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BUCHTIP/1092: Machtmißbrauch im chinesischen Justizsystem (ai journal)


amnesty journal 12/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Kurzer Prozess
Das Buch "Rote Staatsanwältin" liefert eine seltene Innenansicht über Korruption und Machtmissbrauch im chinesischen Justizsystem.

Von Franz M. Wagner


So weltoffen und aufgeklärt sich die Volksrepublik China gerade vor den Olympischen Spielen im kommenden Sommer zu geben versucht, so selten gewährt uns das Land bis heute einen Blick hinter seine potemkinschen Fassaden. Das Buch von Xiao Rundcrantz ist daher ein Glücksfall: Es lässt uns in die Eingeweide des Leviathans - des chinesischen Justizapparats - schauen.

In ärmlichen Verhältnissen in der südchinesischen Provinz Hunan - Maos Heimatregion - aufgewachsen, scheitert Xiao Rundcrantz trotz guter Noten an der Aufnahmeprüfung für die Universität, darf aber 1984 ein Ausbildungsprogramm für angehende Staatsanwälte belegen. Das zu Beginn der Kulturrevolution 1966 aufgelöste Gerichtswesen wurde erst 1978 wieder neu geschaffen. Die meisten ihrer Vorgesetzten und Kollegen sind daher Quereinsteiger ohne jegliche juristische Ausbildung. Ihre Hauptqualifikation besteht in ideologischer Zuverlässigkeit. Das Provinznest, in das die junge Frau zunächst geschickt wird, verfügt lediglich über einen Rechtsanwalt.

Die Autorin schildert ihre ersten Fälle. Dabei führt sie uns plastisch vor Augen, wie ihr Berufsalltag von Kadavergehorsam und einem Kasernenhofton geprägt war - denn Staatsanwälte in China sind paramilitärisch organisiert. Auch der penetrante Machismo der überwiegend männlichen Kollegen und Vorgesetzten, den sie und zwei weitere angehende Staatsanwältinnen täglich über sich ergehen lassen müssen, zieht sich durch das ganze Buch.

Es beginnt mit einem eindringlichen Prolog, in dem die letzten Minuten eines Mannes vor seiner Hinrichtung wiedergegeben werden. Er hatte seine Ehefrau vergiftet und durfte kurz vor der öffentlichen Exekution seine beiden Kinder noch einmal in die Arme schließen. Um sie davor zu bewahren, Vollwaisen zu werden, hatte Rundcrantz dem Angeklagten bei der Vernehmung in Aussicht gestellt, ihn vor der Todesstrafe zu bewahren, sollte er die Tat gestehen - getreu dem Grundsatz "Milde für den, der gesteht, Strenge für den, der leugnet". Dieses Plakat hängt in jeder chinesischen Verhörstube. ihr Versprechen konnte sie aber nicht einlösen: Die Richter verurteilten den Mann trotz seines Geständnisses zum Tode.

Dies war nicht die einzige Zäsur, die Rundcrantz an ihrer Arbeit zweifeln ließ. Vielmehr nimmt der Leser an einem schleichenden Prozess der Entfremdung teil, ausgelöst durch die vielen Fälle von Willkür, Machtmissbrauch und drakonischen Strafen, die in den einzelnen Kapiteln lebendig und detailgetreu erzählt werden. Nach einem berufsbegleitenden Fernstudium wird die junge Beamtin in die Provinzhauptstadt Changsha versetzt. Sie verschweigt nicht, dass ihr die Denunziation einer Kollegin wegen einer geringfügigen Verfehlung möglicherweise den entscheidenden Vorteil verschaffte. In ihrer neuen Arbeitsstelle hat sie es vornehmlich mit Wirtschaftskriminalität zu tun, die mit der wirtschaftlichen Öffnung und Entwicklung Chinas endemische Züge angenommen hat. Veruntreuung, Bestechung und Korruption sind jedoch nicht nur Gegenstand ihrer Ermittlungen. Sie werden auch dafür verwendet, Richter und Staatsanwälte zu kaufen.

Verteidiger sind in den Gerichtsverhandlungen hingegen reine Staffage. Wenn es zum Prozess kommt, steht das Urteil in der Regel längst fest. Andernfalls würde das Gericht einen Gesichtsverlust erleiden. Rechtsanwälte können bestenfalls ein milderes Strafmaß erwirken. Im schlimmsten Fall überbringen sie dem jeweiligen Richter lediglich die Schmiergeldzahlungen ihrer Mandanten.

Die Ausführungen decken sich mit den Aussagen eines pensionierten chinesischen Staatsanwalts. Hinter vorgehaltener Hand berichtete dieser, dass es in seiner Behörde eine interne "Gebührenordnung" gab. In dieser war minutiös aufgeführt, wie viel ein Angeklagter für einen bestimmten Straftatbestand berappen musste, um freigesprochen zu werden. je schwerer das Verbrechen, desto höher fiel die Bestechungssumme aus.

Politische Fälle tauchen im Arbeitsalltag der Staatsanwältin nur selten auf. Der Einfluss der Politik auf die Justiz wird aber anhand zahlreicher Beispiele deutlich. So benötigen die Behörden nach dem Selbstmord einer jungen Studentin dringend einen Sündenbock, um Studentendemonstrationen kurz vor einem jahrestag des Massakers vom 4. Juni zu verhindern. Man wird schnell fündig: Die Studentin war dabei erwischt worden, wie sie im Schlafsaal eines Kommilitonen übernachtet hatte. Obwohl beide angezogen in getrennten Betten die Nacht verbracht hatten, verurteilte das Gericht den Studenten wegen "unsittlichen Verhaltens" zu sechs Jahren Haft.

Zunehmend angewidert von ihrem Beruf und der Kluft zwischen den Politparolen und der Realität, lernt Rundcrantz nach der Trennung von ihrem Mann einen deutschen Geschäftsmann kennen, der sie dazu bringt, vieles mit anderen Augen zu sehen. Die Liebesbeziehung wird durch seinen Unfalltod jäh beendet - innerlich hat sie aber mit dem System, dessen tragende Säule sie 14 Jahre lang war, längst abgeschlossen. Obwohl Staatsanwälte in China keine privaten Kontakte zu Ausländern pflegen dürfen, lernt sie im Internet einen Schweden kennen, der sie besucht und dem sie schließlich in seine Heimat folgt. Als sie am 17. November 1998 in Stockholm landet, ruft sie ihre Freundin an, um ihr zu sagen: "Du kannst meine Kündigung bei der Staatsanwaltschaft einreichen."

Trotz des unnötig reißerischen Titels, einigen Schnitzern in der Übersetzung sowie einer übermäßig idealisierten Vorstellung von den Unterschieden zwischen Chinesen und Ausländern gegen Ende des Buches ist es eine überaus lohnende und interessante Lektüre für alle, die sich für China im Allgemeinen und dessen Justizwesen im Besonderen interessieren. Den Teilnehmern am deutsch-chinesischen Rechtsdialog sei es ausdrücklich empfohlen.

Der Autor ist freier Journalist.


XIAO RUNDCRANTZ
"Rote Staatsanwältin.
Meine Entscheidung gegen Korruption und Machtmissbrauch in China"
Aus dem Schwedischen von Jürgen Vater
Herder Verlag, Freiburg 2007, 352 S., 19,90 Euro


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2007, S. 34-35
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2008