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SF-JOURNAL/018: Autorinnen... James Tiptree, Jr. ist Alice Sheldon (SB)


James Tiptree, Jr., (1915 - 1987)


[...] unsere Bekanntschaft bereitet mir Vergnügen und tut meiner Seele wohl. Er ist ein eher schmächtiger, zartgliedriger Mensch von etwa sechzig Jahren, mit zurückhaltendem, höflichem Benehmen; er trägt einen Strohhut; [...] Das einzige, das Tiptrees Briefe übertrifft, sind seine Geschichten. Er ist ein Mensch, dessen Freundschaft eine Ehre und eine Freude bedeutet.

Aber das Wundervollste an ihm ist, daß er gleichzeitig Alice Sheldon ist."
(aus dem Vorwort von Ursula K. Le Guin zu: James Tiptree Jr.: Sternenlieder eines alten Primaten, 1978 by James Tiptree, Jr., 1987 München, S. 8)


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Persönliche Daten und Werke

Der Lebenslauf ist schnell erzählt: James Tiptree, Jr. wurde 1915 als Alice Sheldon in Chicago geboren. Ihre Kindheit erlebte sie an den exotischsten Orten in Asien und Afrika, die sie auch später immer wieder aufsuchte. Sie studierte an den Universitäten von Berkeley und Washington, stand im Dienste der Armee, der Regierung (für die CIA und als College-Lehrerin) und der Universität, wo sie als Psychologin den Doktorgrad erworben hatte. Sie lebte unscheinbar und galt als introvertierter Mensch, dabei aktiv und stilvoll.

Gleich nach ihrer ersten Veröffentlichung 1968 (die Story "Birth of a Salesman" im Magazin "Analog") fand sie große Beachtung, denn ihr Schreibstil brachte mit seinem wahnwitzigen Tempo und der poppigen, freizügigen Ausdrucksweise erfrischenden, neuen Wind in das Genre. 1973 bis 1976 gewann sie für ihre hervorragenden Kurzgeschichten dreimal den Nebula Award und 1974 und 1977 zweimal den Hugo Gernsback Award. Damit galt sie neben Ursula K. Le Guin als die am häufigsten ausgezeichnete SF-Autorin überhaupt. Bis 1977 war sie zu einer Art Kultfigur, zu einer Person geworden, um deren Namen sich viele Vermutungen rankten, denn niemand hatte sie je gesehen. Ihre Preise wurden von anderen Personen abgeholt, und als Anschrift gab sie (Freunde meinten: mit hintergründigem Lächeln) eine neutrale Postfachnummer in McLean, Virginia, an. Sie führte keine Telefongespräche mit Herausgebern oder anderen Schriftstellern. Wilde Gerüchte entstanden, was ihren Bekanntheitsgrad nur noch hob. Man mutmaßte zum Beispiel sogar, sie sei ein Regierungsbeamter im Pentagon. Es wäre den meisten Fans völlig absurd vorgekommen, hätte man ihnen erklärt, daß sich hinter dem männlichen Pseudonym eine ältere Lady verbarg, zumal aufgrund der Sprache von einem jungen, aufsehenerregenden, männlichen Nachwuchstalent ausgegangen wurde. Ihren Geschichten wurde etwas unverkennbar Maskulines nachgesagt: "Auch wurde gemutmaßt, Tiptree sei eine Frau. Diese Theorie finde ich absurd; denn Tiptrees Geschichten haben für mich etwas unverkennbar Maskulines." (aus dem Vorwort von Robert Silverberg: Wer, was ist Tiptree? in: James Tiptree, Jr.: Warme Welten und andere, Science Fiction Erzählungen, 1975 by James Tiptree, Jr., 1981, München, S. 10)

1977 lüftet sie ihr Geheimnis. Es stellt sich heraus, daß sich die nette, ältere Lady Alice Sheldon, von Beruf Psychologin, zum persönlichen Spaß im Schreiben von Science Fiction versucht hatte und auch unter dem Pseudonym Racoona Sheldon schrieb. Die Szene war geschockt, denn ihre Stories waren die modernsten und lebendigsten, sehr direkt und mit großem Geschick für die Irreführung des Lesers. Man hatte sie sogar für den einzigen männlichen Autor gehalten, der es in den 70er Jahren mit der Übermacht der Frauen in der SF aufnehmen konnte. Ihre Freundin und Schriftstellerin Ursula K. Le Guin kommentiert die öffentlichen Spekulationen mit spitzer Zunge:

Sie stellt nicht nur alle Theorien über die Frau als Schriftsteller und den Schriftsteller als Frau in Frage, sie könnte uns auch veranlassen, unsere Meinung über die Existenz des Schriftstellers schlechthin anzuzweifeln. [...] und sie verkörpert, genau wie Orlando, eine unanfechtbare Kritik an den rationalen und moralischen Irrwegen des Geschlechterkults, einfach dadurch, daß sie ist, was und wer sie ist.
(Ursula K. Le Guin, a.a.O., S. 12)

Im Mai 1987 beging Alice Sheldon, gesundheitlich stark angegriffen, Selbstmord. Es schien schon lange geplant: Zuerst erschoß sie ihren um vieles älteren, seit langem bettlägerigen Mann und dann sich selbst.

Ihre Stories sind in Anthologien herausgegeben; zu den bekanntesten gehören: "Beam us Home" (1969), "The Girl Who Was Plugged In" (1974) und "Houston, Houston, Do You Read" (1976).


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James Tiptree, Jr. zum Schreiben und zur Anonymität

Durch ihr Pseudonym und die lange durchgehaltene Anonymität hat James Tiptree, Jr. einige Vorurteile aufgebrochen:

[...] gibt es einige Einschätzungen, die wir überdenken sollten [...]: das ganze Zeug, was über einen "weiblichen Stil" geschrieben wurde, über seine Unterlegenheit bzw. Überlegenheit gegenüber dem "männlichen Stil"; über den angeblich zwangsläufig vorhandenen Unterschied zwischen den beiden.
(Ursula K. Le Guin, a.a.O., S. 10)

Alice Sheldon selbst führte ihre Trennung von Privatleben und schriftstellerischer Tätigkeit auf ihre Reaktion auf inhaltliche Vorurteile zurück: "Zu den Leuten, mit denen ich es zu tun habe, gehören viele Exemplare des vorhistorischen Menschen, für die die Entdeckung, daß ich - o Gott, SCIENCE FICTION - schreibe, jegliche Glaubwürdigkeit, die ich noch haben mag, zerstören würde." (aus der Einleitung von Wolfgang Jeschke (Hrsg.) zu James Tiptree, Jr.: Warme Welten und andere, 1975 by James Tiptree, Jr., 1981, München, S. 12)

Ihre Erzählmethode setzt einige Geschicklichkeit voraus: Zuerst schafft sie Verwirrung und entfremdet Vertrautes durch zum Beispiel undurchsichtige Motive der Handelnden, meistens Aliens, dann gestaltet sie eine Auflösung des Konflikts, die noch einiges offen läßt und sich auf jeden Fall überraschend wendet.

Streng achtet sie darauf, daß sich keine Langeweile einschleicht, ob "sich Geschwätz einschleicht, Überladung, bedeutungslose Füllsel, Falsches... keine Wiederholungen".

Alice Sheldon ist bis zuletzt unglaublich lebendig und beweglich geblieben. Das begründet sie mit ihrem eigenen Willen, auch im Alter zu wachsen, sich zu verändern und dies durch das Schreiben zu erreichen:

Wenn man die Sechzig erreicht hat, ist, denke ich mir, das Hirn zu einem Schauplatz unglaublicher Resonanzen geworden. Es ist vollgepackt mit Leben, Geschichte, Vorgängen, Mustern, halb-gesichteten Analogien zwischen unzähligen Ebenen [...] Wie, wenn man das freisetzen, wenn man das offenlegen könnte? Wenn man Ego und Status fahrenlassen, alles fahren- und fallenlassen und den Kopf in den Wind halten, mit den trüber werdenden Sinnen nach dem spüren könnte, was da draußen ist und wächst?" (aus der Einleitung von Wolfgang Jeschke
(Hrsg.) zu James Tiptree, Jr.: Warme Welten und andere, a.a.O., S. 15)


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Leseprobe

Hier ist ein für Alice Sheldons atemberaubendes Erzähltempo exemplarischer Textauszug gewählt, der an Witz, Entfremdung und für den Zeitgeist der 70er Jahre typischen poppigen Einfällen nichts zu wünschen übrig läßt: Die Story "All die schönen Ja's" (mit dem Nebula ausgezeichnet) ist die Geschichte von einem schwangeren Alien, das ein ruhiges Plätzchen zum Entbinden seiner Teufelsbrut sucht - und dabei auf die Erde gerät. Dies ist der Beginn der Story:

Der erste Fremdling, der auf der Erde landete, blieb genau zweiundsiebzig Sekunden; er war ein Televolpt: mit drei gekonnten Rückwärts-Volpten hatte er sich aus der Gegend von Lyra auf die Erde katapultiert. "Herrjemine", sagte er später. "Was für ein Chaos. Alle senden, niemand empfängt. Ich bestehe darauf, daß eine Warnung in der Ephemeris angebracht wird."

Als nächstes wurde die Erde von einer Gruppe von Xenologen von Highfeather besucht, die ein dickes Fell haben. "So etwas wie Intelligenz hat sich dort einfach nicht entwickelt", berichteten sie. "Soziale Strukturen befinden sich auf der Ebene primitiver Brutrituale mit einigen Ansätzen instabiler Gruppenbildung. Offen gesagt, der Ort lädt nicht zum Nisten ein. Ein brestiger Haufen von Säugetieren hat den Planeten mit zerbrochenen Schalen verhunzt. Interessant nur für Erforscher von Pseudo- Evolution."

Einige Zeit später kam ein obskurer Mimikant vorbei und blieb gerade lange genug, um eine Toccata für Hydraulisches Orglion zu komponieren, die als "Die Sportstags- massenrauschriten" bekannt wurde. Danach war die Erde eine Weile als Fundort modischer Originaltonaufnahmen im Schwange.

Zu der Zeit, in der unsere Geschichte spielt, waren die einzigen Fremdlinge, die sich dauerhaft dort niedergelassen hatten, eine kleine Schar evangelischer Missionare in der Nähe von Strangles Otter, Wis., und vier verrückte Feuermäuse vom Planeten Schmutzug, die in New Yorker Grund und Boden spekulierten; sie setzten darauf, daß die Luft dort bald sauerstofffrei sein würde. Und gemunkelt wurde auch von einem Etwas oder Jemand, das oder der sich im zentralsten australischen Hochland eingebuddelt habe.
(aus James Tiptree, Jr.: Warme Welten und andere, Science Fiction Erzählungen, 1975 by James Tiptree, Jr., 1981 Heyne Verlag, München, S.17)


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Autoren
- Persönliche Daten
- neue Akzente für die Science Fiction-Literatur
- Zur Schreibtechnik
- Stellungnahmen zur Science Fiction
in Interviews und Romanen
- Werke mit Auszeichnungen und Verfilmungen
- Leseproben

Erstveröffentlichung 1998

6. Januar 2007