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STUDIENKRITIK/002: Konsumwende - Nahrungsquellen und Gesundheitssicherung (SB)


Ernährungssouveränität zwischen bäuerlicher Landwirtschaft und industrieller Agrarproduktion

Der Kritische Agrarbericht 2017


Das Thema Ernährung ist in aller Munde, und das nicht nur, weil es allen gut schmeckt. Was in Europa zu früheren Zeiten eher eine Frage der ausreichenden Verfügbarkeit von Kalorien war, ist heute zu einem Sreitfeld kontroverser Meinungen und Standpunkte hinsichtlich der Qualität der Nahrungsmittel, ihrer gesundheitsförderlichen oder -schädlichen Wirkung, der Auswirkungen ihrer Herstellung auf natürliche Ressourcen als auch des Elends der Massentierhaltung oder der Ausbeutung der Menschen im Globalen Süden geworden. Stehen die Interessen der Konsumentinnen und Konsumenten meist im Vordergrund der auf prominenten Sendeplätzen, in Presse und Web geführten Debatten um die tägliche Ernährung, so geraten auch die ökologischen und ökonomischen Probleme der landwirtschaftlichen Erzeugung der Nahrungsmittel, ihrer industriellen Verarbeitung und ihrer Distribution durch große Einzelhandelsunternehmen vermehrt in den Blickpunkt einer kritischen Öffentlichkeit.

Wird der Blick über die Ladentheke und das Supermarktregal hinaus auf die Arbeit der Produzentinnen und Produzenten gerichtet, dann sieht man das gut sortierte und sauber verpackte Angebot mit anderen Augen. Wer feststellt, daß das bäuerliche Leben in der neoliberalen Marktwirtschaft von monopolistischen Konzerninteressen, einer an der Förderung agrarindustrieller Strukturen festhaltenden Politik, einem globalisierten Lebensmittelmarkt und der rasant vonstattengehenden Privatisierung früherer Gemeingüter betroffen ist, läuft Gefahr, das ansonsten um persönliche Befindlichkeiten kreisende Thema zu politisieren. So stößt man schnell darauf, daß es für Menschen, die ihren Lebensunterhalt auf dem Feld und im Stall, in der Nahrungsmittelindustrie oder Gastronomie bestreiten, viele gute Gründe gibt, sich nicht allein der Deutungsmacht der zuständigen Ministerien auf Bundes- und Länderebene, der traditionellen Berufsverbände, der Agrarindustrie oder der Medien zu überantworten.

Seit den 1980er Jahren haben sich diverse zivilgesellschaftliche Akteure im AgrarBündnis zusammengeschlossen. Ihm gehören heute nach eigenen Angaben 24 unabhängige Organisationen aus Landwirtschaft, Umwelt-, Natur- und Tierschutz sowie Verbraucher- und Entwicklungspolitik mit mehr als eine Million Einzelmitgliedern an. Unter ihnen befinden sich Bäuerinnen und Bauern, die sich von den traditionellen berufsständischen Organisationen wie dem Deutschen Bauernverband (DBV) nicht mehr vertreten fühlen und in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) wie anderen Agrarinitiativen für eine sozial- und umweltverträgliche Landwirtschaft streiten, Aktivistinnen und Aktivisten des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), der mit über einer halben Million Mitgliedern einflußreichen Naturschutzorganisation, und des nicht minder öffentlichkeitswirksamen Deutschen Tierschutzbundes, um nur drei der bekanntesten Organisationen zu nennen.

Seit 1993 präsentiert das AgrarBündnis auf der alljährlich im Januar stattfindenden Internationalen Grünen Messe in Berlin den Kritischen Agrarbericht. In ihm wird der jeweilige Stand der gesellschaftlichen Debatte um die Ernährung aus Sicht derjenigen Menschen abgebildet, die sich mit den zerstörerischen Folgen einer vor allem an wirtschaftlichem Erfolg und technischer Effizienz orientierten Nahrungsmittelproduktion nicht abfinden wollen. Die rund 50 Beiträge lassen meist hohe Sachkompetenz erkennen, ohne sich einer Fachsprache zu bedienen, die den Kreis des Publikums auf die Kolleginnen und Kollegen in Forschung und Lehre begrenzte. Was die Lektüre des Kritischen AgrarBerichtes um so interessanter macht, ist das persönliche Eintreten vieler Autorinnen und Autoren für eine Agrarwende, die weg von der agrarindustriellen, gentechnisch und tiermedizinisch manipulierten sowie ertragstechnisch durchrationalisierten Hochleistungsproduktion und hin zu einer natürliche Ressourcen schonenden, das Eigeninteresse der Tiere zumindest in einem gewissen Ausmaß respektierenden und bäuerliche Existenzformen sichernden Landwirtschaft führt.

Bei aller Heterogenität der Verfasserinnen und Verfasser durchzieht der Wunsch, diesen zentralen Bereich menschlicher Reproduktion nicht vollständig dem Warencharakter der Nahrungsmittelproduktion zu unterwerfen, den Kritischen Agrarbericht wie ein roter Faden. Der Ernährung etwas anderes abzugewinnen als den Zweck einer Kapitalverwertung, der ihr Gegenstand prinzipiell gleichgültig ist, führt denn auch zu Fragen, denen sich Nahrungsmittelindustrie und die Einzelhandelskonzerne bestenfalls stellen, wenn sie dazu genötigt werden. So wird immer wieder auf die Externalisierung der ökologischen und sozialen Kosten in der industriellen Landwirtschaft hingewiesen, läßt sich daran doch leicht vorrechnen, daß die angesichts des Durchschnittseinkommens in der Bundesrepublik immer noch erschwinglichen Nahrungsmittel nur deshalb so billig sein können, weil ihr Preis bei weitem nicht den ganzen Aufwand reflektiert, der bei ihrer Erzeugung anfällt. Vor allem jedoch entzündet sich die Kritik an einer exportorientierten Leistungs- und Wachstumsdoktrin, die nicht nur zu Einbußen an Lebensmittelqualität, Sortenvielfalt, Biodiversität und intakter Natur führt, sondern auch die primären Erzeuger unter immensen Preisdruck setzt und den stark ortsbezogenen und subsistenzorientierten Charakter der bäuerlichen Lebensweise zerstört.


Ohne sauberes Süßwasser bleibt der Teller leer

Im vorliegenden Kritischen Agrarbericht 2017 wird mit dem diesjährigen Schwerpunktthema Wasser auf einen aktuellen Anlaß Bezug genommen. Die EU-Kommission hat im November 2016 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik wegen Verstoßes gegen die Nitratrichtlinie eröffnet. Sie bemängelt, daß die Bundesregierung nicht entschieden genug gegen die hohe Nitratbelastung des Grundwassers vorgeht, indem sie etwa die seit längerem ausstehende Novellierung der Düngemittelverordnung verschleppt. Doch wird das Problem auch über die Grenzen Deutschlands und der EU hinaus beleuchtet, sind doch die sozialen und ökologischen Verhältnisse im Zeitalter des globalisierten Kapitalismus über die Kontinente weg stärker miteinander verschränkt als jemals zuvor in einer menschheitsgeschichtlichen Epoche.

Nur 3 Prozent des auf der Erde vorhandenen Wassers hat einen so geringen Gehalt an Salzen, daß es als Süßwasser gilt. Davon wiederum ist der größte Teil in Eiskappen und Gletschern gebunden. Lediglich 0,3 Prozent dieses Süßwassers befindet sich in Oberflächengewässern, während das unter der Erde als Grundwasser gelagerte Drittel des vorhandenen Süßwassers nicht ohne weiteres verfügbar ist. 70 Prozent des nutzbaren Süßwassers werden für die weltweite Landwirtschaft beansprucht, und das vor allem zur künstlichen Bewässerung agrarisch genutzter Felder.

Dies ist bei der agrarindustriellen Wirtschaftsweise unabdinglich, denn Getreide und Feldfrüchte wie Leguminosen stellen für das Gros der Menschen im Globalen Süden die mit Abstand wichtigste Nahrungsquelle dar. Wessen Leben in erster Linie von der Verfügbarkeit dieser Nahrungsquellen abhängt, steht in direkter Konkurrenz zur Nutzung kohlehydratreicher Kulturpflanzen für andere Zwecke. 2016 wurden 43 Prozent der Weltgetreideernte direkt für die menschliche Ernährung verfügbar gemacht, 36 Prozent wurden als Tierfutter genutzt, und 21 Prozent wurden für die Destillation von Treibstoffen, als Rohstoff für andere industrielle Zwecke oder die Herstellung von Stärke für alkoholische Getränke verbraucht.

Während die Bevölkerungen vieler Länder des Globalen Südens bereits unter akutem Mangel an trinkbarem Süßwasser leiden und sein Verbrauch für landwirtschaftliche Zwecke dort besonders hoch ist, wird von diesem knappen Gut noch ein wesentlicher Teil in die reichen Industriestaaten des Nordens exportiert. So stammt Wasser, das zur Produktion der in Deutschland konsumierten Lebensmittel benötigt wird, zu weniger als die Hälfte aus dem eigenen Land. Die größere Menge steckt in den Futtermitteln und den Feldfrüchten und sonstigen Lebensmitteln, die in die Bundesrepublik eingeführt werden. Doch auch für den Export von Milch- und Fleischprodukten wird Wasser verbraucht. Rund 20 Prozent der hierzulande erzeugten tierischen Nahrungsmittel werden in Ländern innerhalb und außerhalb Europas verkauft. Das führt zu so paradoxen Ergebnissen wie der Zerstörung der kleinbäuerlichen Milchproduktion in afrikanischen Staaten, obwohl Lohnarbeit dort nur einen Bruchteil so teuer ist wie in Deutschland, durch die hochproduktive Agrarwirtschaft der Bundesrepublik.

Insgesamt ist die Herstellung tierischer Lebensmittel, nimmt man den dabei erzeugten kalorischen Brennwert als Vergleichsgrundlage, immer wasseraufwendiger als die entsprechende Produktion pflanzlicher Lebensmittel. Das gilt insbesondere für Rindfleisch, für das die 20fache Menge an Wasser im Vergleich zu einer Kalorie aus Getreide oder stärkehaltigem Wurzelgemüse aufgewendet werden muß. Doch auch die weniger gravierende Wasserbilanz bei Schweinefleisch, Hühnereiern und Kuhmilch nimmt große Mengen an Süßwasser in Anspruch. Das gilt neben der Erzeugung pflanzlicher Futtermittel, die den mit Abstand größten Teil des für die Produktion tierischer Lebensmittel erforderlichen Wassers verbraucht, auch für die Verarbeitung im Schlachthof. Dort besagen die lebensmittelrechtlichen Vorschriften, daß ausschließlich Trinkwasser verwendet werden darf.

Für die Verfügbarkeit trinkbaren Grundwassers stellt insbesondere die Überdüngung der Felder mit Gülle ein Problem dar. Die in den Fäkalien aus der Tierhaltung vorhandene Stickstoffverbindung Nitrat (NO3) ist ein essentieller, zum Aufbau von Aminosäuren benötigter Pflanzennährstoff, der allerdings ins Grundwasser gelangt, wenn er im Acker nicht vollständig verstoffwechselt wird. So wird es zusehends schwieriger, in Regionen mit intensiver Tierhaltung den in der deutschen Trinkwasserverordnung vorgegebenen Nitratgrenzwert von 50 mg/l einzuhalten. Die Begrenzung des Nitratgehaltes ist für die Gesundheit des Menschen bedeutsam, weil Nitrate im Verdauungstrakt zu gesundheitsschädlichen Nitriten und Nitrosaminen umgebaut werden können. So führen die hierzulande in der intensiven Fleisch- und Milchproduktion pro Jahr verfütterten 4,5 Millionen Tonnen Sojaschrot zu großen Nährstoffüberschüssen, die auf viel zu wenig Fläche ausgebracht werden. Zum einen wird in Brasilien Wasser in großen Mengen für den Anbau der Sojapflanzen benötigt, zum andern leidet die Qualität des Trinkwassers hierzulande unter der dabei erzeugten Gülle.

Das in vielen Beiträgen des Kritischen Agrarberichts diskutierte Problem zum einen der relativen Wasserverschwendung in den weniger produktiven Landwirtschaften des Globalen Südens, die sich durch die ihnen aufoktroyierte Exportorientierung im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser abgraben, zum anderen der Übernutzung des Trinkwassers durch die industrielle Agrarwirtschaft des Nordens wird hierzulande auch deshalb kaum wahrgenommen, weil der relative Wasserreichtum dafür sorgt, daß dieser Kostenfaktor nur in geringem Maße bei den Erzeugern und damit bei der Vermarktung ihrer Produkte zu Buche schlägt. Wie prekär die Lage und wie komplex ihre Bewältigung in der Bundesrepublik dennoch ist, läßt sich in diversen Beiträgen des Kritischen Agrarberichtes studieren. So geraten in Niedersachsen mit seiner besonders intensiven Tierhaltung große Nitratmengen ins Grundwasser, die in Form von Gülle auf den Feldern als Wirtschaftsdünger ausgebracht werden. Hinzu kommen rund 1500 Biogasanlagen, die infolge der öffentlichen Förderung des Maisanbaus errichtet wurden und deren Gärreste ebenfalls den Stickstoffeintrag ins Grundwasser erhöhen. Zusammen mit dem im Anbau verwendeten Mineraldünger wird weit mehr Stickstoff pro Hektar ausgebracht, als tatsächlich zur Düngung benötigt wird.

Wie die Agraringenieurin und Geschäftsführerin der Kooperation zum vorsorgenden Trinkwasserschutz beim Oldenburgisch-Ostfriesischen Wasserverband (OOWV), Dr. Christina Aue, in ihrer Analyse des Problems erklärt, läßt sich der dauerhafte Schutz des Gemeingutes Trinkwasser, das ihr Verband noch in sehr guter Qualität bereitstellen kann, nicht nur in freiwilliger Zusammenarbeit zwischen Land- und Wasserwirtschaft gewährleisten. Dagegen spricht insbesondere der ökonomische Druck, unter dem die Erzeuger stehen, weshalb sie "eine zukunftsfähige und erfolgreiche Neuausrichtung der Kooperationen zum Grundwasserschutz durch ein verbessertes Ordnungsrecht, prüfbare Flächennachweise bei Stallneubauten, ein prüfbares, flächenbezogenes Düngemanagement und ein qualifiziertes Stoffstrommanagement" [1] vorschlägt.

Katrin Wenz und Nadja Ziebarth vom BUND [2] gehen davon aus, daß 37 Prozent der Stickstoffüberschüsse aus der intensiven Landwirtschaft in den Gewässern und damit letztlich im Meer landen. Die daraus resultierende Überdüngung zerstört die Lebensräume vieler Pflanzen und Tiere in küstennahen Gewässern der Nordsee und der gesamten Ostsee. Sie fordern daher die Überprüfung der Nutzung von Stickstoff und Phosphor auf der Basis der Einzelbetriebe in Form der sogenannten Hoftorbilanz, die schnelle Einarbeitung aller Düngemittel zur Verhinderung von Ammoniakemissionen und Nährstoffauswaschungen, die Begrenzung der maximalen Düngung auf weniger als zehn Prozent unter der Höchstertragserwartung, die Wahrung von genügend Abstand der gedüngten Flächen zu anderen Nutzungsräumen und die bundesweit einheitliche Durchsetzung der EU-Nitratrichtlinie. Zudem betonen sie, daß Festmist der Produktion von Gülle vorzuziehen ist und daß die Zahl der Tiere an die Fläche angepaßt werden muß, die zu ihrer Ernährung und der Aufnahme ihrer Fäkalien erforderlich ist.

Daß 95 Prozent aller Ammoniakemissionen in der Bundesrepublik aus der Landwirtschaft stammen und zur Bildung von gesundheitsschädlichem Feinstaub beitragen, sei hier nur am Rande erwähnt. Laut Udo Werner [3] ist das der Hauptgrund dafür, daß der Grenzwert der EU-Richtlinie über nationale Emissionshöchstmengen für bestimmte Luftschadstoffe von der Bundesrepublik regelmäßig nicht eingehalten wurde und daß die Landwirtschaft heute mit 54 Prozent einen höheren Anteil bei den Säurebildnern in der Luft als Verkehr und Industrie hat.


Multidimensionales Problemfeld Nahrungsmittelproduktion

Zu den heiß diskutierten Themen in der diesjährigen Ausgabe gehört natürlich die Milchkrise. Wer sich dafür interessiert, wie unter herrschenden Wettbewerbsbedingungen Erzeugerpreise so sehr in den Keller gehen können, daß kleine Höfe reihenweise aufgeben müssen und sich der Trend zur Intensivhaltung in großen agroindustriellen Komplexen ungebremst fortsetzt, wird hier auf eine Weise fündig, wie es keine normale Zeitung leisten kann. Während die Höfe, die Biomilch produzieren, von dem Preisverfall verschont blieben, geht die Entwicklung der biologischen Landwirtschaft trotz guter Ökobilanz und hohem Bedarf bei den Kunden nur langsam voran. Das verschafft denjenigen Akteuren Rückenwind, die den konkurrenzgetriebenen Wachstumsdruck der kapitalistischen Marktwirtschaft ungefiltert auf dem Biomarkt durchsetzen wollen. Daß dies zu qualitativen Verschlechterungen und einer Beeinträchtigung des solidarischen und selbstbestimmten Grundgedankens dieser auch von idealistischen Motiven bestimmten Form von Landwirtschaft führen kann, zeigt sich an dem Disput zwischen unternehmerischen Innovatoren und für Selbstbestimmung und Ernährungssouveränität kämpfenden Aktivistinnen und Aktivisten. "Der Ökologische Landbau hat weniger das Problem einer Ertragslücke gegenüber der konventionellen Landwirtschaft als vielmehr die Aufgabe, ein solidarisches und wertebasiertes Verständnis von Produktivität in die Praxis umzusetzen: Es geht nicht um Dezitonnen, sondern um gesund Ernährte pro Hektar gesunden Bodens" [4], hält Benny Haerlin den Verlockungen der "Innovationsfalle" entgegen.

Von besonderem Interesse für an Entwicklungspolitik interessierte Leserinnen und Leser ist der Beitrag von Francisco J. Mari zu den Auswirkungen kommerzieller Qualitäts- und Nachhaltigkeitsstandards für die Bäuerinnen und Bauern in den Ländern des Südens. Sie stehen unter dem Zwang, die Verbraucherinteressen in Europa zu bedienen, was ihnen die Einhaltung der Normen des industriellen Landwirtschaftsmodells abverlangt. "Hybridsaatgut und Agrarchemie, wie Kunstdünger und Pestizide, wandeln eine kleinbäuerliche, wenig Input bedürfende Nahrungsproduktion in die gleiche Chemieküche wie unsere Äcker und Ställe um. Hier zeigt sich die größte Schwäche des Wertschöpfungskettenansatzes: Das vermeintliche Verlangen der Verbraucherinnen und Verbraucher nach das ganze Jahr über lieferbaren, immer gleichen Nahrungsmitteln, zwingt auch arme Produzentinnen und Produzenten im Süden dazu, die Anbaumethoden des Nordens zu akzeptieren und anzuwenden." [5] Mari spricht von einer "zweiten Kolonialisierung der Nahrungsmärkte im Süden" durch das Vordringen von Supermarktketten, deren Standardvorgaben die Marktchancen armer kleinbäuerlicher Produzenten immer mehr verschlechtern.

Die Macht global agierender Saatgut- und Agrarchemie-Konzerne wird insbesondere in den Berichten zur verlängerten Zulassung von Glyphosat als auch der Bewegung gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA kritisch beleuchtet. Anja Banzhaf [6] untersucht die monopolistische Kontrolle des Saatgutes in besonderer Hinsicht auf Hybridweizen, den unter Kapitalherrschaft zu bringen auch die Bundesregierung unterstützt, und fordert ein radikales Umdenken zugunsten von Saatgut- und Ernährungssouveränität. Wie viele andere Autorinnen und Autoren erinnert sie daran, daß die Sicherstellung der Welternährung nicht in den Zentralen der Nahrungsmittel- und Agrarkonzerne erfolgt, sondern in der biologischen Vielfalt und sozialen Solidarität der kleinbäuerlichen Landwirtschaft begründet ist. Dementsprechend ist das Stellen der Eigentumsfrage zentral für die Entscheidung darüber, wer über Land, Wasser, Pflanzen und Tiere gebietet.

Das ebenfalls umfassend beleuchtete Feld des Verbrauchs sogenannten Nutzviehs gehört aufgrund der immer intensiver betriebenen Ausbeutung der Tiere durch den Menschen zu den großen Streitthemen der Zeit. Der Bericht über "Tierschutzprobleme bei der routinemäßig durchgeführten CO2-Betäubung am Schlachthof" [7], in dem Kathrin Zvonek detailliert über die wichtigste Tötungspraxis in Schlachtfabriken aufklärt, die Abhandlung über "Tierarzneimittel und Umwelt" [8], in der Engelbert Schramm, Carolin Völker und Anna Walz die Auswirkungen des Antibiotikaeinsatzes in der Tiermast auf Mensch und Natur dokumentieren, oder die Untersuchung "möglicher Ursachen für die hohe Krankheitsanfälligkeit heutiger Hochleistungskühe" [9], in der Korinna Huber ein Wort für die art- und produktionsgerechte Optimierung der Kälberaufzucht einlegt, bieten hervorragendes Anschauungsmaterial für Menschen, die sich für das Interesse nichtmenschlicher Tiere einsetzen. Ob sie das mit dem Ziel einer bloßen Minderung des Tierleides durch verbesserte Haltungsbedingungen oder der Absicht tun, jegliche Form von Tierausbeutung zu beenden, steht an dieser Stelle nicht im Vordergrund. In Anbetracht dessen, daß die meisten Adressaten des Kritischen Agrarberichtes sicherlich nicht für die radikale Beendigung jeglicher Form von Tierverwertung eintreten, zumal dann nicht, wenn sie selbst ihren Lebenserwerb als Erzeuger von Tierprodukten bestreiten, ist diese Publikation kaum ein Forum für diese Debatte. Sie kann allerdings viel dazu beitragen, sich über die Zwänge und Widersprüche eines Mensch-Natur-Stoffwechsels klarzuwerden, die den insbesondere von jungen Menschen betriebenen Kampf für die Rechte oder die Befreiung der Tiere von einer auf den bloßen Konsum entsprechender Produkte verengten Blickwinkel löst, um das ganze Ausmaß der mit menschlicher Ernährung verbundenen Probleme zu erkennen.

Dem so wünschenswerten Anliegen einer Agrarwende stehen keineswegs nur privatwirtschaftliche Profitmotive entgegen. Wenn steigender Ressourcenverbrauch, abnehmende Kapitalproduktivität, ungebremst fortschreitender Klimawandel und soziale Verelendung die globale Krisenkonkurrenz anheizen und den nationalen Wettbewerbsstaat in zusehends erbittert geführte Verteilungsschlachten werfen, steht eine Landwirtschaft, die sich hohen Wachstumsraten und schneller Kapitalverwertung verweigert, vor Rechtfertigungszwängen eigener Art. Wer sich nicht mit aller Macht als Akteur auf dem Weltmarkt behaupten und damit zum nationalen Gesamtprodukt beitragen will, handelt wesentlichen Staatszielen zuwider. Von daher wäre der Versuch, eine Kritik der politischen Ökonomie der Ernährung zu leisten, die die weltweite Aneignung von fruchtbarem Land, sauberem Wasser und vitalen Ressourcen durch deren Patentierung mit dem Menschenrecht auf Versorgung mit essentiellen Lebensmitteln konfrontiert, sicherlich ein produktiver Ansatz zum Erlangen von Ernährungssouveränität.

Sich über die Bedingungen und Konsequenzen landwirtschaftlicher Produktion, die auf diesem Feld geführten Kontroversen zwischen kleinbäuerlichen und agroindustriellen Akteuren als auch die weltweiten sozialen und ökologischen Auswirkungen der Nahrungsmittelerzeugung klar zu werden, empfiehlt sich für jeden Menschen, dem nicht gänzlich gleichgültig ist, auf wessen Kosten seine physische Existenz in einem ganz materiellen Sinne geht. Als kritisch positioniertes Kompendium, das den physiologisch und agrarisch vollzogenen Mensch-Natur-Stoffwechsel und seine gesellschaftliche Verzweigung bis in global entuferte Verwertungsstrukturen hinein auf vielfältige Weise beleuchtet, bieten die aktuelle Ausgabe des Kritischen Agrarberichtes wie frühere Versionen, auf die im Archiv [10] zugegriffen werden kann, eine Materialfülle, die außerhalb der wissenschaftlichen Forschung zumindest nicht an einem Platz verfügbar sein dürfte.


Fußnoten:

[1] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_163_168_Aue.pdf

[2] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_199_203_Wenz_Ziebhart.pdf

[3] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_63_67_Werner.pdf

[4] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_112_117_Haerlin.pdf

[5] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_89_93_Mari.pdf

[6] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_285_290_Banzhaf.pdf

[7] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_248_251_Zvonek.pdf

[8] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_243_247_Schramm_et_al.pdf

[9] http://www.kritischer-agrarbericht.de/fileadmin/Daten-KAB/KAB-2017/KAB_2017_148_152_Huber.pdf

[10] http://www.kritischer-agrarbericht.de/Kritischer-Agrarbericht.83.0.html

4. Februar 2017


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