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FRANZÖSISCH/163: Gelesen (2) Anna Gavalda - Je voudrais que quelqu'un m'attende... (SB)


Lesen! Lesen! Lesen!


Anna Gavalda: Je voudrais que quelqu'un m'attende quelque part



Im Mittelpunkt dieser 12 Geschichten und Episoden stehen zwischenmenschliche Alltagssehnsüchte und -nöte und eigentlich, wenn man genau hinsieht, eine grundsätzliche Feindlichkeit zwischen Menschen, die man gewöhnlicherweise nicht gern so deutlich zur Kenntnis nimmt. Dies ist das Irritierende an dem Buch. Darüber hinaus sind fast alle dieser Szenen - ob aus weiblicher oder aus männlicher Sicht erzählt - in der Ich-Form geschrieben, die Autorin wechselt also als Ich-Erzählerin die Perspektiven. Sie verfolgt damit keinen emanzipatorischen Anspruch, die gesellschaftlichen Hierarchien sowie das Geschlechterverhältnis bleiben unangetastet.

Les personnages de ces douze nouvelles sont pleins d'espoir futiles, ou de désespoir grave. Ils ne cherchent pas à changer le monde. Quoi qu'il leur arrive, ils n'ont rien à prouver. Ils ne sont pas héroïques. Simplement humains. On les croise tous les jours sans leur prêter attention, sans se rendre compte de la charge d'émotion qu'ils transportent et que révèle tout à coup la plume si juste d'Anna Gavalda. En pointant sur eux ce projecteur, elle éclaire par ricochet nos propres existences.
(Klappentext, Taschenbuchausgabe Edition J'ai lu, Paris 2002, ISBN 2-290-51178-2)

Anna Gavalda erzählt im Plauderton, so wie man sich einer Freundin, einem Freund oder dem Tagebuch anvertraut, offen und scheinbar ohne Blatt vor dem Mund.

In einer der Geschichten spielt sie Baudelaires Sonett La Passante nach:

Je l'ai vu arriver de loin, Je ne sais pas, sa démarche peut-être, un peu nonchalante ou les pans de son manteau qui prenaient de l'aisance devant lui. Bref, j'étais à vingt mètres de lui et je savais déjà que je ne le raterai pas.

Ça n'a pas loupé, arrivé à ma hauteur, je le vois me regarder. Je lui décroche un sourire mutin, genre flèche de Cupidon mais en plus réservé.

(Petites pratiques germanopratines, S. 8)


Ihre Protagonisten verfolgen vorrangig die eigenen Interessen, passen sich ihrer Umgebung mehr oder weniger gewinnbringend an und versuchen, soweit sie ihre eigene Geschichte erzählen, sich ins rechte Licht zu rücken und stellen sich damit bloß. Man mag das menschlich nennen, könnte aber der Autorin auch eine Portion Boshaftigkeit unterstellen, die sie davor bewahrt, mit den von ihr dargestellten Personen allzu sehr in Berührung zu kommen. Sie stürzt den Leser nicht in Verzweiflung, weil er mit Menschen in Schwierigkeiten konfrontiert wird, sondern unterhält stattdessen. Auch, wenn es um die nächtliche Gruppen-Vergewaltigung einer Landtierärztin mit nachvollziehbarer, aber recht unwahrscheinlicher, unmittelbarer Racheaktion geht, wirkt sie distanziert:

L'alcool les avait rendus inoffensifs mais je leur ai administré à chacun une dose de Ketamine. Je ne voulais pas qu'ils tressaillent. Je tenais à mon confort.

J'ai mis des gants stériles et j'ai bien nettoyé tout ça à la Bétadine.

Ensuite, j'ai tendu la peau du scrotum. Avec ma lame de bistouri j'ai fait une petite incision. J'ai sorti les testicules, J'ai coupé. J'ai ligaturé l'épididyme et le vaisseau avec du catgut n° 3,5. J'ai remis ça dans les bourses et j'ai fait un surjet. Du travail très propre.

(Catgut, S. 85)


Einen gehörigen Anteil an diesem Eindruck, den ihre Geschichten vermitteln, hat die Sprachebene, die Anna Gavalda wählt. Sie schreibt, wie sie an Stelle ihrer Figuren sprechen würde, gibt einer ungeschliffenen Mündlichkeit und Umgangssprache den Vorrang und damit der impulsiven, emotionalen Ebene. Dieses Französisch ist verkürzt und hat so neben seiner scheinbaren Lebendigkeit auch seine Grenzen. Als Autorin legt sie dem Leser Beobachtetes, Imaginiertes, vielleicht auch Tagträumereien vor - Abläufe, die nicht immer nachzuvollziehen sind, weil sie häufig aus dem Zusammenhang gerissen oder konstruiert erscheinen. Eventuelle Schlußfolgerungen, die allerdings aufgrund der Oberflächlichkeit der meisten Szenen und Gedankengänge kaum naheliegen, überläßt sie dem Leser.

Eine weitere Geschichte beinhaltet Reflexionen und neue Liebe eines nicht mehr ganz jungen Rock-Stars:

J'ai baisé des milliers de filles et la plupart, je ne me souviens pas de leur visage.

Je ne dis pas ça pour faire le malin. Au point où j'en suis avec tout le fric que je gagne et tous ces lèche-culs que j'ai sous la main, tu penses bien que j'ai besoin de caqueter dans le vide.

Je le dis comme ça parce que c'est vrai. J'ai trente-huit ans et j'ai oublié presque tout dans ma vie. C'est vrai pour les filles, et c'est vrai pour le reste.

Ça m'est arrivé de retomber sur un vieux magazine du genre de ceux que tu peux te torcher le cul avec et de me voir sur une photo avec une poule à mon bras.

(Ambre, S. 45)


Für den Französischlernenden ist dieses Buch primär deshalb von Interesse, weil es sich um wirklich gesprochenes Französisch handelt, mit dem man sich lesend intensiver und leichter auseinandersetzen kann, als wenn man es nur hört und einfach nicht schnell genug versteht. Man sollte sich allerdings auch darüber im klaren sein, daß es sich hier um einen als nicht sehr gewählt empfundenen Sprachgebrauch handelt, für den das Umfeld stimmen muß, wenn man nicht Befremden auslösen will.

Zwei Brüder verabreden, den Streit um eine Frau per Flipper-Spiel zu entscheiden.

- On la joue au baby.
- C'est pas très galant.
- Ça restera entre nous, monsieur le gentleman de mes
  fesses qui essaye de piquer les nanas des autres.
- D'accord. Mais quand?
- Maintenant. Au sous-sol.
- Maintenant?
- Yes, sir.
- J'arrive, je vais me faire un bol de café.
- Tu m'en fais un aussi s'te plais...
- Pas de problème. Je vais même pisser dedans.
- Crétin de militaire.
- Va t'échauffer. Va lui dire adieu.
- Crève.
- C'est pas grave, va, je la consolerai.
- Compte là-dessus.

(Je voudrais que quelqu'un m'attende quelque part, S. 67)


Nana* (Tussi, Schnecke, Mädchen, Mädel, Braut, Freundin...), pisser V (pissen), crétin péj (Schwachsinniger, Idiot) usw. sowie die Kürze der Kommentare sind nicht immer nachahmenswert.

Mit einem modernen Taschenwörterbuch sind diese Texte recht gut zu bewältigen, es läßt sich damit allerdings nicht alles klären. Im Zweifelsfall empfiehlt sich die Reclam-Ausgabe, die mit ihren Vokabeln und sprachlichen Kommentierungen sowie Hintergrundinformationen im Nachwort die Hilfestellung bietet, die man braucht, wenn man noch am Lernen ist oder sich über die Lektüre hinaus mit Autorin und Werk beschäftigen möchte.


*


Zusätzlich zur umgangssprachlichen Ausdrucksweise und szenischen Anlage dieser Texte mag jenen, die sich damit in Schule oder Sprachkurs noch abgemüht haben, das Fehlen des Passé simple und des Passé antérieur auffallen. Dies ist eine Begleiterscheinung der seit längerem schon nicht nur hierzulande zu beobachtenden (Rück-)Entwicklung von Sprache und Sprachfertigkeit, die damit einhergeht, daß vielfach von der - früher üblichen, länger angelegten - Erzählform abgesehen wird zugunsten der oben bereits erwähnten Mündlichkeit, die an ein lockeres und unverbindliches Geplauder unter Bekannten erinnert. Das läßt diese Geschichten vielleicht kurzweilig erscheinen, macht sie aber auch kurzlebig, denn bei Texten wie den vorliegenden hat man das Pech, in ihnen lediglich das zu finden, was man sowieso schon kennt und versteht. Grammatische Formen und ein Erzählstrang, die eine größere Differenzierung sowie Präzision beim Schreiben und damit gleichzeitig Geduld und Aufmerksamkeit beim Zuhören oder in diesem Falle Lesen erfordern, sind bei dieser Art Unterhaltung fehl am Platze. Es zeigt sich nicht nur, daß der Unterschied zwischen Umgangs- und Schriftsprache zu verschwinden droht, auch dem sprachlichen Vermögen, einen Gedanken gesprächsweise in unbekannte Regionen weiterzuspinnen oder gar fremde Weltsichten und philosophische Entwürfe zu erkunden, scheinen Grenzen gesetzt. An diese Stelle treten im vorliegenden Fall das Klischee und mit ihm die Neigung zur Häme und zur Selbstbespiegelung.

Regardez-la, comment elle parle à ses employées. C'est nul. Elle a sa lèvre supérieure qui se rebique, elle doit nous trouver tellllllllement mais tellllement connes. Moi, c'est pire, je suis l'intello. Celle qui fait moins de fautes d'orthographe qu'elle, et ça, ça la fait vraiment chier.

"Le magasin sera fermer du 1 au 15 Août"

Attends ma grande... y'a un problème.

On t'a jamais appris à remplacer par un verbe du troisième groupe? Dans ta petite tête décolorée tu te dis: "Le magasin sera mordu ou battu ou pris du 1 au 15 Août". Tu vois, c'est pas compliqué, c'est un participe passé que ça s'appelle! C'est pas formidable ça...!?

(The Opel Touch, S. 38)


Mit leicht überheblichem Spott (attends ma grande, on t'a jamais appris...?, dans ta petite tête, etc.) steht die Protagonistin trotz der eigenen Misere nach außen hin cool über den Dingen und weiß dies mit jeder Wendung kundzutun: Ça fait du bien - Das tut gut...

Elle me regarde, on se marre comme des baleines. On est ensemble et on se marre:

1°) au bon temps
2°) à "Poêle Tefal" (parce qu'il ne voulait surtout pas s'attacher)
3°) à son Opel customisée
4°) à son volant en moumoute
5°) à son perfecto qu'il ne met que le week-end et au pli impeccable
de son jean 501 que sa maman réussit en appuyant bien fort sur le fer.

Ça fait du bien.

(The Opel Touch, S. 42)


Diese Texte sind, das muß man der Autorin lassen, beispielhaft für den Stand des gesellschaftlichen Mit- bzw. Gegeneinanders, unter dem ihre Figuren kranken, und für seinen Niederschlag in der Sprache, erkennbar an Formulierung und Wortwahl, die in auffälliger Häufung die Herabsetzung des anderen beinhalten. Die einfachen Inhalte, gepaart mit entsprechend heruntergebrochenem Satzbau, machen die Texte auch für den nicht so Geübten relativ leicht zu lesen.

Wieweit jedoch das Verständnis selbst bei diesen Inhalten für den Hintergrund der gelesenen Worte geht, auch wenn man eine deutsche Übersetzung dafür parat hat, ist noch eine ganz andere Frage. Anna Gavalda verwendet wie viele heutige sowohl deutsche als auch französische Autoren ihr Vokabular weitgehend unreflektiert. Nana*, um nur ein Beispiel zu nennen, für das die üblicherweise angebotene Übersetzung Tussi ein wenig zu hart klingt, wird in seiner Bedeutungsgeschichte als Konkubine, Prostituierte, leichtes Mädchen oder jegliche Frau, die sich aushalten läßt, geführt. Ursprünglich war es wohl eine Verniedlichung des Namens Anna, die, populär geworden durch Émile Zolas Roman "Nana" über eine Kokotte, zunächst auf den entsprechenden Berufsstand übertragen wurde und dann auf jede (junge) Frau. Über die weiteren Implikationen ließe sich noch eine Menge sagen...


*


Je voudrais que quelqu'un m'attende quelque part ist das erste Buch von Anna Gavalda, das veröffentlicht wurde. 1999 bei Le Dilettante erschienen, wurde es in Frankreich mit 200.000 verkauften Exemplaren ein Jahres-Bestseller. Die Autorin ist 1970 geboren und lebt mit zwei Kindern, geschieden, bei Paris. Sie hat Literatur studiert, ist von Beruf Französischlehrerin.


Sprachgebrauchsebenen (Umgangssprache)

* Argot
V vulgaire - vulgär
P populaire - schnoddrig, grob
F familier - alltagssprachlich
péj péjoratif - beleidigend


Bücher von Anna Gavalda:

o Erschienen in der Fremdsprachenreihe von Reclam:

- Je voudrais que quelqu'un m'attende quelque part
  Hrsg.: H. Keil, 255 S.
  UB 9105, 5,60 Euro

- 35 kilos d'espoir
  Hrsg.: H. Keil, 93 S.
  UB 9148, 3,00 Euro


o Deutsche Ausgaben

Carl Hanser Verlag, München
- Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet, 2002, 14,90
- Ich habe sie geliebt, 2003, 16,90
- Zusammen ist man weniger allein, 2005, 24.90

(Leseproben als PDF herunterzuladen unter www.hanser.de)

Sanssouci Verlag, im Verlag Carl Hanser, München
- Das Wetter ist schön, das Leben auch (eine Erzählung aus: Ich
  wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet), 2007, 7,90

Bloomsbury, Berlin
- 35 Kilo Hoffnung, 2004, 12,90
  Kinderbuch ab 12 Jahre

Fischer Taschenbuch
- Ich wünsche mir, dass irgendwo jemand auf mich wartet, 2003, 8,90

o Französische Ausgaben
- Je voudrais que quelqu'un m'attende quelque part, Le Dilettante, 1999
- Je l'aimais, Paris, Le Dilettante, 2002
- 35 kilos d'espoir
- Ensemble, c'est tout, Le Dilettante, 2004

o Hörspielproduktion des WDR
   35 Kilo Hoffnung
   Hörspiel für Kinder. Zweisprachig
   (CD 1: Deutsch / CD 2: Französisch)
   2 CDs, 103 Min., 14,99
   Der Audio Verlag

o Interaktives Hörbuch Französisch:
   Anna Gavalda - Je voudrais que quelqu'un m'attende quelque part
   CD-ROM, 60 Min., 19,80
   Verlag Digital Publishing

(Preisangaben deutsche Euro-Preise)



29. März 2008