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BERICHT/026: "Die Untoten" - Die Teilbarkeit der Welt eine kulturgeschichtliche Errungenschaft? (SB)



Klaus Theweleit über die Prozeßstruktur zivilisatorischer Entwicklung

Klaus Theweleit - Foto: © 2011 by Schattenblick

Klaus Theweleit
Foto: © 2011 by Schattenblick

Anders als Faust, der zu wissen begehrte, was die Welt im Innersten zusammenhält, treibt den Kulturtheoretiker eher die Frage nach Form und Gestalt jener Phänomene um, die elementare Schöpfungsakte zeitigen. Klaus Theweleit war auf dem Kongreß "Die Untoten" mit dem Vortrag "Der technologisierte Abspalt-Untote" vertreten. Er widmet sich seit vielen Jahren der Erforschung menschlicher Kulturentwicklung. Diese beginnt für ihn mit der eurasischen Menschheitslinie, die über Ackerbau und Haustierzucht im sogenannten Fruchtbaren Halbmond, dem Hügelland entlang der Täler von Jordan, Euphrat und Tigris, eine Entwicklungsgeschichte in Gang setzte, die schließlich über Etappen der Technifizierung der Arbeitswelten und Lebensstrukturen global entuferte. Den Auslöser für den nachhaltigen Schub von einer urtümlichen Agrarkultur zur Warenwirtschaft sieht Theweleit in der kulturtreibenden Kraft einer Sequenzierung von Segmenten, die bereits in den agrarischen Produktionsverhältnissen angelegt waren, aber nur in der eurasischen Frühmenschheit zur innovativen Entfaltung gelangten.

Die Ergebnisse seiner kulturhistorischen Arbeit liegen bereits in den beiden ersten Bänden seiner Pocahontas-Reihe vor. Stoff und Forschungsrichtung für den dritten noch unveröffentlichten Band mit dem Untertitel "Warum Cortez wirklich siegte" sind in wesentlichen Grundzügen in den Vortrag auf Kampnagel eingeflossen. Theweleits Ansatz ist dabei angelehnt an die von dem britischen Althistoriker Ian Morris aufgeworfene Frage: "Why the West Rules - for Now: The Patterns of History, and What They Reveal About the Future." Der deutsche Titel des 2010 erschienenen Werks "Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden" ist globaler gefaßt und läßt nicht auf den ersten Blick erkennen, daß Morris von der Dominanz der westlichen Staatenwelt ausgeht, deren Aufrechterhaltung jedoch in Frage stellt.

Theweleit schlägt mit seinem Deutungszusammenhang zur Erklärung der machtpolitischen Dominanz des Westens jedoch einen anderen Weg ein, indem er kolonialgeschichtliche Optimierungseffekte und die Rolle der Medien von den Anfängen der Schrift bis zur datenelektronischen Revolution in sein Erklärungsschema integriert. Vor circa 80.000 Jahren ist der Mensch heutigen Typs aus Afrika in die mesopotamischen Flußgebiete eingewandert und hat von da aus in weiteren Wanderzügen Europa besiedelt. Frühe europäische Zeugnisse des Homo sapiens sind unter anderem die Höhlenmalereien in Frankreich und Spanien, die auf 30.000 bis 40.000 v. Chr. datieren. Theweleit erkennt in dieser Bildersprache frühe Anzeichen für Segmentbildung, aber erst vor 11.000 bis 12.000 Jahren sei der Prozeß der Sequenzierung für ihn nachweisbar.

Der Referent beruft sich bei der Entwicklung seiner Theorie insbesondere auf die Arbeiten des US-Evolutionsbiologen, Physiologen und Biogeografen Jared Diamond. In populärwissenschaftlichen Büchern wie zum Beispiel dem 1997 veröffentlichten "Guns, Germs, and Steel: The Fates of Human Societies" bietet dieser eine Erklärung für die Vorherrschaft eurasischer Kulturen an, die gezielt auf rassistische Deutungsstereotypien verzichtet. Laut Diamond seien die verschiedenartigen Entwicklungspfade des Menschen, ihr Scheitern oder Erfolg im Überlebenskampf, Ausdruck der unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen in den jeweiligen Lebens- und Innovationszyklen. Primärfaktor für territoriales militärisches Hegemonialstreben seien Diamond zufolge nicht die genetische Ausstattung, sondern einzig und allein für die jeweilige Lebenswelt spezifischen geographischen wie klimatischen Vorzüge oder Behinderungen. Diese Umweltdeterminanz schlug sich etwa im Sortiment kultivierbarer Pflanzen, den Auswahlkriterien der Domestizierung von Nutz- und Lasttieren, der Verbreitung von Resistenzen gegen Infektionskrankheiten oder dem Austausch technologischer Errungenschaften nieder. Insgesamt soll der eurasische Raum günstigere Bedingungen für eine progressive Kulturentwicklung besessen haben als andere Weltregionen.

Wie Diamond geht auch Theweleit davon aus, daß die entscheidende Weichenstellung für den zivilisatorischen Fortschritt des Menschen beim Übergang von den Jäger- und Sammlerkulturen zu landwirtschaftlichen Lebens- und Organisationsformen erfolgte. Die aus dem Seßhaftwerden vormals nomadischer Menschengruppen resultierenden Kulturtechniken der Bewirtschaftung des Bodens und der Haustierhaltung hätten ihn erst dazu befähigt, die selektiven Naturprozesse im Sinne einer zivilisatorischen Nutzbarmachung für seine eigenen Überlebensinteressen verfügbar zu machen. Theweleit hat mit Blick auf die eurasische Vorrangstellung unter den menschlichen Kulturen eine Theorie der Effizienzsteigerung entworfen, wobei ihm nach eigenem Bekunden Diamonds Auslegungen zur Haustierzucht "die Augen geöffnet" hätten. Der Referent hatte sich zu Beginn seiner Forschungen vor allem mit der Frage auseinandergesetzt, welche mit dem Ackerbau und der Domestizierung der Wildtiere im besonderen erworbenen Fertigkeiten für den beispiellosen Fortschrittsdrang des eurasischen Frühmenschen verantwortlich waren.

Für den Anbau von Getreidesorten war die Auslese des Saatguts von fundamentaler Bedeutung. So mußte sich der Frühmensch mit den Herausforderungen einer neuen Überlebensform arrangieren, die zu bewältigen ihn weder sein früheres Nomadentum noch die auf Jagd basierenden Techniken weiterhalfen. Die größten Körner wildwachsender Getreidesorten wurden gesammelt und auf ihre Verwendbarkeit unter kultivierten Bedingungen getestet. Welche Art von Getreide wächst am ertragreichsten unter den Voraussetzungen künstlicher Bewässerung und spezieller Witterungsbedingungen? Die Segmentierung erfolgte dabei nicht nur nach der Größe der Körner, sondern auch nach dem Gesichtspunkt der Widerstandsfähigkeit.

An dieser menschheitsgeschichtlichen Schnittstelle setzte Theweleit zufolge ein Lernprozeß ein, der sich darauf gründete, die für eine Bewirtschaftung geeigneten Nutzpflanzen herauszusondieren wie auch jene Tiere, die er sonst erlegt und verzehrt hatte, auf ihre Domestizierbarkeit hin zu überprüfen. Der erste Vorgang in einer langen Reihe kognitiver Entscheidungen bestand demnach in der Selektion, einem Darwinschen Grundaxiom, das der Referent jedoch hinsichtlich des Menschheitsweges um einen kulturstiftenden Grundbaustein ergänzt hat. Während in der Tier- und Pflanzenwelt die natürliche Selektion im Kampf der Arten lediglich ein Begleitumstand des Überlebens ist, habe der Mensch durch seine Kulturdetermination einen Kunstprozeß eingeleitet, der die Unwillkürlichkeit selektiver Naturprozesse in einen Akt der Selbstbestimmung verwandelt habe.

Dieser durch das Segment einer gezielten Selektierung vorgenommene Eingriff - die Zähmung wildlebender Tiere, ihre Aussonderung aus ihrem natürlichen Umfeld, die Kenntnis und Nutzanwendung ihrer biologischen Eigenheiten samt ihrer Sequenzierung durch Zucht - ist für Theweleit von derart einschneidendem Charakter, daß mit der kultivierenden Umformung biologischer Merkmale bei Pflanzen und Tieren seiner Ansicht nach der erste eigenständige Schritt des eurasischen Menschen und Urahns der westlichen Zivilisation aus seiner Naturbedingtheit heraus erfolgte.

Die Haustierzüchtung beginnt mit der Segmentierung des Hundes, geht dann weiter über Schaf, Ziege und Geflügel, bis ab circa 5000 v. Chr. das Pferd hinzukommt. Auf diesen frühen Kultivierungsformen, aus dem vorhandenem Material durch Auslese und Segmentierung bestimmter Eigenschaften verfügbare Ressourcen zu schaffen, folgte in einem zweiten Schritt die fortgesetzte Zucht oder Sequenzierung zur Optimierung dieser Eigenschaften.

Die Vorgänge der Segmentierung und Sequenzierung sind für Theweleit einzigartig für unseren Kulturkreis und unterscheiden sich von allen anderen Kulturgesellschaften auf der Welt. Der Referent hebt dabei die chinesische Kultur heraus, die im Prinzip einen vergleichbaren Prozeß eingeleitet hatte und in Schiffbau und Eisenschmelze auf gleicher Höhe stand. Der technologische Fortschritt sei dann jedoch über Jahrhunderte unterbrochen und durch Ideologien des Konfuzianismus und Taoismus im Verwaltungsbeamtentum ersetzt worden, wodurch die Chinesen in erheblichen Rückstand gegenüber den europäisch-asiatischen Kulturen geraten sein sollen.

Theweleit erweitert den Evolutionsbegriff für den Menschen auf der Basis steigerbarer Ausbeutungsformen seiner Umwelt und ist in diesem Sinne ein Kulturdarwinist, der die kulturelle Determination des Menschen an die Stelle sogenannter Naturprozesse setzt. Spätestens von diesem Moment an müsse "jeder entscheidende Entwicklungsschritt der Menschheit dieses unseres Raums als ein Kunstprozeß angesehen werden, (...) verbunden mit jeweiligen Gehirnsprüngen".

Aus der agrikulturellen Produktionsform habe sich in logischer Folge und Fortführung der Segment-Sequenz-Dynamik sowohl der Schiffbau als auch die Metallschmelze entwickelt - für Theweleit die notwendigen Vorbedingungen für den entscheidenden Sprung zum griechischen Vokalalphabet und der euklidischen Geometrie.

Theweleits These, wonach die von jeweils kleineren Gruppen geleisteten Sprünge zu neuen Techniken und Technologien als Allgemeingut auf die Angehörigen dieser Kulturen übergegangen seien, geht über eine soziologische Verhaltenskodierung hinaus. Einhergehend mit dem jeweiligen Stand der Technifizierung hätten sich entsprechende körperliche als auch psychische Strukturen herausgebildet. Kultur erscheint somit als Gestalter des Menschen, der den Stoff seiner biologischen Herkunft adäquat den technologischen Erfordernissen immer komplexer werdender Gesellschaften anpaßt.

"Menschen setzen sich an die Stelle der Schöpfung, stellen Zivilisation her", so Theweleit in seinem Vortrag. Nach der Hervorbringung der Züchtungstechniken tritt in Verbindung mit der Metallschmelze der bewaffnete Mensch in Erscheinung. Das Zeitalter ab 2.500 v. Chr. wird nach der Entdeckung, aus Erzen durch Feuer Metalle herausschmelzen und legieren zu können, Bronzezeit genannt, die dann später in die Eisenzeit übergeht. Bronze, eine Legierung aus Kupfer und Zinn in verschiedenen Graduierungen, ist härter als reines Kupfer, das sich zwar hämmern läßt, aber eine weiche Beschaffenheit besitzt und daher weder zum Waffenbau noch zur Errichtung großer Statuen taugt. Die Metallschmelze hat sich über Indien vom Kaukasus her in die vorderasiatische und griechische Kultur verbreitet, wo der Bronzeguß zwischen dem 8. und 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung einen kulturellen Höhepunkt erreicht.

Dennoch sind heute nur wenige griechische Götter- und Bronzefiguren erhalten geblieben, denn die einzelnen Metalle in der Bronze lassen sich wieder einschmelzen. Die seit dem Hellenismus im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im Mittelmeerraum als Handels- und Kulturwaren vertriebenen Bronze-Artefakte wurden in späteren Jahrhunderten von Piraten oder kriegführenden Nationen überwiegend zu Kanonenrohren eingeschmolzen. So blieben zumeist aus Stein gehauene Skulpturen und Statuen aus römischer Zeit bis heute erhalten. Ein paar Bronzeskulpturen konnten bei Ausgrabungen oder am Meeresgrund gefunden werden.

Die Griechen waren wahre Meister im Bronze-Hohlguß. Die Götterfigur des Helios, bekannt als der Koloß von Rhodos, war über 30 Meter hoch und benötigte eine Bauzeit von neun Jahren. Auch die Streitwagenkultur, die in der ägyptischen Hochkultur und im Persischen Reich die Kriegführung prägte, wäre ohne den Bronzeguß nicht denkbar gewesen. Theweleit machte darauf aufmerksam, daß das Rad in den anderen Kulturen nicht erfunden wurde. Zwar wurden bei den Azteken Räder an Kinderspielzeug gefunden, aber dies war ungeeignet zum Transportieren von Baumaterialien, da die tragende Achse hätte gegossen werden müssen. Weder in den eingeborenen Kulturen Afrikas, Nord- und Südamerikas oder Europas waren die Gußtechniken bekannt. Wiege dieser Metallkunst war der eurasische Raum. Von den Reitervölkern Zentralasiens stammt die Eisengewinnung und der eiserne Steigbügel, der ein Kämpfen auf dem Pferderücken erst ermöglichte und das Ende der bronzezeitliche Kriegführung einleitete.

Theweleit hob ferner hervor, daß die eurasische Kultur die ersten hochseetüchtigen Schiffe mit Segeln erfunden habe, die das Mittelmeer überqueren konnten. Die indianischen Kulturen Amerikas hingegen konnten nicht segeln und blieben beim Rudern, was den Referenten zu dem ironischen Seitenhieb veranlaßte, daß die Azteken aus diesem Grund Madrid nicht einnehmen, wohl aber die Spanier das Aztekenreich niederwerfen konnten. Das Kreuzen des Windes sei Theweleit zufolge ein Denkprozeß. "Das Segel ist nichts anders als ein Gerät, das den Wind segmentiert. Es schneidet Segmente aus dem Wind." Beim Kreuzen ändere man "dauernd die Richtung der Segmente und bewegt sich durch das Segmentausschneiden und dann das Sequenzieren fort."

Einen besonderen Stellenwert hat für Theweleit, anders als die meisten Archäologen wie auch Morris, "die nicht medial denken", die Erfindung des Alphabets. Zwar werde archäologisch die Feststellung getroffen, daß die Griechen im 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung das phonetische Alphabet übernehmen, aber das sei nur zur Hälfte "richtig", zur Hälfte aber auch "total falsch." Der Referent hebt statt dessen "die Segmentierung und Festlegung der fünf Vokale" hervor. Dieser eminente Fortschritt sei in keiner anderen Sprache vorher gemacht worden, weder in den semitischen Schriften noch in den Keilschriften der anderen Kulturen, die als Konsonantenschrift Piktogramme oder Hieroglyphen benutzten. "Dieser Schritt mit den Vokalen macht Sprache aufschreibbar, und zwar jede." Die epochemachende Wirkung zeige sich auch darin, daß "in der Sequenzierung dieser Buchstaben die ganze Welt, die man hören kann", in eine Schriftform überführt werden konnte. Das gelte auch für die Welt der Gedanken. "Vorher konnten Leute nur die eigene Muttersprache geschrieben lesen, eine andere nicht."

Durch diese Erfindung der Griechen entstanden Homers Elias und Odyssee wie auch Hesiods Theogonie als Niederschriften, in denen die Verwandtschaften der vordem über die Mittelmeerküsten verstreuten Götter in einem Pantheon festgelegt wurden. "Die Götter sind geschriebene Götter, die tatsächliche Zeit der Gottgläubigkeit, der totalen, magischen ist damit längst vorbei", unterstrich Theweleit den kulturhistorischen Wandel. Die Eurasier "werden Techniker der Religion" und hätten auch in diesem Sinne einen innovativen Schritt getan in Richtung kultureller Überlegenheit gegenüber allen anderen mehr oder minder archaischen Kulturformen. "Das Alphabet wird dann zum Vorbild der ganzen griechischen Zahlenkultur mit Einarbeitung der arabischen. Die Linienführung, die Geometrisierung des Raums, Astronomie, Navigation sind sämtlich Folgen dieser Segment-Sequenz-Schritte."

Nirgendwo anders in der Welt sei diese Perspektive entwickelt worden, betonte Theweleit. Die Errungenschaften des eurasischen Raums werden erst später im Mitteleuropa der Renaissance zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert aufgegriffen und weitergeführt "in der Entwicklung der Zentralperspektive, die der Vorlauf zur Kolonialisierung der Welt ist". Wesentlichen Anteil daran hätten die Kartenzeichner bis ins 18. Jahrhundert gehabt, die "den Raum mathematisieren. Es ist die Aufteilung des Raums in Linien und Quadrate. Der Erdball wird in kleine Segmente, in Quadrate aufgeteilt." Mit der Erfindung des Chronometers ließen sich dann zu den vorher bekannten Breitengraden die Längengrade berechnen. "Der Globus wird in Koordinaten aufgeteilt. Ist dann also segmentiert, und die Schiffahrt sequenziert sich von einem dieser Planquadrate ins andere und kommt auf diese Weise in Amerika an."

Der Prozeß des Segmentierens setzte sich als technischer Zentralvorgang der eurasischen Kultur ungebrochen und innovativ fort bis in die kleinsten Abspaltungen der unendlich verknüpfbaren 1-0-Sequenzierung der digitalisierten und nanotechnologischen Entwicklungsschritte. Für Theweleit sind die modernen Menschen in der vorherrschenden Charakterstruktur "Funktionalitäten solcher Aufspaltung". Die ins Unüberschaubare gesteigerte gesellschaftliche Segmentierung hat das Subjekt ebenfalls verändert. Sein Alltag setzt sich mithin zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus zusammen, die Spaltungen auszubalancieren und, je nach Lage und Erfordernis, von einem Zustand auf den anderen umzuschalten.

Von den Segmentierungsvorgängen unmittelbar betroffen ist die auf die Arbeitswelten zugerichtete Physis, ihre muskuläre Konstitution und koordinierte Bewegungsmechanik. Für Theweleit unterliegt auch der soziale Körper fortgesetzten Abspaltungen, einerseits durch den kompensatorischen Konsum der Dienstleistungsangebote wie Theater, Golfplatz, Kneipen, Clubs, Stadien, Bordelle, Kaufhäuser und Saunen als auch andererseits durch die Hinwendung zu metaphysischen Orten, als die er Kirchen ausweist. Diesen wird von einer Kulturindustrie, die das menschliche am Menschen zum perfekten Konsumobjekt aufbereitet und es in seiner haltlosen Unverbindlichkeit irrealer denn je macht, zweifellos harte Konkurrenz gemacht.

Die Segmentierung der verschiedenen Körperwelten greift auch in anthropologischer Hinsicht auf die Frage der Selbstbestimmung über. So geht der Molekularbiologe Joachim Bauer in seinem Buch "Das Gedächtnis des Körpers - Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern" von einer permanenten Veränderbarkeit der Synapsenstruktur des Gehirns aus, die in erster Linie durch den wechselhaften Charakter menschlicher Tätigkeiten und Erfahrungen in Beruf und Beziehungsleben ausgelöst werde. Bauer kommt aufgrund seiner experimentiellen Forschung zu dem Schluß, daß Ereignisse, Erlebnisse und Lebensstile die Aktivität von Genen steuern und im Gehirn Strukturen verändern, ja daß bestimmte genetische Reaktionsmuster durch Erlebnisse und Erfahrungen eingestellt werden könnten.

Klaus Theweleit im Bühnenbild Friedhof - Foto: © 2011 by Schattenblick

Weltumspannender Griff ins Leere flüchtiger Fragmente
Foto: © 2011 by Schattenblick

Das auch unter dem Begriff der Epigenetik verhandelte Konzept einer zwischen Mensch und Umwelt unentschiedenen Bestimmung seiner biologischen Ausstattung relativiert zwar den monokausalen Vulgärmaterialismus jener Humangenetiker, die meinen, mit der Erforschung des menschlichen Genoms den Stein der Weisen gefunden und einen Universalschlüssel für das Problem menschlicher Determiniertheit in der Hand zu haben. Doch auch hier werden Instanzen postuliert, die das kausale Verständnis menschlicher Beweggründe zwar um eine Schaltstelle mehr bereichern, deren Erkenntniswert sich jedoch auf diesen Stellenwert kausaler Herleitung beschränkt.

Mit biologistischen Argumenten zu einer Letztbegründung des Humanums zu gelangen ist ebenso müßig als diese in metaphysischen Spekulationen anzusiedeln. In den Blick rückt die kausale Determiniertheit des Erkenntnisstrebens selbst, ein Vorher und Nachher zu unterstellen, das die Ordnung der Dinge begründet und ihre Verfügbarkeit ermöglicht. Im stets rückwärts gewandten, dem Binnenhorizont des Vertrauten unterworfenen Streben nach den Ursachen der manifest werdenden Phänomene verabsolutiert sich die von Theweleit verwendete Prozeßstruktur des Segmentierens und Sequenzierens, wie auch von ihm beschrieben, zu einem Teilen ohne Ende. Die von ihm als evolutiver Vorteil bewerteten Auf- und Abspaltungen sind in dem bis hinein in die kleinste, nurmehr modellhaft konstruierte Struktur des Atoms und seiner Subelemente vordringenden Erkenntnisstreben programmatisch angelegt. Die Suche nach der alles kohärent miteinander verbindenden, widerspruchsfreien Universalerklärung eröffnet Horizonte hypothetischer Art, deren mathematische Herleitung in sich schlüssig sein mag, was jedoch am Problem einer sich verselbständigenden, stets neue Gründe zur Ursache hervorbringenden Kausalstruktur nichts ändert.

Die dem Menschen aus dieser Wissenschaft erwachsene Bewältigung seiner praktischen Probleme hat bislang reproduziert, was es im Sinne einer raub- und herrschaftsfreien, niemanden zum Opfer oder Täter stigmatisierenden Lebensform auszuschließen gälte. Wie die von Theweleit geschilderten Bedingungen menschlicher Durchsetzungskraft dokumentieren, sind Ausbeutung und Unterdrückung nicht nur des Menschen, sondern auch der Tiere qualitative Merkmale einer zivilisatorischen Entwicklung, die das Wilde domestiziert, um es besser vernutzen zu können. Voraussetzung für Verfügungsformen, die Herrschaft verallgemeinern und legitimieren, ist die Vergesellschaftung des einzelnen mit Hilfe von Werten und Normen, die seine Vergleichbarkeit und Unterscheidbarkeit ermöglichen.

Die dementsprechende Produktivkraftentwicklung setzt die Teilbarkeit und Zählbarkeit des Menschen voraus. Was Theweleit als der Natur abgerungene Selbstbestimmung in zivilisatorischen Bemächtigungsstrategien ansiedelt, läßt sich ebenso als Adaption und Optimierung natürlichen Raubverhaltens ausweisen. Inwiefern der Mensch tatsächlich Subjekt dieses Dominanzstrebens ist oder nicht selbst von der Verstoffwechselung des Lebens verbrannt wird, ist keinesfalls endgültig entschieden. Die auf dem Kongreß gebotenen Beispiele für quasi anthrophage Überlebenstechniken sind nur ein Indiz dafür, daß die eindimensionale Expansion natürlicher Raubdynamik horrende Ergebnisse zeitigen kann. Selbstbestimmung in der technologischen und organisatorischen Verfügbarkeit anderer Lebenwesen zu erkennen muß die Perspektive derjenigen, die dabei versklavt und verbraucht werden, strikt negieren.

Die Gewährleistung des Überlebens vor dem Hintergrund knapper Ressourcen schafft eine Verteilungsordnung, in der Produktion und Reproduktion über die Bemessung geleisteter Arbeit und verbrauchter Güter organisiert wird. Die daraus entstehenden Probleme gegenseitig in Stellung gebrachter Raub- und Gewaltdispositive haben in ihrer utopischen Überwindung durchaus die Frage danach aufgeworfen, ob die Vergleichbarkeit der Arbeit und damit des Menschen im Rahmen einer Eigentumsordnung nicht Wurzel allen Übels ist. Zu behaupten, daß alles, was die Menschen gemeinsam hätten, ihre Unvergleichbarkeit wäre, mutet mithin so unvernünftig an wie alles, was die Logik des Überlebens zu Lasten des anderen bestreitet. Wie vernünftig es allerdings ist, die Unterwerfung des Menschen unter die abstrakte Verfügungsgewalt des Teilens und Zählens für den Endzustand der Geschichte zu erachten, müssen diejenigen entscheiden, die dies zu ihrem Credo erklärt haben.

Bildinstallation von Aya Ben Ron auf Kampnagel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Menschliche Produktivität von ihrer schönen Seite
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
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BERICHT/019: "Die Untoten" - Auf der Suche nach dem Sitz des Bösen (SB)
BERICHT/020: "Die Untoten" - Verschleißwelten unvollständiger Autonomie (SB)
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BERICHT/022: "Die Untoten" - "Nollywood" - Nigerias populärkulturelle Filmproduktion (SB)
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BERICHT/024: "Die Untoten" - Aus den Gräbern ein Spiegelbild menschlicher Obsession (SB)
BERICHT/025: "Die Untoten" - Im Anatomischen Theater auf der Suche nach dem Leben (SB)
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INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)
INTERVIEW/005: "Die Untoten" - Sander L. Gilman zu Fragen der kosmetischen Chirurgie (SB)
INTERVIEW/006: "Die Untoten" - Georg Fülberth, Politikwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/007: "Die Untoten" - Sandy Stone, Performancekünstlerin und Wissenschaftlerin (SB)
INTERVIEW/008: "Die Untoten" - Hans Werner Ingensiep, Philosoph und Biologe (SB)
INTERVIEW/009: "Die Untoten" - Dorothee Wenner, Journalistin und Filmemacherin (SB)
INTERVIEW/010: "Die Untoten" - Karin Harrasser, wissenschaftliche Leitung des Kongresses (SB)

24. Juni 2011