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REZENSION/009: Markus Wolf - Freunde sterben nicht (SB)


Markus Wolf


Freunde sterben nicht



Wenn der ehemalige Chef der Hauptverwaltung für Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR aus seinem Leben erzählt, braucht es nicht viel, um das Interesse der Leserschaft zu gewinnen. Schließlich gibt es kaum einen Bereich der Geschichte der beiden deutschen Staaten, der so sagenumwoben wäre wie die gegenseitige Unterwanderung durch die jeweiligen Geheimdienste. Gerade davon ist in dem Buch "Freunde sterben nicht" jedoch nur am Rande die Rede. Zwar vergißt der Leser, dem die Person des ehemaligen HVA-Chefs durch seine Präsenz in den Medien und Gerichten der Bundesrepublik nach dem Anschluß der DDR vertraut ist, niemals ganz, um wen es sich bei dem Ich-Erzähler handelt, doch spielt das für die in sehr persönlichem Ton geschilderten Beziehungen zu Freunden und Wegbegleitern aus allen Lebensphasen Wolfs kaum eine Rolle.

Viel mehr steht bei den neun Freunden des Autoren, deren jeweilige Geschichte in den neun Kapiteln des Buches erzählt wird, das Verbindende und Gemeinsame so sehr im Vordergrund, daß die Belange der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, die bei einigen der vorgestellten Personen gegeben war, eher von marginaler Bedeutung sind. Sie erscheinen als notwendiger Bestandteil eines politischen Konfliktes, bei dem es nicht primär um das Obsiegen über den Gegner ging, sondern um die Aufklärung seiner Pläne und Absichten mit dem Ziel, die Verwirklichung seiner unumkehrbaren Dominanz zu verhindern. Nur so ist überhaupt zu erklären, daß die Kontakte des Chefs eines der erfolgreichsten Nachrichtendienste des Kalten Krieges zu einigen seiner Spitzenkräfte in Freundschaften aufgehen konnten, die über die professionelle Sorge um ein gutes Betriebsklima hinaus eine Basis gemeinsamen Handelns erkennen lassen.

So erhält der Begriff der Freundschaft nicht nur durch den so schönen wie anachronistischen Buchtitel, der der Lebensmaxime der Ich-AG und der runduminszenierten Persönlichkeit geradezu als Ausweis von Rückständigkeit und Verlierertum gelten muß, sondern auch durch die besonderen Umstände des politischen Kampfes auf dem Felde konspirativer Arbeit eine vielschichtige Bedeutung. Wolfs Kontakt zu Sir William, so der Spitzname des wie alle anderen vorgestellten Personen nicht beim Nachnamen genannten FDP- Politikers, ist ein Beispiel für die Möglichkeit unbefangener politischer Dialogfähigkeit über Grenzen hinweg, die seitens der antikommunistischen Vorkämpfer der BRD immer tiefer gezogen wurden, um den Übergriff einer sozial egalitären Doktrin unter allen Umständen zu verhindern. Sir William war den langen Weg vom Soldaten in der Armee Wilhelm II. bis zum Kriegsgegner, der als einziger im Parteivorstand der Liberalen 1979 gegen die Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluß votierte und mit 88 Jahren vor dem US-Raketendepot Mutlangen an der Sitzblockade teilnahm, gegangen, weil er die Lektion zweier von Deutschland ausgehender Weltkriege nicht nur auf den Lippen führte, sondern tatsächlich gelernt hatte.

Das Beispiel dieses Politikers ist exemplarisch für das honorige Selbstverständnis, mit dem viele in der BRD lebende Kundschafter der HVA ihre Arbeit verrichteten. Sie diente nicht nur im technischen, sondern auch humanistischen Sinne der Aufklärung, wenn sie wie im Falle Sir Williams, der für seine Informationen kein Geld nahm, der Aufrechterhaltung des Friedens zwischen den beiden deutschen Staaten gewidmet war. Daß dieses Motiv für einen großen Teil der in der BRD angeworbenen wie aus der DDR in die BRD eingereisten Agenten der HVA galt, gehört nach wie vor zu den ungewürdigten historischen Realitäten westdeutscher Geschichtsdoktrin. Statt dessen favorisiert die Mehrheitspresse auch weiterhin das Spektakel um Spione und Verrat, wie etwa die Rezension des Wolf-Buches im "Spiegel" zeigt, in der das Augenmerk vor allem auf die mit Nachnamen und Bild dokumentierte Identität der vom Autoren sicherlich mit Bedacht nicht über die Maßen exponierten Kundschafter gerichtet wird.

Der angebliche Verrat am Vertrauen ihrer Vorgesetzten und Kollegen, den erfolgreiche Ostagenten in Bonner Ministerien begangen haben sollen und der mehr als alles andere Anlaß für die Diffamierung der Mitarbeiter der HVA in der BRD war und ist, wird durch Wolfs Bericht über Johanna, eine seiner erfolgreichsten Kundschafterinnen, auf angemessene Weise konterkariert. Sie hatte aufgrund ihrer Erlebnisse mit Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz allemal gute Gründe, auf ihre Weise dazu beizutragen, dem Widererstarken faschistischer Tendenzen Einhalt zu gebieten. Daß es dazu erforderlich war, gegenüber ihrem Chef, der als FDP- Parteivorsitzender, EU-Kommissar und Bundesminister zur ersten Garnitur der BRD-Eliten gehörte, als jemand anders zu erscheinen, entspricht weit mehr den Gepflogenheiten des politischen Alltags, als es die Unterstellung, in den obersten Etagen der Republik herrschten demokratische Transparenz und moralische Lauterkeit, erahnen ließe.

Wenn überhaupt auf politischem Terrain, wo taktische Winkelzüge und strategische Planung, mithin Varianten des Trügens und Täuschens, Grundlage jedes Handelns sind, von Verrat gesprochen werden kann, dann beim Ausverkauf von Idealen auf eine Weise, mit der das Gegenteil dessen bewirkt wird, das mit ihnen einst beansprucht wurde. Der von Wolf erwähnte Affront, den sich seine Agentin Johanna bei der Strafverfolgung durch die BRD-Justiz leistete, als sie ihre Tätigkeit für die HVA durch die eindrückliche Schilderung ihrer Erlebnisse während der NS-Diktatur verständlich zu machen versuchte, wurde vom Vorsitzenden Richter auf eine solche Weise unterbunden. Er fühlte sich tatsächlich bemüßigt, sie bei den Ausführungen zu ihren Erlebnissen mit Auschwitz-Häftlingen aufzufordern, sich doch lieber den angeblichen Verbrechen der DDR bei der Bestrafung von NS-Tätern und der Sicherung der Landesgrenze zu widmen.

Wenn die Erinnerung an Auschwitz einem deutschen Außenminister heutzutage dazu dient, deutsche Soldaten wieder in den Krieg zu führen und das auch noch gegen ein Land, das schwer unter der Besatzung durch Wehrmacht und SS gelitten hat, wenn mißliebige Staatschefs zur Vorbereitung von Angriffskriegen mit Hitler gleichgesetzt werden, wenn der Bundeskanzler meint, den Militarismus "enttabuisieren" zu müssen, dann handelt es sich angesichts früher in diesem Lande gültiger Positionen allemal um Verrat am Gründungskonsens der Republik. Demgegenüber kann die persönliche Enttäuschung, die sich nach Aufdeckung des doppelbödigen Charakters eines beruflichen Kontaktes einstellt, keinesfalls weltbewegend sein, und sie wurde, wie Wolf im Falle Johannas schildert, von vielen vermeintlich hinters Licht geführten Personen auch nicht so empfunden.

Der zeitgeschichtliche Rahmen, der sich in den Freundschaften des Autors aus frühester Jugend, während seiner Zeit im sowjetischen Exil, als Mitglied der DDR-Elite und schließlich, im Rahmen der Abrechnung der BRD-Justiz mit dem unterlegenen Systemgegner, als verfemter Spionageboß entfaltet, illustriert denn auch eine Geschichte der politischen Auseinandersetzung, die nur dann nicht in brutale Gewalt umschlägt, wenn das verbindende des allgemein Menschlichen vor die Differenzen um die politische Doktrin gestellt wird. So zitiert Wolf aus einem Brief seines amerikanischen Freundes Jim, der als mutmaßliches Mitglied eines US-Nachrichtendienstes wie aufgrund seiner Ansichten durchaus die Seite des Gegners im Kalten Krieg repräsentierte, eine Sentenz des schottischen Nationaldichters Robert Burns, die das Thema Freundschaft von aller sentimentalen Indifferenz befreit auf den Kern ihrer Beständigkeit bringt:

Ich denke, es ist großartig, daß wir Brüder sein werden. Brüder müssen einander nicht lieben. Brüder müssen einander kennen und sich umeinander kümmern. Das ist alles.

Wolf neigt denn auch kaum zu emotionalem Überschwang oder literarischem Pathos, viel mehr zeichnen sich seine Schilderungen durch einen nüchternen und besinnlichen Stil aus, der Aussagen von Gewicht um so prägnanter hervortreten läßt. Als Mitglied einer Generation, die im Kampf gegen Faschismus und Kapitalismus großgeworden ist und deren politische Träume und Hoffnungen zerstoben sind, zeigt er sich mitnichten resigniert. Während er im Nebenherein seiner biografischen Schilderung Kritik an den Personen und Kräften übt, die seiner Ansicht nach für den Niedergang der DDR wie überhaupt der sozialistischen Staatenwelt verantwortlich waren, bezieht er für eine andere Zukunft als diejenige, die nach Lage der Dinge kaum düsterer sein könnte, Position:

Meine Helden der Geschichte waren solche, die wie Spartakus im alten Rom, Thomas Müntzer im Mittelalter oder die Gefallenen der Pariser Kommune am Ausgang des 19. Jahrhunderts an einer Freiheitsutopie auch dann noch festhielten, als der Kampf aussichtslos und verloren schien. Und dennoch haben sie den Fortschritt bewirkt. Wer heute nach dringend notwendigen Alternativen sucht, sich nicht mit den herrschenden Verhältnissen in der Welt abzufinden bereit ist, lebt in solcher Tradition. Viele Menschen passen sich an, die Konformisten sind in der Überzahl. Sie lassen sich von den Mogulen der Medien und vom Schein demokratischer Spielregeln einschläfern, die in Wirklichkeit nur die wahren Machtverhältnisse verschleiern. Es wird aber immer auch Menschen geben, die gute Ideale über das eigene Wohl stellen. Es ist meine Hoffnung, daß darunter viele junge sind, die eine Vision von einer Welt haben, in der menschliche Bedürfnisse vor Profitinteressen gestellt werden.

Aus dem Festhalten an Idealen, welche man als Jugendlicher aus unmittelbarer Anschauung als wert erachtete, sein Leben dafür einzusetzen, und die man nicht aufgrund opportunistischer Gründe und des dringenden Rats einsichtiger Zeitgenossen als infantile Torheit verwirft, können Freundschaften entstehen, die diesen Namen verdienen, weil sie auch härtesten Herausforderungen standhalten. Die sich darin ausdrückende Gemeinschaft von Menschen reicht weiter zurück als die von Wolf angeführten Beispiele vermeintlich durch den Lauf der Geschichte widerlegter Zukunftsentwürfe, und sie beweist gleichzeitig, daß von einer historischen Niederlage des Kommunismus keine Rede sein kann. Gerade die im Widerspruch zu aller Natur stehende Unvergänglichkeit wahrer Freunde belegt, daß es sich beim verbindlichen und verläßlichen Einstehen für den anderen um verwirklichte Zukunft und den Ansatz einer kommunistischen Lebenspraxis handelt, von der man ansonsten nur weiß, daß sie noch niemals gesellschaftliche Realität geworden ist.

Darin besteht in den Augen des Rezensenten die unausgesprochene Aussage des im übrigen äußerst geschmackvoll und ansprechend edierten Buches von Markus Wolf, und damit arbeitet es der Erfüllung des im letzten Satz geäußerten Wunsches, die Spuren seiner Person und die seiner bereits verstorbenen Freunde mögen "nicht zu schnell verwehen", wirksam zu. Wolfs fast das gesamte 20. Jahrhundert überbrückenden literarischen Miniaturen stehen für eine Tradition, an die herrschenden Interessen zufolge am besten gar nicht erinnert werden sollte, da sie nicht nur den Streit wider alle Unterdrückung, sondern auch das Bestehen auf nationale Eigenständigkeit symbolisiert. Die vom Autor gezogene Bilanz des Erreichten könnte nachwachsenden Generationen durchaus Mut machen, sich nicht sklavisch dem ihnen aufoktroyierten Konsens zu unterwerfen, allein die Wahrung des eigenen Vorteils bringe gesellschaftlichen Fortschritt und die einzige Konstante allen Wandels sei dessen schicksalhafte Determination.


Markus Wolf
Freunde sterben nicht
(Das Neue Berlin, Berlin, 2002)