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FRANZÖSISCH/014: Lektüre... Wie bewältige ich ein schwieriges Buch? - 2 (SB)


Wie bewältige ich ein schwieriges Buch?


Oder

Wie lese ich ein Buch, das mich nicht interessiert und das mir zu schwierig ist, mit wachsender Begeisterung?



Teil 2

"Un orage immobile" de Françoise Sagan
Presses Pocket, 1984
J.-J. Pauvert chez Julliard

Mit diesem Buch hatte ich eine ganze Reihe von Problemen. Es war einfach die klassische Situation, wenn weder das Thema, noch die Hauptperson, noch der Stil des Buchs oder der Schwierigkeitsgrad zusagen - einem also nichts das Lesen angenehm macht oder erleichtert.

"Un orage immobile" stellt wie "Une femme" von Anne Delbée (siehe unter FRANZÖSISCH/013) etwas höhere Anforderungen an den Leser. Es beschreibt bildhaft, ausführlich, bemüht sich, die Gefühls- und Gedankenwelt eines Menschen aus einer vergangenen Zeit mit ihren eigenen Regeln zu erfassen und nahezubringen. Es sind die wehmütigen, quälenden Erinnerungen eines alten Mannes an seine einst große, unerfüllt gebliebene Liebe und ihr jähes Ende - und der Konflikt zwischen seinem Wunsch zu vergessen und dem, von Vergangenem zu träumen, vielleicht noch einmal zu leben.

Seine erste Botschaft an den Leser:

Si un lecteur découvre un jour ces pages - si quelque aveugle vanité d'auteur ou quelque aléa du destin m'empêche de les détruire - qu'il sache d'abord que c'est plus pour me rappeler que pour le relater que j'entame le récit de l'été 1832 et des années qui suivirent. [1]

Nicholas Lomont erzählt von seinem Leben vor dreißig Jahren. Er beschreibt die junge, adlige Witwe Flora Margelasse, in die er sich rettungslos verliebt, die erste Begegnung, seinen Versuch, ihr näher zu kommen, den sie mit "J'aurais tant voulu - Ich hätte es so sehr gewünscht" beantwortet. Mehr erfährt man nicht über ihre Motive, und Nicholas gelingt es nicht, je mehr als ihre Freundschaft zu erringen.

Mir ist es beim ersten Lesen nicht gelungen, mich in Nicholas hineinzuversetzen oder irgendein Interesse an seiner Person und an seiner Situation zu entwickeln, das mir das Buch zugänglicher gemacht hätte. Die Handlung dehnt sich eine ganze Weile, liefert ausführliche Beschreibungen und Szenen der französischen Gesellschaft auf dem Land in der Zeit nach der französischen Revolution, als sich die Adligen ihres Lebens wieder sicher fühlten. Trotz des Ich-Stils wirkte das Buch auf mich zunächst eher distanziert, was sich mit Fortschreiten der Ereignisse jedoch sehr änderte. Schließlich kamen sogar Dramatik und deutlich selbstironische Züge auf.

Aber zunächst schlägt man sich damit herum, daß dieser Nicholas Lomont keine Freude mehr und auch keine Freunde zu haben scheint. Er ist zwar sehr erfolgreich mit seiner Arbeit als Notar, ist wohlhabend, angesehen, gehört zu den besseren Kreisen, aber sein Leben wirkt auch im Rückblick ein wenig schal, und das macht ihn nicht gerade liebenswert. Zu der Zeit, als er das Buch verfaßt, lebt er allein mit der alt gewordenen Dienerschaft. Sein Leben erscheint vielleicht deshalb so leer, weil es von bestimmten Ereignissen - die der Leser erst viel später versteht - überschattet wird, die ihn zutiefst deprimiert zurücklassen, nicht allein deshalb, weil er nicht ganz unschuldig am tragischen Verlauf ist. Mein erster Eindruck dieses Buchs war so der einer unausweichlichen Trostlosigkeit.

Man begegnet ihm als tief deprimiertem und hoffnungslosem alten Mann, dessen Leben schon lange keinen Sinn mehr macht, der unfähig ist zu lieben und geliebt zu werden. Sicherlich werde man ihm nicht glauben, daß er damit zufrieden sei, meint er. Und wenn man in wenigen Jahren an seinem Grab stehe und der eine oder andere ein wenig Mitleid übrig habe, finde sich sicherlich auch eine böse Seele, die sich an seinem Tod erfreue, doch:

celui-ci se réjouira pour rien. C'est à la fin d'un cadavre qu'il aura assisté. Il y a trente ans que je ne fait que survivre à ces étés brûlant." [2]

Sein Leben hat schon vor langer Zeit geendet.

Wenn das nicht deprimierend ist... Nun, vielleicht hätte man an dieser Stelle doch ein wenig neugierig werden können: Was ist da wohl vor dreißig Jahren geschehen?

Allzu leicht liest man über solche Andeutungen hinweg. Ich habe es an dieser Stelle eher als Schwermut, Trauer und Langeweile verbreitende Klage eines alten, enttäuschten Mannes gesehen, der einsam vor sich hin lebt. Und diese hat mich eben nicht interessiert. Ich hätte höchstens noch sein Los bedauern und das Buch zuklappen können.

Was macht man an einer solchen Stelle? Was macht man, wenn das Buch nur noch schrecklich ist oder unverständlich?

Also: Zunächst einmal sage ich mir, daß es überhaupt nicht wichtig ist, ob ich dieses Buch nun lese oder nicht. Ich kann es einfach weglegen. (Und das habe ich - nebenbei gesagt - auch mit beiden Büchern, mit dem von Anne Delbée und dem von Françoise Sagan einfach gemacht. Ich habe sie nach etwa einem halben Jahr wieder aufgegriffen.) Und wenn es denn nun nicht wichtig ist, ob ich es lese, kann ich es auch weiterlesen, ohne daß irgend etwas dabei herauskommen muß.

Das heißt zum Beispiel lesen, ohne verstehen zu müssen, heißt also die Teile, die man nicht versteht, einfach überlesen. Nicht ignorieren, sondern einfach mitlesen, ohne sie zu verstehen. Gerade, wenn es furchtbar uninteressant ist, empfiehlt es sich, nicht zu versuchen, das, was einen überhaupt nicht interessiert, auch noch genauer zu erfahren und damit noch mehr Grund zu haben, nicht weiterzulesen.

Ich fand es auch von Vorteil, mich nicht extra stramm hinzusetzen, um "das Buch zu lesen". Ich habe es eher nebenbei zur Hand genommen, manchmal als Lückenbüßer, manchmal in einer Wartezeit, dann wieder, wenn ich einfach nur Lust auf Französisch hatte oder auf etwas Abwechslung. Nie war der Hauptgrund das Buch durchzulesen, um mit dem dann fertigen Ergebnis, so etwas gelesen und hinter sich gebracht zu haben, dazustehen.

Sehr interessant ist allerdings die Frage: Was interessiert mich an dem Buch nicht? (Was mich daran nicht interessiert hat, habe ich oben versucht zu schildern.)

Ist nun die Antwort: "Mich interessiert das Buch nicht, weil ich überhaupt nichts verstehe", so empfehle ich, zunächst einmal diese Aussage genau zu überprüfen. Verstehe ich denn wirklich rein gar nichts? Ist das der Fall, würde ich einen kleinen Schritt zurückgehen und es mit einem leichteren Buch versuchen, um dann auf das ungeliebte zurückzukehren.

Ansonsten würde ich mich grundsätzlich an das halten, was ich verstehe. Und das ist in der Regel mehr, als man denkt oder sich zugestehen will. Ich habe schon oft, wenn mir jemand dieses zu verstehen gegeben hat, mehr an Inhalt über das Buch herausgefragt, als für möglich gehalten wurde. Meist ist man einfach nur zu faul, sich um diesen Teil zu kümmern und beklagt sich lieber darüber, wie schwierig alles ist. Dringend abraten möchte ich von jeglichem Versuch, ein Buch pflichtbewußt genau durchzulesen und womöglich auch noch jedes Wort im Wörterbuch nachzusehen. Es ist absehbar, daß einem dabei die Puste ausgeht. In dem Sinne sollte man sogar faul sein.

Zu "Un orage immobile" zurückgekehrt kann ich für mich dazu noch sagen, daß ich gegen Ende des Buches doch noch neugierig wurde: als sich Nicholas Lomont in einer Reihe schwieriger und zum Teil nicht unbedingt rühmlicher Situationen befindet und darüber hinaus noch einiges an Selbstironie durchschimmern läßt, Achtung und Freundschaft für seine Mitmenschen zeigt, von der eigenen Person absieht und seine eigene Schwäche und wenig löbliche Beteiligung an Ereignissen, die ich hier nicht verraten will, nicht verheimlicht.

Als ich das Buch ohne Rücksicht auf ein tieferes Verständnis durchgelesen hatte, fragte ich mich: Wer ist eigentlich dieser Mensch, der dort von sich erzählt? Also habe ich es noch einmal von vorne angefangen. Mit einem erstaunlichen Effekt: Ich fand es diesmal nicht schrecklich langweilig, sondern hatte einfach Lust, gründlich vorzugehen und zu verstehen, langsamer und aufmerksamer zu lesen. Gleich auf Anhieb verstand ich überraschender Weise wesentlich mehr als beim ersten Mal und hatte Zugang zur erzählenden Hauptperson, die mir nun gar nicht mehr so öde erschien. Ich konnte mit ihm zusammen in die Vergangenheit blicken und wollte gern mehr über ihn erfahren. Fast schien es mir, als kenne ich ihn.

Dabei merkte ich auch, daß die anklingende Selbstironie durchaus schon früher zu finden ist, ich sie nur ignoriert hatte und daß dieser Mensch versucht, die Rolle, die er in dem Geschehen gespielt hat, sehr genau zu schildern und zu erfassen. Sympathischerweise schont er sich dabei nicht, ergeht sich aber auch nicht in Selbstvorwürfen und Anklagen. Was dann vielleicht noch stören könnte, ist die Tatsache, daß er eigentlich nie als der glänzende Sieger aus einer Situation hervorgeht, mit dem man sich gern identifiziert.

Um mit einer für die Handlung recht entscheidenden Person zu sprechen, die bislang noch nicht erwähnt wurde, dem Zimmermädchen von Flora de Margelasse:

J'ai toujours aimé les hommes grands, forts et bêtes, sentimentaux et maladroits, notaires des riches, généralement amis des pauvres, ou un peu moins fat." [3]

Das rettet ihm sogar wenig später das Leben...

Françoise Sagan hat es hier verstanden, die Lebenslage eines Menschen, mit dem einen eigentlich nichts verbindet, so glaubhaft zu schildern, daß man nicht außen vor bleiben muß.

Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß ich vieles an dem Buch, was mich vielleicht doch interessiert hätte, deshalb übersehen habe, weil ich es von Anfang an als schwierig und öde eingestuft habe und deshalb kein "offenes Ohr" hatte. Meiner Meinung nach ist das in den meisten Fällen das viel größere Hindernis beim Lesen als die zu geringen Sprachkenntnisse. Jetzt fällt es mir sogar ein wenig schwer zu verstehen, was ich an diesem Buch einmal so schrecklich fand.

[1] zitiert aus: Un orage immobile, von Françoise
Sagan, Presses Pocket, 1984, Seite 7
[2] ebd., Seite 8
[3] ebd., Seite 196


Erstveröffentlichung am 3. Mai 1995


21. Februar 2007