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SF-JOURNAL/030: Splatterpunk - Fiction, Horror, Thrill und Crime (SB)


Geschichte der Science Fiction

Splatterpunk


Horror-SF oder: Ist Science Fiction auf den grusligsten Horror gekommen?


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"Splatterpunk"

* wieder ein neuer Trend...

* ... aus den abgegriffensten Klischees der Science Fiction

* das Grauen an sich, verletzt alle Tabus

* stammt aus dem Untergrund, ist ein Popkulturmix, exzessiv,

* vermarktet explizite Darstellungen von Sexualität und Gewalt.

Eigentlich ist "Splatterpunk" bestenfalls eine eigene kleine Richtung in der neuesten Entwicklung der Science Fiction. Die Frage ist, ob er trotz Rückbezug auf die Themen des Genres überhaupt dazugehört. Angelehnt an den "Cyberpunk" oder in Fortsetzung dessen geht es um frustrierte Großstadtjugendliche, die recht- und ziellosen Hauptfiguren der Stories, die vor dem Hintergrund eines verfallenden, futuristischen Stahl- und Steindschungels ihre komplexen Machtspiele durchprobieren. Sex-und Gewaltszenen verselbständigen sich so weit, daß man den Verdacht hegen kann, Abscheu und Ekel werden Unterhaltungswert unterstellt und haben sich als eigentlicher Verkaufshit herauskristallisiert.

Weitere Einflüsse sind in der amerikanischen Popkultur zu suchen. Splatterpunk erhebt den Anspruch, eine Literatur der Konfrontation zu sein. Er will dem Leser bewußt etwas antun, er will ihn auf schockierende, sehr direkte Weise aus seiner Selbstgefälligkeit reißen. Die Folgen sollen Wut und Verzweiflung über gesellschaftliche Verhältnisse sein.

Den schrecklichsten, den furchtbarsten Beschreibungen liegt die quälende Einsicht zugrunde, daß die Hölle auch hinter den glitzernden Fassaden des 20. Jahrhunderts flammt. So wie in uns selbst. Das Chaos in uns, den Widerspruch der menschlichen Natur aufzuzeigen, ist das Anliegen der Splatterpunks. Und vielleicht gelingt es ihnen: den Schrecken durch Schrecken zu besiegen.
(aus dem vorderen Klappentext in: Paul M. Sammon, Hrsg.: Splatterpunk 2 - "Horror extrem", Schrecken - der das Grauen besiegt, 1990 by Paul M. Sammon, 1993 by Heyne Verlag, München)

Wie das ganze dann verknüpft wird, beschreibt Paul M. Sammon, der Splatterpunk-Spezialist, in seinem Nachwort "Outlaws und Ketzer" zu einer dreibändigen Splatterpunk-Geschichtensammlung folgendermaßen. Bezeichnend für diesen neuen Trend ist übrigens, daß Sammon darauf Wert legt, eine Definition zu erstellen, "die keine sein soll":

[...] zuallererst müssen die Grenzen, innerhalb derer die Gesellschaft und der sogenannte gute Geschmack die Literatur einengen, beseitigt werden. Und zwar alle. Nun füge man eine kräftige Dosis Schock, eine Prise schmutziger Erwachsenenfilme sowie kreischende Gitarreneinlagen von den besten Heavy-Metal-Bands der Welt hinzu.

Zum Schluß werden gründliche Kenntnisse der Popkultur untergerührt. Gewürzt wird das Ganze mit extrem viel Selbstbewußtsein. Und schon kann das Beste, was es derzeit auf dem Büchermarkt gibt, serviert werden."
(aus dem Nachwort von Paul M. Sammon, Hrsg. in: Splatterpunk 2, a.a.O.)


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Autoren

1986 wurde der Begriff für diese schonungslose Form der Literatur von dem jungen Autor David J. Schow geprägt. Seitdem distanzieren sich junge Autoren von diesem Begriff (die typischsten sind übrigens Clive Barker, John Skipp, Craig Spector, David Schow, Joe R. Lansdale, George R.R. Martin), sie verfeinern jedoch ihre Werke im Sinne des Grundgedankens, eine "Literatur des Schreckens" zu erstellen. Es geht ihnen nicht um literarische Qualität oder eine wohlmeinende Absicht, "sondern einzig und allein um eine neue Ausdrucksform":

Sie sind die Abtrünnigen, die Erforscher der Grenzbereiche, die Bewohner der Abgründe. Ihre Kunst kennt keinen Kompromiß, denn mit dem inneren Auge sehen sie bittere Wahrheiten. Sie sind dunkle Magneten, die uns unweigerlich anziehen und abstoßen. Mit sämtlichen Gangarten des Ungeheuerlichen sind sie vertraut. Sie verkörpern den schwarzen Humor, sind die Komiker der Apokalypse.
(aus dem Nachwort von Paul M. Sammon, Hrsg. in: Splatterpunk 2, a.a.O.)

Ihr Outfit ist "geballte Energie", "Fantasie", "Befreiung von jeder Konvention". Das wird immer weiter auf die Spitze getrieben, es existiert sogar eine "Skala", "mit der die Menge an Blut, Hirnflüssigkeit, Schleim, Rotz, Kotze, Kacke, Pisse und sonstige Körperflüssigkeiten" gemessen wird. Splatterpunkt will mit Blut, Innereien und brutalsten Sex die elementarsten Bedürfnisse des Lesers ansprechen.


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Um einen praktischen Eindruck von dieser Art von bilderreicher Prosa mit sentimentalen und romantischen Einlagen zu vermitteln, folgt hier eine Leseprobe, die für sich selbst sprechen soll. Eine solche Szene ist übrigens Story für Story austauschbar.

In J.S. Russels "Die Stadt der Engel" wird ein Ausschnitt aus dem Leben von vier Jugendlichen in Los Angeles nach einem nuklearen Holocaust beschrieben. Es sind ihre letzten Tage, denn...

Der Doc hatte es uns gesagt, aber auch ohne ihn hätte ich gewußt, daß es mit uns den Bach runterging. Porkys Gesicht war knallrot und aufgedunsen wie ein Ballon. Von seinen Wangen und Armen hing die Haut in langen, dünnen Streifen herunter. Dazu jammerte er über seine Knie. Sie würden bei jedem Schritt knarzen. [...] Viridiana ging es nicht besser. Aus so ziemlich jeder Pore kam Schleim heraus. Aus den Pusteln im Gesicht und dem Hals tröpfelte es unentwegt. Und der große Fleck zwischen ihren Beinen schien jeden Tag zu wachsen. Und der Gestank erst! [...] Wie dem auch sei, der Doc sah auch nicht unbedingt berauschend aus. Aus seiner leeren Augenhöhle tropfte dauernd so klebriges Zeug. [...] Doch dann sprang er [Porky, Anm. d. Verf.] plötzlich den Doc an und verbiß sich in seinem Bauch. Er kriegte nur ein winziges Stückchen ab, weil wir ihn gleich fortzerrten. Der Doc nahm es ihm aber gar nicht mal so krumm. "Wir Angelinos müssen doch zusammenhalten", sagte er [...].
(Seite 108ff)

Und am nächsten Morgen, mitten im Zentrum der Stadt:

Wir bogen in die Reste einer Straße ein - vielleicht war's sogar der Sunset Boulevard -, und da sah Porky sie in einer Lache Elvis weiß was liegen. Sofort stürzte er auf sie zu, daß die Knochen knackten. Ich wollte ihn festhalten, aber Viridiana fiel mir in den Arm. So sah ich tatenlos zu, wie Porky den aufgeblähten Körper umdrehte und mit seinen schuppigen Klauen den Bauch aufriß. Es klang, als zerfetzte eine Sturmböe ein Segel. Das schwarze Fleisch bot gar keinen Widerstand, und im nächsten Augenblick wurden gurgelnde Gase freigesetzt. Ein schmutzig roter Geysir sprudelte aus dem fauligen Kadaver in die Höhe und bespritzte Porkys enthäutete Wangen. Das schien er aber gar nicht zu merken. Er schaufelte weiter wie ein Besessener brackigen Schleim aus dem Torso und wühlte in dem brüchigen Gewebe nach einem Fötus. Dann bekam er etwas kleines, rundliches zu fassen, eine verschrumpelte Niere vielleicht. Die rammte er sich in den Mund und kaute hingebungsvoll.

"Ja!" hörte ich ihn zwischendurch mit vollem Mund rufen. "Gut - hmmmm!"

Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er fing an zu würgen, aber mit einem solchen Getöse, daß man meinen konnte, ein Rohr wäre geplatzt. Unvermittelt verstummte er und sackte vornüber zusammen. Mit dem Gesicht landete er mitten auf dem Kadaver, der beim Aufprall wie ein verfaulter Kürbis platzte. Für uns stand schon fest, daß Porky mausetot war.
(Seite 112)

Und zu guter Letzt noch feinfühliger Sex unter den Folgen nuklearer Zerstörung. Übrigens bei den sonst üblichen Vergewaltigungs- und Zerstückelungsszenen mit Frauen recht unüblich:

Ich ging zu ihr hinüber und legte die Hand auf ihre Schulter. Unter der Berührung zerbröselten ein paar Knochen. Sie starrte mich erst erschrocken an, doch dann nahmen ihre Augen einen anderen Ausdruck an. Sie schien zu verstehen.

Wir zogen uns gegenseitig aus, ängstlich darum bemüht, einander möglichst wenig Haut abzureißen. Dann legten wir uns in das Bett aus den herrlichen Farben. Sie war eine tropfende Masse, und ich nehme nicht an, daß ich viel anders aussah. Sie spreizte die Beine, und ich legte mich auf sie und schlüpfte hinein. Ich glitt ein bißchen tiefer als richtig oder natürlich gewesen wäre, aber das kümmerte uns genausowenig wie die klatschenden Geräusche, die dabei entstanden. Ich hatte das Gefühl, daß es so war, wie es schon immer gewesen ist [...].
(Seite 113f, aus J. S. Russell: Die Stadt der Engel, in: Paul M. Sammon, Hrsg.: Splatterpunk 2, 1990 by Paul M. Sammon, 1993 Heyne Verlag, München)


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Dieser kurze Eindruck von dem kleinen, aber stolzen und lautstarken Extrazweig der modernsten amerikanischen Science Fiction mag reichen, um sich entscheiden zu können, ob man sich nicht lieber auf die Suche nach weiteren neuen Tendenzen in der Science Fiction macht - vielleicht unter deutschen oder afrikanischen, arabischen, ostasiatischen oder russischen Autoren und Schriftstellern aus den Balkanländern.

Wenn Splatterpunk den Leser aufrütteln soll und den Finger auf Gewalt und Unterdrückung legen will, dann gelingt ihm das sicher nicht in der Form, Extreme und Superlative dessen als Unterhaltung zu vermarkten. Aus den Inhalten werden leere Hüllen, gegen die man sich abstumpfen kann oder eben die Abwehr aufbaut, die es seinem eigenen Anliegen zufolge zu durchbrechen gilt. Zu einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Mißständen, die man sonst gern vermeidet, führt diese Form von Literatur bestimmt nicht. Splatterpunk macht sich - gemessen an seinem eigenen Anspruch - unglaubhaft, denn er spielt nur mit der Sensation und dem Erlebnis und ist deshalb nichts weiter als richtungslos. Demzufolge wird er bestenfalls noch in billigen Filmstreifen überleben, aber als Buchausgabe kaum Zukunft haben.

Erstveröffentlichung 1997

6. Januar 2007