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SF-JOURNAL/062: Bücher... Kurzgeschichte zum Thema Folter, N.Yermakov (SB)


"Weit entfernt vom Ort des Verbrechens" von Nicholas Yermakov

Kurzgeschichte zum Thema "Folter"


Seit dem Gefängnisskandal von Abu Ghraib Anfang Mai 2004 redet alle Welt über die Folter amerikanischer und britischer Soldaten an irakischen Gefangenen. Fassen wir also, gewissermaßen als Einstimmung auf das Thema, die Lage aufs Kürzeste zusammen:

Die allgemeine Empörung über die Folterung irakischer Gefangener ist vor allem ein Ablenkungsmanöver, werden die Vorfälle doch als Ausnahme von der Regel und als Störung einer ansonsten planmäßig verlaufenden Mission heruntergespielt, die tatsächlich nichts anderes ist, als die Fortsetzung des unberechtigten Angriffskrieges der USA gegen den Irak. Und es ist ja nichts Neues: Folter an Gefangenen hat seit langem ihre Vorgeschichte in Gefängnissen und Polizeiwachen nicht nur in den USA, sondern überall auf der Welt.

Zudem ist mittlerweile erwiesen, daß die meisten Folterungen im Gefängnis von Abu Ghraib unter der Regie des amerikanischen Militärgeheimdienstes stattfanden und daran auch Mitarbeiter privater Sicherheitsfirmen wie CACI International oder Private Military Contractors (PMC) beteiligt waren. Es handelt sich also nicht um einzelne, fehlgeleitete britische oder US-Soldaten, sondern hauptsächlich um versierte Folterer aus den Repressionsapparaten des südafrikanischen Apartheitsregimes und der chilenischen Militärdiktatur, die hier ihre Pflichten beim Verhör erfüllen.

Niemand spricht zur Zeit außerdem darüber, daß in allen Kriegen, die die USA seit dem Zweiten Weltkrieg geführt haben, gefoltert wurde. Zudem unterhalten die Vereinigten Staaten bekanntermaßen seit fast zweieinhalb Jahren in ihrem Militärstützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba ein Folterlager, in dem zwischen 600 und 650 Gefangene in Tierkäfigen gehalten und mißhandelt werden. Und als ob all das noch nicht genug wäre, erfreut sich die Diskussion über die Anwendung der Folter in Ausnahmefällen seit dem legendären 11. September 2001 in allen westlichen Staaten immer größerer Beliebtheit.

Wie auch immer... bei dem westlichen Konsumenten dieser Ereignisse, die ihm in abwechslungsreichen, medialen Shows dargeboten werden, tritt langsam aber sicher ein gefährlicher Gewöhnungseffekt ein: Im Fall Irak kann man beispielsweise erleben, daß sich die Praxis der teilweise mehrtägigen Gefangenentransporte - ein gut verschnürter Sack aus grobem Leinen über den Kopf gestülpt, der zwar die Identität des Betroffenen verbirgt, ihn jedoch sehr stark am Atmen hindert - mittlerweile zur Standardbehandlung von Kriegsgefangenen entwickelt hat, über die sich kaum noch jemand aufregt.

Es ist zu befürchten, das all das am Ende dazu beiträgt, daß die Unterdrückung nicht nur der Iraker noch effizienter organisiert werden wird, und daß das Quälen von Menschen schlechthin im Zeichen des Terrorkrieges eine ungeahnte Renaissance erleben wird.


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Aus diesem Anlaß also ein weiterer Beitrag zum Thema Folter; denn selbstverständlich hat auch die Science Fiction-Literatur etwas dazu zu sagen. Vorgestellt wird eine schon etwas ältere Kurzgeschichte aus dem Jahr 1979 des amerikanischen Autors russischer Abstammung namens Nicholas Yermakov. Die zehn Taschenbuchseiten lange Story trägt den Titel: "Weit entfernt vom Ort des Verbrechens" (Far Removed from the Scene of the Crime).

Der Autor setzt sich über eine politische Stellungnahme insofern hinweg, als daß er sie in seiner Geschichte nur kurz andeutet, dann jedoch gleich ans Eingemachte geht: Er schildert eine Nacht in einer Gefängniszelle, genauer gesagt eine Begegnung zwischen Folterer und Gefoltertem. Dabei verzichtet Yermakov auf die altbekannte Täter- Opfer-Psycho-Rille und verfolgt statt dessen eine ganz andere Spur.

Schauplatz des Geschehens ist die Gefängnisinsel Robben Island vor der Küste von Kapstadt. Die Hauptpersonen sind Van Owen, ein Söldner aus Kapstadt und Schwarzen-Hasser, und der Gefangene Eins Siebenundachtzig.

Sie hatten den Gefangenen bei einer SWAPO-Kundgebung festgenommen. Die South West Africa Peoples's Organization (SWAPO) war nicht wirklich eine Bedrohung, bestenfalls eine kleine Störung, so dachte Van Owen darüber. Etwas, das sich die Vereinten Nationen ausgedacht hatten. Eine Handvoll aufdringlicher Ausländer. Viel Geschwätz, viel Geschrei, aber wen störte das? Nein, die UN war keine Bedrohung. Aber Männer wie Eins Siebenundachtzig, wenn sie ein bißchen mehr Grips hatten als er, waren eine sehr große Bedrohung.

Eins Siebenundachtzig wurde viele Male geschlagen. Er wurde verhört, man hatte ihn hungern lassen, gequält, mit dem Tode gedroht. Und trotz allem hatte Eins Siebenundachtzig seit seiner Festnahme kein einziges Wort gesprochen. Van Owens Aufgabe bestand nun darin, ihn zum Reden zu bringen. Denn ihn umgab ein Geheimnis.

Sein 'Name' war Eins Siebenundachtzig. Er trug diese Nummer eingestanzt auf einem Plastikarmband, das um sein Handgelenk geschweißt worden war. Aber irgend etwas stimmte hier nicht. Denn Eins Siebenundachtzig war tot. Sein Arbeitgeber hatte ihn vor kurzem erschossen. Der Mann, den sie gefaßt hatten, mußte also ein anderer sein.

Nach einem weiteren Tag der Folter an dem Gefangenen befand sich Van Owen abends allein mit dem Bewußtlosen in seiner Zelle, durchschritt den Raum, blieb neben der Pritsche stehen und blickte auf den Ohnmächtigen herab:

'Wer bist du, Kaffer?' fragte er die hingestreckte Gestalt. 'Wo kommst du her? Wer sind deine Freunde?' Er kauerte sich neben die Pritsche nieder, neben dem Ohr des schwarzen Mannes. 'Wenn du wieder zu dir kommst, werden wir miteinander reden, nur du und ich. Wir werden gute Freunde werden, Kaffer. Wir werden uns all unsere Geheimnisse erzählen.'
(S. 79)

Später wünschte er sich, diese Worte nie ausgesprochen, diese Fragen nie gestellt zu haben. Denn Antworten sollte er bekommen.

Van Owen schickte sich an, den Raum zu verlassen. Die Tür stand offen. Auf der gegenüberliegenden Seite jedoch war nicht wie gewohnt der Korridor, der zum Bürotrakt führte, vielmehr betrat von Owen erneut eine Gefängniszelle. Und auch hier fand er den Gefangenen Eins Siebenundachtzig vor. Mehrmals wechselte Van Owen den Raum und ihm begegnete doch immer wieder die gleiche Szene: Der Schwarze, auf dem Rücken auf seiner Pritsche liegend, sein Gesicht eine Symphonie der Gewalttätigkeit, ein Mundwinkel herunterhängend, so daß ein paar abgebrochene und fehlende Zähne sichtbar wurden...

Van Owen, übermüdet und überlastet, glaubte den Verstand zu verlieren, schwankte, trat wütend gegen die Pritsche und schrie: 'Wach auf, du verdammter Bastard! Wach auf!'

Und auch dieser Wunsch entwickelte sich im Laufe des Geschehens zu einem Fluch. Denn Eins Siebenundachtzig wachte auf und fing tatsächlich zum ersten Mal an zu sprechen: `Aha, wenn das nicht mein alter Freund, Mr. Van Owen ist. Wie geht es Ihnen an diesem schönen Tag?'

Nach einem drastischen Wortgefecht, bei dem Eins Siebenundachtzig seinen Peiniger bis aufs Blut reizte, kam es erneut zu Gewalttägigkeiten. Van Owen trat Eins Siebenundachtzig mehrmals voll ins Gesicht.

Schließlich gelang es Van Owen, als vermeintlicher Sieger die Zelle zu verlassen. Das Trugbild war verschwunden. Außerhalb der Zelle schien alles wie gehabt, der Flur, ein Holzstuhl, die Deckenlampe... Wie gesagt, Van Owen verließ also den verfluchten Raum und schlug die Zellentür endgültig hinter sich zu, ging den Flur entlang, aufs Büro zu, riß mit einem Ruck die Tür auf und fand sich dann abermals in der Zelle wieder.

'Warum machst du das mit mir? Was machst du mit mir, verdammt nochmal, was machst du mit mir?' Van Owen schrie und trat dem Gefangenen Eins Siebenundachtzig wieder und immer wieder in die Rippen. Der Schwarze schien jenseits aller Schmerzen zu sein. Aber nicht jenseits seines Verstandes. 'Was kann ich für dich tun?' krächzte er mit vor Spott triefender Stimme.

Am nächsten Tag fand man die Zelle leer vor. Für Eins Siebenundachtzig gab es keine Fluchtmöglichkeit, und doch ließ sich seine Abwesenheit nicht verleugnen. Auch Van Owen konnte nicht gefunden werden. Die Wächter auf Robben Island hatten ihre eigenen Vermutungen, nur sprachen sie sie nicht aus. Es wurde überhaupt nicht darüber gesprochen, kein Bericht darüber verfaßt, nichts. Der Vorfall geriet langsam aber sicher in Vergessenheit.


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Nur manchmal stößt der eine oder andere Science Fiction-Leser auf diese alte Geschichte und wird an jene spezielle Nacht in der Gefängniszelle auf Robben Island erinnert und fragt sich dann: Wo finde ich Eins Siebenundachtzig, um das von ihm zu lernen. Das wäre für den Anfang und angesichts dessen, was in naher Zukunft auf uns zukommt bzw. uns bereits erreicht hat, mehr als hilfreich. Und wer weiß, vielleicht gibt es darüber hinaus, die Seiten zu wechseln, um selbst am längerem Hebel zu sitzen, noch ganz andere, bisher ungeahnte Möglichkeiten...


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Ein weiterer Lesetip zum Thema:

Kurzgeschichte von Steven Utley: "Phönix aus der Asche" (1977) Science Fiction Stories 85, Ullstein, Hrsg. Walter Spiegel


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Angaben zum Autor:

Nicholas Yermakov, amerikanischer Autor russischer Abstammung, geboren 1951 in New York, studierte Englisch und Kommunikationswissenschaften, und arbeitete danach in verschiedensten Berufen: Journalist, Vertreter, Musiker und Fabrikarbeiter sind nur einige davon. Ende der 70er Jahre begann er SF-Stories zu veröffentlichen, und 1981 folgte sein erster Roman, "Journey from Flesh". Innerhalb eines Jahres folgten vier weitere Titel, von denen "Epiphany" (1982) der erste Band der Boomerang-Serie ist. Dann stieg er in die Battlestar-Galactica-Serie (Kampfstern Galaktika Band 6 und 7) ein, bevor er unter dem Pseudonym Simon Hawke eine weitere eigene Serie begann: "Time Wars". Als sein bislang wichtigster Roman gilt "Fall into Darkness" (1982), in dem er den Kampf um die Vorherrschaft auf der Kolonialwelt Novi'kavaz schildert, die wissenschaftlich- technisch langsam degeneriert, nachdem man keine Verbindung mehr mit der Erde hat.


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Literatur:

- The Magazine Of Fantasy & Science Fiction "Das Zeitsyndikat" 60. Folge zusammengestellt von Manfred Kluge herausgegeben von Wolfgang Jeschke, Heyne Verlag München, 1981

- Lexikon der SF Literatur (Alpers/Fuchs/Hahn/Jeschke)
Heyne 1987


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Erstveröffentlichung 2004

10. Januar 2007