenten verarbeiten. Im Radiointerview mit Meriem Ait Oussalah erinnert sie sich an Situationen, in denen Männer im Gefängnis härterer Gewalt ausgesetzt waren als Frauen. Heute, Jahrzehnte später, erlebt Alicia Kozameh, dass Männer ihren Schmerz gegenüber dem Geschehenen nicht ausdrücken können und im Missbrauch von Alkohol einen Ausweg suchen.

Gehen Männer anders mit dem Erlebten als politisch Verfolgte und Gefangene um als Frauen? Die politische Aktivistin stellt selbst immer wieder fest, wie sehr sie unter der nicht nur physischen Gewalt während der Militärdiktatur gelitten hat und dass sie die Erinnerungen auch noch lange Zeit danach mit sich herumschleppte.

Die Zeit im Gefängnis prägte Alicia Kozameh. Über diesen Lebensabschnitt zu reflektieren war lange nicht möglich. Unermüdlich versucht(e) sie, wieder Fuß zu fassen in diesem neuen, ihrem Leben. Mit "259 Sprünge" ist ihr das ein Stück weit gelungen.


Leben / Werk

Alicia Kozameh engagierte sich in den 1970ern und 1980ern als politische Aktivistin und war deshalb politischer Verfolgung, Gefangenschaft und sogar Folter ausgesetzt. Nach insgesamt drei Jahren im berüchtigten Frauengefängnis Sótano in ihrer Geburtsstadt Rosario und in der Haftanstalt Villa Devoto in Buenos Aires wurde sie im Zuge einer Weihnachtsamnestie am 24. Dezember 1978 freigelassen. Da Kozameh weiterhin Repressalien ausgesetzt war, blieb ihr keine andere Wahl, als ins Exil zu gehen - zuerst nach Kalifornien, später nach Mexiko. 1984 kehrte sie wieder nach Argentinien zurück, um 1988 aufgrund von erneuten Drohungen ihre Heimat endgültig zu verlassen. Heute lebt Alicia Kozameh in Los Angeles und lehrt an der Chapman University Kalifornien Kreatives Schreiben.

Auch wenn Alicia Kozamehs Romane starke autobiographische Züge aufweisen, haben ihre Texte immer auch fiktionalen Charakter. Kozameh nimmt uns mit in eine Zeit voller traumatischer Erlebnisse und politischem Aktivismus. Sie lässt uns aber gleichzeitig Hilflosigkeit und Hoffnung spüren. "259 Sprünge" jedenfalls pendelt sich ein zwischen lyrischer Hoffnung und melancholischer Resignation und zeigt: Es lohnt sich zu kämpfen.


ANMERKUNG:
Die Lesung und Diskussion fand am 10. November 2017 im Alois-Wagner-Saal des C3 - Centrum für Internationale Entwicklung - statt. Organisiert wurde die Veranstaltung von der Frauen*solidarität in Kooperation mit Buch Wien und PEN-Club.


LESETIPP:
Kozameh, Alicia (2017): 259 Sprünge (Salto Immortale inbegriffen). Wien: Löcker Verlag. Zahlreiche Bücher von Alicia Kozameh befinden sich im Bestand der Frauen*solidarität in der C3-Bibliothek für Entwicklungspolitik. Viele davon in ihrer spanischen Originalfassung.
http://www.centrum3.at/bibliothek/home/


HÖRTIPP:
Das Interview mit Alicia Kozameh wurde am 7. November 2017 im Rahmen der Sendereihe Globale Dialoge der Women on Air auf Radio Orange 94.0 ausgestrahlt. Jederzeit nachhörbar unter www.noso.at


ZUR AUTORIN:
Sophie König studiert im Master-Studiengang Gender Studies und ist Praktikantin bei der Frauen*solidarität.

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Quelle:
frauen*solidarität Nr. 143, 1/2018, S. 34-35
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - feministisch-entwicklungspolitische
Informations- und Bildungsarbeit,
Sensengasse 3, A-1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Mai 2018

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