Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → REPORT

INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)


"Was ist das für ein Grauen?"

Interview mit Roberto Rotondo am 13. Mai 2011 in Hamburg

Roberto Rotondo im Interview - Foto: © 2011 by Schattenblick

Roberto Rotondo im Interview
Foto: © 2011 by Schattenblick

Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und im Erstberuf Krankenpfleger, ist seit 1996 im Gesundheits- und Rettungsbereich freiberuflich aktiv. Zum einen bietet er Supervision, Teamberatung und Krisenintervention an; zum anderen ist er als Dozent in der beruflichen Aus- und Weiterbildung tätig, wobei die Themenschwerpunkte seiner Arbeit Kommunikation und Gesprächsführung, Persönlichkeits- und Organisationsentwicklung, Konfliktmanagement, Streßbewältigung und -prophylaxe und vieles mehr umfassen und brisante Fragestellungen wie Suizid, Tod, Sterben, Sterbehilfe und Gewalt nicht ausklammern.

Auf dem Workshop "Die Untoten" widmete sich Roberto Rotondo in seinem Vortrag "Wie tot ist hirntot?" [1] seinem Spezialgebiet, der Transplantationsmedizin. Als Sachverständiger war er 1995 und 1996 vor den Gesundheitsausschuß des Bundestages geladen, seit 1998 berät er Angehörige von Organspendern und -empfängern. Im Anschluß an den Vortrag erklärte er sich bereit, dem Schattenblick einige anschließende Fragen zu beantworten.


Schattenblick (SB): Herr Rotondo, Sie haben soeben in Ihrem Vortrag sehr eindringlich geschildert, was geschieht, wenn ein Mensch ausgenommen wird. Wenn man das hört, könnte man als erstes denken: "Das ist doch Mord." Wie stellen Sie sich dazu, ungeachtet der juristischen Implikation dieses Wortes?

Roberto Rotondo (RR): Wenn man einen Hirntoten als Lebenden empfindet, so wie ich es erzählt habe, dann ist es schwer, nicht darüber nachzudenken, daß dies eine aktive Tötung darstellt. Das wurde auch 1995/96 diskutiert. Es gab verschiedene Gesetzentwürfe, beispielsweise den sogenannten SPD-Entwurf, dem auch Leute aus der CDU zugestimmt haben. Das ging durcheinander. Der CDU-Entwurf ist dann Gesetz geworden. Es gab Gegenentwürfe, in denen stand: "Es ist ein Sterbender." Wenn da nämlich steht: "Es ist ein Sterbender", dann ist die Organentnahme eine aktive Tötung. Das wurde in manchen Entwürfen auch ein bißchen so umschrieben. Die haben sich ein wenig davor gedrückt zu schreiben, daß sie bei Sterbenden für Organspenden sind. Da haben die Juristen dann auch gesagt: "Was ist das denn? Die Organentnahme ist ja dann eine aktive Tötung, und das ist nicht gedeckt durch das Grundgesetz. Das dürfen wir nicht tun, da gibt es gleich eine Verfassungsbeschwerde, das werden wir nicht durchkriegen."

SB: Sie haben auch persönliche Erfahrungen mit Transplantationen. Wie ist es Ihnen in Ihrem beruflichen Werdegang mit dieser Frage ergangen? Sie sind ja aus dem aktiven Berufsleben ausgeschieden.

RR: Ja, ich bin Psychologe. Insgesamt sechs Jahre lang habe ich als Pfleger auf einer Intensivstation gearbeitet - auch in meiner Studienzeit -, und in dem Rahmen habe ich hirntote Patienten gepflegt. Zu Anfang bin ich ganz naiv darangegangen. Hirntod war kein Thema in der Pflegeausbildung. Man macht Sterbeseminare in der Ausbildung, aber Hirntod war überhaupt kein Thema. Und wie es heute noch in vielen Schulen üblich ist, wäre es wahrscheinlich nicht kontrovers diskutiert worden mit unterschiedlichen Positionen zum Hirntod beispielsweise, um sich selbst eine Meinung zu bilden.

Dann habe ich nach der Ausbildung angefangen zu arbeiten, meine jetzige Frau kennengelernt und war neugierig auf die Intensivstation. Und da lagen halt Hirntote, und es wird einem nur gesagt: "Die sind jetzt tot." Als junger Mensch habe ich noch nicht viel darüber nachgedacht. Ich habe sie als Lebendige wahrgenommen, denn sie erscheinen genauso wie Komatöse, die beatmet werden. Es gibt gar keinen Unterschied im äußeren Erscheinungsbild, und man muß im Kopf verstehen, was einem die Ärzte sagen: "All diese Bewegungen sind nicht mehr kopfgesteuert."

SB: Ist es schwierig, dieses Empfinden zu ignorieren?

RR: Das ist sehr schwer, es geht gegen das eigene Empfinden. Aber auf einer Intensivstation ist das, glaube ich, noch leichter hinzubekommen als im OP, wie ich später in Interviews mit OP-Pflegekräften festgestellt habe. Der Vorgang auf einer Intensivstation ist so: Wenn der Hirntod festgestellt wird, dann kann es zur Organentnahme kommen. Oder es gibt eine Ablehnung, dann läßt man den Patienten sterben. Sterben gehört auf der Intensivstation nun nicht gerade zum Alltag, findet aber doch häufiger statt. Man muß schon irgendwie damit klarkommen, wenn Hirntote den - sagen wir einmal - normalen Tod sterben. Wenn die Therapie eingestellt wird, sterben sie, obwohl sie ja schon tot sind. Das ist sprachlich nicht mehr auszudrücken.

Wenn es zu einer Organentnahme kam, mußte ich diese Patienten für den Transport zurechtmachen. Sie bekamen dann eine transportable Beatmung, denn sie müssen lebendig auf den OP-Tisch kommen. Das hieß, sie wurden aus dem Krankenhaus, in dem ich arbeitete, in ein anderes verlegt. Das bedeutete, daß die Patienten, lebendig erscheinend, aus meinem Zimmer transportiert wurden, und dann war ich sie los. Da kann man noch sagen: Auch wenn man sie nicht als tot empfindet, wird dann entweder der natürliche Tod auf der Intensivstation eintreten oder sie gehen lebendig in eine andere Klinik.

Aber im OP, da muß dieser Mechanismus funktionieren, der einem auch psychisch hilft, nicht wahrzunehmen, was da eigentlich passiert, wenn man jemanden zur Transplantation, sozusagen zur Organentnahme, aus dem Zimmer schiebt zum Transport. Im OP wird das ja gemacht. Diese Leute kommen herein, werden beatmet, wirken - sinnlich gesehen - lebendig. Nur im Kopf muß man sozusagen verstehen, daß sie tot sein sollen, so sagt das Gesetz. Und dann schnallt man sie fest. Sie müssen Muskelrelaxanzien [2] bekommen, damit die sogenannten Reflexe während der OP nicht auftreten. Sie müssen wirklich genauso festgebunden werden wie normale Patienten auch und bekommen Medikamente, damit sie sich nicht bewegen. Dann wird operiert. Je nach Operationseinwilligung wird dann mehr oder weniger viel entnommen. Die Pflegekräfte haben dann am Ende der OP wirklich eine Leiche, und die sieht anders aus als vorher.

SB: Das haben Sie auch in Ihrem Vortrag eindrücklich beschrieben. Besonders überzeugend waren die Zitate von Pflegekräften, die eigentlich für die Transplantationsmedizin sind, aber dies dennoch genauso empfinden.

RR: Das macht einem natürlich zu schaffen. Das ist schon so, wenn man nur einmal darüber nachdenkt. Aber allein diesen Schritt zu machen und sich dem, was da praktisch passiert, einfach einmal zu stellen, das ist etwas, was beispielsweise auch Transplantierte nicht gerne tun. Das ist meine Erfahrung aus Vorträgen, in denen ein Tranplantierter sitzt. Die werden total sauer, das mögen sie gar nicht hören. Ich kann es irgendwo verstehen, aber ich finde, man sollte sich auch für Leute einsetzen, die dort arbeiten und daran mitarbeiten. Darauf müssen Sie einmal achten: Berichte in der Öffentlichkeit sind häufig so, daß Transplantierte oder Transplantiertenverbände ihrem Transplanteur danken. Der ist so etwas wie ein Gott in Weiß, der hat das alles gemacht. Daß daran auch noch andere Menschen beteiligt sind, die Geräte oder Skalpelle oder was auch immer anreichen und das Ganze ja auch können müssen, das ist etwas, was ich in manchen Broschüren nicht wiederfinde. Da steht dann nicht: "Wir danken auch den Pflegekräften und setzen uns dafür ein, daß sie Gelder bekommen, wenn sie beispielsweise eine Supervision machen wollen."

In meinem Studium gab es eine interessante Geschichte, die zeigt, wie es zugehen kann. Ich hörte als Student einen Vortrag von dem Leiter der Transplantationsmedizin. Er ist ein weltweit bekannter Transplanteur und hat viele Menschen transplantiert. Damals hielt er einen Vortrag, in dem er zum Schluß gesagt hat: Er danke seinen Pflegekräften, ohne die wäre er nichts. Eigentlich ganz toll, wie er das gemacht hat. Ich bin dann als Student in der Pause zu ihm gegangen und habe gesagt: "Ich habe das gehört, wie Sie gesagt haben, Sie danken den Pflegekräften. Aber ich mache Interviews mit Pflegekräften, und die haben mir erzählt, daß sie beispielsweise für Supervisionen keine Gelder bekommen." Für ein OP-Team hätte das damals so 6000 Mark gekostet, also 3000 Euro.

Eine Frau, die ich schon als Student kennengelernt hatte und deren Mann dort operiert worden war und der zwei Wochen später an einer Infektion starb, hatte 330.000 DM bezahlt, ganz legal. Der Transplanteur hat 29.000 Mark extra bekommen, was auch legal ist bei Privatpatienten. Dagegen habe ich gar nichts. Aber ich habe ihn dann gefragt: "Die Pflegekräfte brauchen nur 6.000 Mark, dann könnte man eine Supervision machen. Und Sie bekommen für einen Privatpatienten, für eine Lebertransplantation, 29.000 Mark extra. Wenn Sie Ihrem Personal so danken, müßten Sie dann nicht auch etwas abgeben? Könnte man das nicht tun?" Er hat sich umgedreht und hat mich stehen lassen. Er war eine weltweit bekannte Koryphäe, und dann kommt so ein Student daher... Es war ein bißchen naiv von mir, so etwas zu machen.

Nur eine Woche später, als ich in einem Seminar an der Uni saß, in dem Diplomarbeiten durchgesprochen wurden, kam mein Professor, der meine Arbeit betreut hat, ins Seminar und sagte: "Wir beide müssen reden". Mir wurde verboten, mit den Pflegekräften zu reden. In drei Briefen vom damaligen Vorstand der Klinik wurde mir die Erlaubnis, die ich vorher erhalten hatte, wieder entzogen. Ich durfte nicht mehr mit den Pflegekräften sprechen, obwohl überhaupt nicht klar war, was sie mir erzählen würden. Sie hätten mir auch sagen können: "Tolle Arbeit, super Arbeitsplatz, wir helfen Menschen auf der Warteliste, wir machen das hier gerne, das ist eine saubere Arbeit."

SB: Sie haben nur Fragen gestellt.

RR: Ich hatte nur eine Frage gestellt. Die Diplomarbeit und ihre Ergebnisse gab es noch gar nicht.

SB: Und später? Gibt es noch weitere Beispiele, wie Druck auf Sie ausgeübt wurde?

RR: In diesem Kreis der Organtransplantation ist das eine - das würde ich schon behaupten - übliche Sache, wenn Menschen so wie ich auftreten, die etwas erzählen, was man sonst nicht zu hören bekommt. Die sogenannten Kritiker, so wird man abfällig bezeichnet. Sie haben es in meinem Vortrag gehört: W. hatte 2008 unsere Leute, die den Hirntod anzweifeln, als "Fundamentalisten" bezeichnet. 2010 sagte er dann: "Das stimmt, das ist ganz unwissenschaftlich" - demnach wäre auch er ein "Fundamentalist" geworden.

In der Klinik war ich lange Zeit an der Pflegeschule. Auf Druck der Transplanteure darf ich dort nicht mehr arbeiten. Ich habe noch nie veröffentlicht, was da im Hintergrund wirklich gelaufen ist. Das habe ich mir auch schriftlich bestätigen lassen, was die Unterrichtskräfte erst nicht wollten. Sie hatten Angst um ihre Stellen oder daß sie Ärger in der Schule bekommen könnten. Ich hatte dort lange gearbeitet, und sie waren eigentlich dafür, daß ich dableiben kann. Aber ich arbeite ohne Verträge, und wenn man keinen Anruf mehr bekommt, dann ist man eben nicht mehr da. Die Transplanteure der Klinik - einzelne, nicht alle - haben dafür gesorgt, daß ich dort kein Geld mehr verdienen kann. - Das ist schon etwas sehr Komisches, vor allen Dingen, wenn man bedenkt, daß auch die Transplanteure wußten, was ich Jahre vorher unterrichtet hatte. Ich finde schon, daß es in einer Krankenpflegeschule möglich sein muß, die Position des Deutschen Berufsverbandes für Krankenpflege zu diskutieren und zu erklären, warum er 1995 geschrieben hat, daß Hirntote nicht tot sind.

SB: Auf diesen Berufsverband wollte ich auch noch zu sprechen kommen. Hat er weitere Schritte unternommen? Gibt es andere Aktivitäten in dieser Sache?

RR: Es gibt in Deutschland nur sehr wenige Gruppen, die dazu arbeiten. Da muß man schon ein bißchen suchen. Wenn man sich dann aber anschaut, was da im Lande so verbreitet wird... Es gibt viel Lobbyarbeit "pro Organspende". Ehrlich gesagt habe ich auch nichts dagegen. Aber ich möchte gerne, daß die Menschen dieselbe Wahl haben, die ein Transplanteur auch hat. Ich behaupte immer, daß jeder Transplanteur alle Gegenargumente der sogenannten Kritiker kennt. Er weiß, was es da an neurologischem Wissen gibt, das Menschen zum Zweifeln bringen kann. Sie entscheiden sich mit diesem ganzen Wissen für die Organspende und sagen: "Diese Menschen sind tot." Dieses Wissen müßte auch anderen Menschen vermittelt werden. Pflegeschüler beispielsweise müßten schon in der Ausbildung Positionen zu hören bekommen, die sagen: "Nein, die sind nicht tot." Dann bekommt man vielleicht zehn Positionen dazu und kann sich überlegen: Wo stehe ich da eigentlich?

SB: Ich habe gehört, daß hier auf dem Kongreß in Ihrer Veranstaltung auch Auszubildende aus dem Pflegebereich gewesen sind, die recht heftig auf das, was Sie gesagt haben, reagiert hätten. Nicht, weil sie es angezweifelt hätten, sondern weil sie quasi damit stehen gelassen wurden.

RR: Ja, es waren zwei Frauen da. Ich habe sie eben noch einmal gesucht, denn ich hatte schon direkt nach der Veranstaltung einen Interviewtermin. Man kann sich natürlich fragen, wofür ein Referent die Verantwortung zu tragen hat. Ich habe sehr häufig damit zu tun, daß es - so wie jetzt - Reaktionen gibt. Wenn Leute aus der Pflege durch irgendetwas Neues, was sie gehört haben, verunsichert sind, bekomme ich das erst einmal ab.

SB: Im Grunde stellvertretend.

RR: Das ist für mich stellvertretend, denn diese Informationen hätten sie schon längst von anderen bekommen können, die das hätten veröffentlichen können. In einer Informationsbroschüre gibt es eine Doppelseite, auf der es um die Pflege geht, da werden Sie das nicht nachlesen können, was ich gerade erzählt habe.

SB: Was würden Sie jungen Menschen raten, die in diesem Beruf in der Ausbildung stehen und mit diesem Konflikt konfrontiert sind, fast eine Lebenskrise haben und sich nun vielleicht auch grundsätzlichere Fragen stellen?

RR: Ich würde empfehlen, sich zu informieren. Gerade, wenn man nach einem solchen Vortrag diese Unsicherheit verspürt. Ich hätte das alles auch in einer Zeitschrift veröffentlichen können, was ich auch schon getan habe, andere auch. Ich habe Pflegekräfte zitiert. Es gibt ein Buch, das heißt "Ich pflege Tote" [3], in dem Pflegekräfte über ihre Arbeit geschrieben haben. Da ist eine Klinik einmal anders vorgegangen. Daran haben Ärzte mitgearbeitet, die gesagt haben: "Okay, da machen wir jetzt ein Buch." Es gab sogar einen Film mit dem gleichen Titel. Dort haben Pflegekräfte einfach einmal offen sagen dürfen, wie es ihnen geht - und das war nicht nur positiv.

Natürlich kann ich es verstehen, wenn Leute verunsichert sind und nach einer solchen Veranstaltung irritiert oder auch verärgert nach Hause gehen. Ich wurde vorhin gefragt: "Warum machen Sie das? Was soll das? Dann steht man jetzt so damit da!" Die beiden, an die ich jetzt denke, konnten heute einmal kurz - und vielleicht morgen noch - spüren, wie es den Menschen geht, die da arbeiten. Das will man nicht spüren. Das kann ich auch verstehen. Aber das wäre jetzt eine Antwort auf diese Frage: Ich möchte das ein Stück weit spürbar machen. Es ist nicht so einfach, Vorträge zu halten, auch für mich nicht. Ich versuche zu vermitteln, wie es da ist. Wenn man hört, was ein Mensch aus der Pflege für ein solches Buchprojekt geschrieben oder in einem Interview gesagt hat und man fängt an zu spüren, wie unangenehm das alles ist, dann ist man verunsichert.

Die Verunsicherung entsteht dadurch, daß man das alles nicht nahegebracht bekommen hat. Aber das kann nicht für mich die Konsequenz haben zu sagen: "Mensch Roberto, da sitzen vielleicht ein paar oder auch viele Leute, die jetzt verunsichert werden - laß es sein." Denn genau das passiert. Man hört darüber nichts. Man kann es nicht nachlesen oder muß schon sehr danach suchen in irgendwelchen Archiven. Pflegekräfte, die ich im Studium kennengelernt habe, haben zu diesem Thema Diplomarbeiten geschrieben so wie ich auch. So eine Diplomarbeit liegt dann irgendwo in einer Bibliothek. Wenn man danach nicht suchen geht, dann verstaubt sie irgendwo, das erfährt kein Mensch. Pflegekräfte werden nicht in Talkshows eingeladen, wenn es um Tod und Ethik geht. Da werden dann Ärzte, Professoren und Theologen eingeladen. Warum eine Pflegekraft? Was kann sie schon dazu sagen? Die weiß doch nichts von Tod und Sterben!

SB: Dabei ist der Kontakt - man könnte auch sagen, die Beteiligung - noch viel intensiver.

RR: Ja, sie sind sehr daran beteiligt. Ich denke auch, daß eine intelligente Pflegekraft, die sich mit Leben und Tod auseinandersetzt, vielleicht mehr davon weiß als irgendwelche Philosophen oder Juristen, die niemals an so einem Bett und am OP-Tisch gestanden haben. Sie haben das von S. gehört, die sich einmal eine Organentnahme angesehen hat. Und dann kommt der Horror durch. Ich habe es ja nur vorgelesen. Das ist der Horror, den man erleben könnte, wenn man so ein Buch kauft. S. schreibt pro Organspende, aber an einer Stelle hat sie gesagt: "Oh, ich war da auch einmal." Den nächsten Satz habe ich Ihnen nicht vorgelesen. Da macht sie nämlich einen Sprung und beschreibt, wie gut die Arbeit mit ihren Transplantierten sei, das mache doch Sinn. In einer Diplomarbeit hätte ich auf der Basis meines psychologischen Wissens gewertet, daß sie vor dem eigentlichen Thema ausweicht. Pflegekräfte können aber nicht ausweichen, die bleiben da. Aber sie ist Psychologin, redet dann von den Transplantierten und will klar machen: "Das ist die gute Seite, das ist ganz toll und hilft auch vielen." Aber das heißt ja nicht, daß es die andere Seite nicht gibt. Sie hat als Psychologin oder Psychotherapeutin weggeguckt - ich habe hingeguckt.

SB: Sie haben auch bei der Frage, was wirklich mit den Transplantierten geschieht, nicht weggesehen und in Ihrem Vortrag deutlich gemacht, daß die Rettung dieser Menschen fragwürdig ist.

RR: Mich ärgert, wenn zum Beispiel ein Arzt auf einer Homepage irgendwelchen Leuten verspricht: "Sie werden geheilt. Es wird Ihnen besser gehen". Doch nur, wenn es klappt! Aber daran kann man auch sterben. Eine Lebertransplantation ist ein enormer Eingriff in den Körper. Eine Leber auszutauschen ist immer noch wahnsinnig gefährlich. Wenn man da schreibt, daß man "heilt", baut man ein Bild von einer normalen OP auf. Wer keine Ahnung hat, denkt dann: Ich könnte mir auch einen Blinddarm rausnehmen oder reinsetzen lassen. Aber Transplantationen greifen unheimlich tief in den Körper eines Menschen ein. Das ist je nach Transplantation unterschiedlich.

Ich habe vorhin, um dies ein bißchen zu vermitteln, Auszüge aus dem Buch von E. vorgelesen. Sie hat lange Jahre in einer Klinik gearbeitet und gilt als Kritikerin, weil sie in ihrem Buch berichtet hat, wie es Jugendlichen auf der Warteliste und nach der Transplantation geht. Es war der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit, mit diesen Jugendlichen zu arbeiten. Was soll eine Psychotherapeutin, die mit Transplantierten arbeitet, in einem Buch schreiben, wenn sie berichtet, wie es ihnen geht? Die Jugendlichen haben psychische Probleme, danach und davor, und genau das hat sie beschrieben. Sie gilt aber als Kritikerin, weil sie geschildert hat, was ihr Arbeitsinhalt ist.

Wenn jemand vor mir stehen und sagen würde: "Mein Gott, Sie haben mir das alles erzählt und jetzt bin ich verwirrt oder ärgere mich. Ich war aber sicher bis zu diesem Vortrag", würde ich sagen, daß man das vielleicht irgendwann in zwei, drei Tagen zu schätzen weiß, wenn die Unsicherheit dazu führt, daß man wieder auf die Suche geht und sagt: "Ich will wieder sicher werden, aber habe jetzt eine Information, die hat mich unsicher gemacht. Wo ist jetzt die Info, die mich sicher macht?" Mir ging es so als Pfleger. Vielleicht hat jemand jetzt ein Stück weit gemerkt, wie es mir auch einmal ging, als ich verunsichert worden bin. Ich habe recherchieren müssen für meine Diplomarbeit und bin auf Dinge gestoßen, die ich nicht wußte. Es hat mich irritiert und mir ein sehr schlechtes Gefühl gemacht. Ich habe immer weiter recherchiert. Es hat nicht mehr viel gegeben, was mir endlich meine frühere Haltung, die Sicherheit, "die sollen tot sein", wiedergeben konnte.

SB: Eigentlich weiß jeder intuitiv, daß etwas Lebendiges in den Menschen kommen muß. Wenn es vorher tot ist, kann es nicht transplantiert werden. Vorher sagte man: "Da ist ein Mensch gewesen", jetzt sagt man: "Da ist eine Leber". Das ist ein Sprung. Man braucht ein frisches Organ und nicht den Menschen. Da ist nicht mehr diese gedankliche Verbindung, die einen spüren läßt, daß irgendetwas nicht stimmen kann. Dieses Gespür muß einem mit irgendeiner Erklärung genommen werden, indem man etwa sagt: "Der lebt nicht mehr."

RR: Deshalb wollte ich hier auch den Film [4] zeigen. Wenn man sagt, "die bewegen sich", stellen sich die Leute vielleicht vor: So ein Hirntoter, der zuckt irgendwie. Aber ich weiß, daß der Film etwas mit einem macht.

Es ist so, daß sich in Deutschland 16jährige für und gegen eine Organspende entscheiden dürfen. Ein 16jähriger darf dafür sein, ohne seine Eltern. Mit 14 darf man ablehnen, aber noch nicht zustimmen. Dann muß man ihnen meiner Meinung nach das, was ich hier sage, auch zumuten können. Hier waren erwachsene Leute, Krankenpflegeschüler, die heute morgen bei mir im Unterricht saßen. Die werden mich ja noch sehen und können mich ansprechen. Wenn sie jetzt den Film sehen, haben sie eine Wahl. Das waren nun zwei alte Menschen, die in dem Film zu sehen sind. Ich bitte in manchen Pflegeschulen durchaus darum, sich vorzustellen - was sehr schwer ist -, daß einer dieser beiden Menschen ein 15jähriger Sohn sein könnte.

Ich habe auch mit Angehörigen zu tun, die ihre Kinder zur Organspende freigegeben und das erst im nachhinein als falsche Entscheidung für sich wahrgenommen haben. Damit lebt man dann sehr schlecht. Wenn man sich jetzt einen 15jährigen vorstellt, die eigene Ehefrau oder die Schwester, den Bruder, so wie diesen Mann, den wir hier gesehen haben, der sich sehr massiv auf Schmerzreize hin bewegt und zwar so, wie sich das kaum jemand vorstellen würde! Ich weiß, daß viele diesen Umgang in dem Film schon unheimlich und grauselig finden, zum Beispiel, wie diese Menschen abgeklopft werden. Wenn jemand im Bett liegt, die Arme neben sich liegen hat und dann die Haut oben an der Schulter genommen und umgedreht wird, dann geht die Hand hoch. Ich weiß, daß das Leute sehr beeindruckt.

Das ist der Moment, an dem man, finde ich, darüber reden kann, warum diese Menschen eigentlich tot sein sollen. Sie wirken so lebendig. Und was ist die eigentliche Begründung? Die ist nicht biologisch, sondern beruht auf einer Absprache. Um das zu verstehen, muß man sich eigentlich Gedanken über das eigene Todesverständnis machen - egal wie das aussieht. Ich sammele dazu alle Positionen, die ich irgendwie finden kann, auch wenn sie nicht meiner eigenen Einstellung entsprechen. Wenn beispielsweise jemand anruft und sagt: "Ich bin Anthroposoph, wie denken die darüber?", dann sollte er diese Informationen erhalten. Man muß doch eine eigene Entscheidung treffen und nicht eine, die die Mediziner einem sagen. Denn die denken naturwissenschaftlich und sagen: "Für uns ist er tot", und das ist weltweit anerkannt worden. Aber da gibt es noch viele andere Positionen. Wenn ich eine eigene Entscheidung treffen soll, muß es doch möglich sein, daß ich alle Informationen bekomme: Wie denkt ein Buddhist darüber, wie denken Muslime oder egal wer? Wenn man dann sagen kann: "So denke ich über den Tod, das ist mein inneres Empfinden", dann muß ich das auch leben dürfen. Und wenn das ein "Nein" ist, dann ist es ein "Nein". Das ist dann die richtige Entscheidung, psychologisch betrachtet sowieso. Wenn ich dagegen handele, kann ich nur Probleme bekommen im Nachhinein.

Ich würde sagen, von der Regierung müßten unabhängige Informationen bereitgestellt werden - und die gibt es nicht. Da gibt es nur ein einseitiges Modell des Menschen und nicht zehn. Dabei haben sie alle Informationen. Es gab 1995/96 Anhörungen aller Sachverständigen, da waren wirklich viele Menschen geladen mit Positionen unterschiedlichster Art, die sind alle schriftlich abgegeben worden. Ich mußte meine Stellungnahmen für zwei Vereine auch schriftlich abgeben. All diese Positionen könnte man veröffentlichen, dann hätte jeder Bürger die Möglichkeit, hunderte von Seiten zu lesen, so wie sie auch die Politiker bekommen haben. Die haben sich mehrheitlich dafür entschieden, daß Hirntote tot sein sollen. Ich bin sehr davon überzeugt, daß nicht jeder Politiker wirklich alles gelesen hat. Es gab da welche - das kann man in den Wortprotokollen nachlesen -, die hatten eher schon eine eigene Meinung. Es gab einzelne, die nicht unbedingt die Sachverständigen gefragt, sondern über ihren Tod gesprochen haben. Die mußten ermahnt werden: "Stellen Sie bitte eine Frage." Ich glaube einfach nicht, daß ein Politiker wirklich Interesse an meiner Position oder der von anderen hatte, sondern daß er schon etwas im Kopf hatte, und es war eine reine Formalität, sich das anzuhören.

SB: Die Debatte war eigentlich schon einmal höher entwickelt als heute. Kann man das so sagen?

RR: Ich würde sagen: Ja. Nachdem das Gesetz verabschiedet worden war, gab es auch einige Leute in der sogenannten Kritikerszene, die zuvor anderes Wissen verbreitet hatten als das offizielle, die sich dann aber zurückgezogen haben und gar nicht mehr aufgetaucht sind. Andere sind aktiv geblieben. Kennen Sie beispielsweise den Verein "Kritische Aufklärung über Organspender"? Das ist eine Elterngruppe, bei der man einfach einmal Erfahrungsberichte nachlesen kann darüber, was mit ihren Kindern passiert ist. Das sind zumeist Eltern, die ihre Kinder freigegeben haben zur Organspende und wirklich erst im Nachhinein kapiert haben, daß das nicht ihre Einstellung war und daß sie sich haben überreden lassen.

Aber interessant ist auch ein gewisses Hintergrundwissen. So gibt es Jahresberichte, in denen Statistiken veröffentlicht werden über die Zeit zwischen dem Ende der Diagnostik und der Organentnahme, also dem Endzeitpunkt. Eigentlich ist man erst nach dem Ende der Diagnostik hirntot; vorher ist es heikel, jemanden als Hirntoten anzusehen. Es wird offiziell vermieden anzusprechen, daß genauso gedacht und schon vorher geguckt wird... Aber ganz offiziell ist jemand erst hirntot, wenn zwei Diagnostiken gemacht worden sind. Nach einer solchen Statistik sind 2010 89,5 % der Organentnahmen innerhalb von 24 Stunden beendet worden. 24 Stunden zwischen dem Ende der Diagnostik und der Organentnahme, das muß man sich einmal vorstellen!

Da gibt es eine Frau Greinert [5], die Bücher veröffentlicht und im Fernsehen aufgetreten ist und erzählt hat, was ihr passiert ist. Ihr 15jähriger Sohn kam nicht von der Schule nach Hause. Dann klingelte die Polizei. Da stand dann jemand und sagte: "Jetzt müssen wir Ihnen eine schreckliche Nachricht übermitteln. Ihr Sohn hat einen schweren Unfall gehabt und liegt in der Klinik auf der Intensivstation." Man kann sich vorstellen, wie höllisch aufgeregt man ist. So fährt man in die Klinik, geht auf die Intensivstation und sieht seinen Sohn an Geräten. Er sieht lebendig aus - okay, er wird beatmet. Ich denke, daß jeder verstehen wird, wenn man sich dann fragt: Welche Chancen hat er? Kann er wieder gesund werden? Man denkt über das Gesundsein nach, irgendwie so wird es sein.

Dann kommt ein Arzt und sagt: "Jetzt müssen wir Ihnen eine ganz schlimme Mitteilung machen. Den kriegen wir gar nicht mehr gesund. Und nicht nur das. Der ist tot, der ist hirntot, der lebt gar nicht mehr." Und Sie stehen da und sehen: Monitor, Herzfrequenz, Atmung, Schwitzen, Lagern und Umlagern, die Pflegekräfte arbeiten. Und dann macht Ihr Sohn vielleicht Stuhlgang ins Bett, und da werden Sie hinausgebeten, damit man das Bett sauber machen kann, so wie bei einem Lebenden. Und dann sollen Sie das entscheiden, in dem Moment! 2010 hatten Sie in Deutschland wirklich zu 90 Prozent nur einen Tag, um zu kapieren, daß Ihr Sohn nicht nach Hause gekommen ist und einen Unfall gehabt hat, daß es nicht wieder rückgängig zu machen ist, daß ihm niemand helfen wird und daß er sterben wird. Und Sie müssen gleich noch einen Sprung machen: Nicht, daß er sterben wird - nein, er ist ja schon tot. Er wird nicht mehr mit Ihrer Begleitung sterben. Ihnen wird gerade gesagt: Er ist bereits tot. Und das sollen Sie verstehen! Und dann werden Sie in dieser Situation gefragt: "Willigen Sie zur Organspende ein? Das müssen wir Sie fragen, weil wir ihn schon gemeldet haben."

Dieser Fall fand vor dem Transplantationsgesetz [6] statt. Heute gibt es eine Meldepflicht. Wenn die Diagnostik abgeschlossen ist, wird gemeldet, da brauchen die Angehörigen gar nicht gefragt zu werden, das ist eine gesetzliche Pflicht. Heute wäre in so einem Moment sofort klar: Der Junge wird nach der Diagnostik bei der zuständigen Stiftung gemeldet. Jetzt brauchen sie nur noch Ihr Okay, wenn er mit 15 keinen eigenen Organspenderausweis hat. Das ist einfach unmöglich! In einer solchen Situation kann man das nicht entscheiden, was ein Argument wäre - und die Debatte wird auch gerade geführt -, über die Widerspruchslösung nachzudenken.

Es gibt heute Politiker, die dies wollen, die eine Widerspruchslösung wie in Österreich, Spanien oder anderen Ländern befürworten. Da gilt: Wenn Sie keinen Ausweis haben, werden Sie zur Organspende genommen, sobald Sie hirntot sind. Übrigens auch als Ausländer. Sollten Sie Urlaub in Österreich machen, können Sie genommen werden. Die Probleme mit den Angehörigen werden zum Anlaß genommen, um zu sagen: Nehmen wir doch die Widerspruchslösung, dann brauchen wir die Angehörigen nicht zu fragen. Dann ist man natürlich wieder auf dem anderen Ende. Da würde ich sagen, daß die meisten Bürger so uninformiert sind, daß viele einwilligen, die gar nicht wissen, worin sie einwilligen und die das auch gar nicht selber entschieden haben.

SB: Es ist gut möglich, daß die Widerspruchslösung durchgesetzt werden könnte, oder wie schätzen Sie das ein?

RR: Natürlich, wenn es die politischen Mehrheiten gibt, ist das kein Problem. Interessant waren damals, als unter der CDU-Regierung das Gesetz durchgekommen ist, die Anhörungen. Ich wußte das vorher gar nicht, daß die so ablaufen. Da werden nach Parteienproporz Sachverständige eingeladen, und nach Parteienproporz wird auch die Redezeit an solchen Infotagen verteilt. Das ist immer ein Tag gewesen. Vorher bekamen wir ein Blatt geschickt mit den Redezeiten für die Parteien von morgens um 9:00 bis nachmittags um 15:00 Uhr. Da stand genau drin, wieviel Redezeit die einzelnen Parteien bekommen. Klar ist, daß die CDU mehr Prozente hat und soundsoviele Minuten lang ihre Sachverständigen befragen darf, dann die SPD, Grüne, PDS und die FDP. Es ging nach Parteienproporz, und da konnte man schon durchrechnen, daß über den ganzen Tag mehr Sachverständige zu Wort kamen, die die Position der Regierung, also die Hirntod-Definition vertraten.

Ich wurde einmal von den Grünen eingeladen, obwohl ich kein Grünen-Mitglied bin. Aber die hatten von mir gehört und gesagt: Mensch, das paßt zu unserer Position, da können Sie doch etwas über Pflege erzählen. Aber ich hatte nur zwei Minuten. Als die Rederunde zu den Grünen kam, war klar, daß sie nur sechs Minuten für drei Leute hatten. Ich war der erste. Ich hatte nur zwei Minuten zum Hirntod, zum Tod des Menschen! Zwei Minuten durfte ich erzählen und Politiker hörten mir zu. Und ich saß da mit einer Mutter, die ihren Sohn freigegeben hatte, sie vertrat einen Verein. Danach habe ich gesagt: Die Mehrheit ist doch nach Parteienproporz eingeladen worden! Bei allen Gesetzen ist das so. Das Transplantationsgesetz ist 1997 in Kraft getreten, 1998 gab es eine SPD-Grünen-Regierung. Ich finde es interessant mir vorzustellen, was gewesen wäre, wenn das ein Jahr länger gedauert hätte, dann wäre es politisch genau andersherum gewesen. SPD und Grüne hatten beide eigene Gesetzesentwürfe, in denen stand: Das sind Sterbende.

SB: Vorstellbar wäre auch gewesen, daß sie ihre Auffassung geändert hätten.

RR: Es wäre auch vorstellbar, daß es so gekommen wäre. Mir hat das einfach einen Hinweis darauf gegeben, daß die Frage "Was ist eigentlich der Tod?" eine politische Absprache war. Da ging es nicht um irgendwelche Wahrheiten oder die Frage, was ist biologisch wahr. Wenn es eine andere Regierung gewesen wäre, hätten die eben einen anderen Neurologen eingeladen, der gesagt hätte: Man kann den Hirntod gar nicht messen. Dann wäre das mehrheitlich gewesen und die anderen Ärzte oder Sachverständigen wären in der Minderzahl gewesen. Das zeigt doch, was die Basis einer politischen Entscheidung ist. Das läuft mit Sicherheit in vielen anderen Themenfeldern in der Politik genauso.

Damals war ich noch Student und habe auch auf der Intensivstation gearbeitet. Ich dachte: Die reden hier über den Tod, die stimmen über den Tod des Menschen ab. Das war für mich so etwas wie eine Wahrheit. Ich habe wirklich viele Leute sterben sehen, Leichen gewaschen und in den Keller schieben müssen. Ich hab 1981/82 Zivildienst auf der Pflegestation gemacht. Der Tod war für mich etwas, was sinnlich erfahrbar ist. Wenn Leute gestorben sind und man saß daneben, war im Zimmer oder hat sie gewaschen - man konnte fühlen, daß da ein Mensch gestorben ist, das hat man wahrnehmen können. Das wird abgetan als "ist ja nicht wissenschaftlich, was man da fühlt", aber ich hatte eine Vorstellung davon. Diese Menschen in Bonn damals noch haben über den Tod des Menschen abgestimmt. Das war keine Wahrheit, das war einfach eine Absprache aus meiner Sicht. Andere Regierungszusammenhänge, andere Todesdefinitionen. Andere Länder, andere Tode. Was ist der Tod?

SB: Ich könnte mir vorstellen, daß man dann auch die Wissenschaft insgesamt infragestellt, wenn es "Erkenntnisse" geben soll, die diesem Empfinden total entgegenstehen.

RR: Ja. Wie gesagt, was Frau Müller [7] im letzten Jahr veröffentlicht hat, müßte normalerweise, wenn es schon wissenschaftlich zugeht, ganze Konzepte über den Haufen werfen. Das bedeutet doch Wissenschaft, deswegen glauben wir nicht mehr, uns auf einer Scheibe zu bewegen, sondern auf einer "Kugel", und wir kreisen um die Sonne und nicht andersherum. Es gab eine neue Erkenntnis. Dann gab es Widerstand aus bestimmten Kreisen, daß da so eine Einzelmeinung daherkommt und sagt: "Mensch, das ist aber wissenschaftlich alles ganz anders." Man müßte dann komplett alles über den Haufen werfen.

Im Themenfeld der Transplantationsmedizin ist es natürlich schwierig, wenn neue Kenntnisse kommen. Das ist jetzt gar nicht böse gedacht. Aber wenn ein Arzt vor 20 Jahren fest geglaubt hat, der Hirntod sei der Tod des Menschen, und er hatte eine Diagnostikmethode, von der alle gesagt haben, daß es die richtige sei und so könne man ihn messen, und nun kommen neue Erkenntnisse, die sagen, das war möglicherweise falsch, dann muß sich ihm als Arzt automatisch genauso wie jeder Pflegekraft - und wie auch ich das irgendwann einmal für mich überlegt habe - die Frage stellen, ob er an einer Tötung mitgearbeitet hat, weil diese Menschen gar nicht tot waren. Sich dem zu stellen, da ringt - ich bin ja Psychologe - die Psyche mit sich und verweigert das.

Ich kann psychologisch verstehen, warum man gegen die Leute, die solche neuen Erkenntnisse veröffentlichen und vertreten, vorgeht. Wenn man diesen Gedanken einer Wissenschaftlerin zulassen würde, die sich auf Studien bezogen hat, die sie gar nicht alle selber gemacht hat, wenn sich ein Transplanteur beispielsweise darauf einlassen würde zu denken und zu empfinden, daß diejenigen Menschen, die er transplantiert hat, möglicherweise gar nicht tot waren, was ist das für ein Grauen? Und das haben heute einige gespürt. Das zu vermitteln lag auch in meiner Absicht, und wenn das jemandem nicht gefällt, lebe ich damit.

SB: Herr Rotondo, wir bedanken uns für dieses ausführliche Gespräch.


Fußnoten:

[1] "Wie tot ist hirntot?" - Vortrag von Roberto Rotondo am 13.05.2011, im Schattenblick siehe
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)

[2] Muskelrelaxanzien sind Substanzen, die eine umkehrbare, schlaffe Lähmung der Skelettmuskulatur herbeiführen.

[3] Ich pflege Tote. Die andere Seite der Transplantationsmedizin, Hans W. Striebel und Jürgen Link (Herausgeber); Basel, Baunatal; Recom 1991

[4] "Die klinische Feststellung des Hirntodes", Video-Produktion, J. Link, R. Rohling, W. Wagner, H. Schulz. Heidelberg, Springer, 1991, ISBN: 978-3-540-92608-5

[5] Renate Greinert: Unversehrt sterben! Konfliktfall Organspende. Der Kampf einer Mutter, Kösel Verlag, München 2008

[6] Das Gesetz über die "Spende, Entnahme und Übertragung von Organen und Geweben" (Transplantationsgesetz, TPG) ist am 1. Dezember 1997 in Kraft getreten.

[7] Dr. Sabine Müller von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie CCM der Charité in Berlin, Autorin von "Revival der Hirntod-Debatte: Funktionelle Bildgebung für die Hirntod-Diagnostik", online publiziert am 29. Januar 2010, Springer-Verlag 2010, machte unter anderem deutlich, daß zahlreiche Studien ein längeres Überleben hirntoter Patienten nachgewiesen haben.


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)

Außenansicht Kampnagel - Inangriffnahme des Tabuthemas Organentnahme - Foto: © 2011 by Schattenblick

"Die Untoten" auf Kampnagel - Inangriffnahme des Tabuthemas Organentnahme
Foto: © 2011 by Schattenblick

31. Mai 2011