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REZENSION/021: Hartmut Binder - Gustav Meyrink. Ein Leben im Bann der Magie (SB)


Hartmut Binder


Gustav Meyrink

Ein Leben im Bann der Magie


Seit Jahrtausenden ist das Streben der Menschheit darauf gerichtet, dem Leiden auf Erden zu entrinnen durch Erkennen und Durchschauen der Naturgesetze zum Zwecke, sie sich dienstbar zu machen. Außerordentlich sind die Erfindungen und Entdeckungen, die auf diesem Gebiete gemacht wurden, erstaunlicher noch der Rückschritt in allem, was den Instinkt des Menschen anbetrifft. Insbesondere das deutsche Volk scheint sich zum instinktlosesten aller Nationen entwickeln zu wollen, hat es bewiesen vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg. Leider! Wer heutzutage vorzieht, auf die Stimme des Instinktes zu horchen, statt einzig und allein auf die des Verstandes und nicht schnurgerade handelt, wie die Rezepte früherer Erfahrung vorschreiben, die gar oft längst nicht mehr wahr sind, der gilt als Phantast und wehrlos gegenüber dem Zufall. Immer mehr verläßt sich der Mensch auf die Denkdrüse, und da sie ihm nichts verrät, was mit Magie und den andern verborgenen Kräften der Seele zusammenhängt, wähnt er, dergleichen existiere überhaupt nicht oder sei gering zu schätzen.
(Fledermäuse 2. Der Schwarze Habicht, Rastatt 1984, S. 37)

Gustav Meyrink, 1868 in Wien geboren, schuf, seit ihm der Schriftsteller Oscar A. H. Schmitz um 1900 die Anregung gab, seine in Gesprächen aufs unterhaltsamste erzählten Geschichten auch zu Papier zu bringen (S. 245/46), zunächst für die Wochenzeitschrift "Simplicissimus" geniale Satiren auf deutsche Gepflogenheiten, das Militär und alles Bürgerliche, ohne dabei sein ureigenstes, von Geheimlehren nicht nur asiatischer Herkunft bestimmtes Interesse schonend außen vor zu lassen. Aufgrund der "ätzenden Schärfe" (S. 560), die Meyrink in Texten wie "Die schwarze Kugel", "Der violette Tod" oder "Der Löwe Alois", so offen wie feinsinnig einsetzte und an der eine breite Leserschaft großen Gefallen fand, wurde ihm, sozusagen rückwirkend, seit 1917 mit einer weite Kreise ziehenden Diffamierungskampagne (S. 558-567), die bis zu seinem Tod im Jahre 1932 nachhallte, der Mund verboten. Der Autor der vorliegenden Biografie Gustav Meyrinks, Prof. Dr. Hartmut Binder, berichtet in seiner sorgfältigen Analyse der Ereignisse, dass der Kunstliebhaber und Verleger Hans von Weber, ein "Parteigänger" Meyrinks, zu dessen Verteidigung,

auf die Autonomie der Kunst [pochte], indem er die Überzeugung äußerte, im künstlerischen Werk verschwinde der Stoff mit seinen Angriffsflächen hinter der Darstellung. Auch stellte er seinen Lesern die Frage, warum denn niemand vor dem Krieg Anstoß genommen habe, als die Satiren im Simplicissimus erschienen und in Buchform in Tausenden von Exemplaren verbreitet waren: "Ist es nicht ein überaus trauriges Zeichen von Kriegsnervosität, daß jetzt auf einmal, mitten im Kriege, dieser Dichter, der seit 1914 mit keinem Wort sich auf das Gebiet der Politik begeben hat, gehetzt und ausgehungert und gepeinigt wird, wie ein Verbrecher?"
(S. 566/567)

An diesem von von Weber aufgegriffenen Wandel der öffentlichen Moral wird deutlich, dass der in Gustav Meyrinks gedankenvollem Erfahrungsbericht "Die Verwandlung des Blutes" (1917) beschriebene "Instinkt", im Sinne einer ohne vordergründig wirtschaftlichen Nutzen bleibenden, geistige und körperliche Grenzen sprengenden Fähigkeit, die über alltägliche Gewöhnlichkeiten und Ordnungen hinauszuführen vermag, in Zeiten gezielter Rückbesinnung auf "alte" Tugenden wie militärischen Gehorsam, christliche Bürgerpflichten und konservative Doppelzüngigkeit nur als Bedrohung für die organisierte Öffentlichkeit aufgefasst werden konnte. In einer von gesteigertem Kriegsbegehren geprägten Gesellschaft verdienen "instinktiv" Handelnde, deren funkenschlagende Ideen möglicherweise auch andere ermutigen, das dumpfe Schweigen zu brechen und sich nicht länger mit faulen Kompromissen über inakzeptable Zustände zufrieden zu geben, einen Maulkorb, der im günstigsten Falle Zensur und Diffamierung, im schlimmsten Falle Mord und Totschlag bedeutet.

Zusammen mit Gustav Meyrinks vorangegangenen großen Romanerfolgen des "Golems" (1915), der während des ersten Weltkriegs auch in Feldpostausgaben massenhaft an der Front verbreitet war (S. 506), des "Grünen Gesichts" (1916) und der "Walpurgisnacht" (1917) kann die Zensur als Hinweis darauf gesehen werden, dass der Autor mit seinen zukunftweisenden Vorstellungen einer gesellschaftlichen Strömung das Wort redete, in der sich breite Teile der Bevölkerung wiederfanden, und die, hätte man ihn und andere gewähren lassen, möglicherweise durchaus eine empfindliche Störung für die Krieg und Nation fördernden, eng ans Militär geknüpften Eliten hätte darstellen können. Dem Autor war es zum Glück möglich, in weiser Voraussicht auf die drohende Zensur zu reagieren und seine Texte mit teilweise nur minimalen Eingriffen selber zu ändern (S. 598/599). Was diese Änderungen betrifft, sind Binders ausführliche Erklärungen sehr aufschlussreich, manchmal aber auch unfreiwillig komisch, weil nicht zu erkennen ist, ob der Biograf aufgrund von Belegen argumentiert. Bei aller Logik, eher hergeholt wirken Kommentare wie:

In anderen Fällen gelang es Meyrink, die für notwendig gehaltenen Änderungen so zu formulieren, daß sie sich satirisch gegen denjenigen richteten, der die Ursache der ganzen Prozedur gewesen war: So wird in Das -- allerdings der Oberleutnant der Infanterie Chiçier, der ehedem Kommis gewesen war, [W 315f.] zu dem Redakteur Hellmut Schreihals, der eine Publizistenkarriere einschlägt und "Kunstredakteur beim allteutschen Pressekonzern" wird, eine deutliche Anspielung, auch im Namen, auf Wilhelm Kiefer, den Herausgeber des Deutschen Volkstums [GW V, 147].
(S. 599)

Meyrinks praktischer Auseinandersetzung u. a. mit der Theosophischen Gesellschaft um Helena Pertrowna Blavatsky, der berühmten und wegen ihrer Betrügereien berüchtigten Spiritistin (S. 107-119), mit dem Rosenkreuzer Alois Mailänder (S. 176-199), bis hin zu dem von Freiherr Albert von Schrenck-Notzing propagierten "wissenschaftlichen" Okkultismus (S. 480-485/S. 626-632), gingen wesentliche Fragen nach der menschlichen Existenz voraus. Seine Anstrengungen mündeten in eine Festlegung auf das Studium hinduistischer und buddhistischer Lehren. Hier standen für Meyrink yogisches Meditieren und der Versuch im Zentrum, Körper, Wahrnehmung und Bewusstsein zu beherrschen, um sich der Fesseln menschlicher Ordnungen wie Zeit und Raum, Schlafen und Wachen, Krankheit und Tod zu entledigen. Ergebnisse, die die tiefe und ernsthafte Entschlossenheit Gustav Meyrinks zeitigten, können heute, wenn überhaupt, dann an seinen Büchern und Schriften nachvollzogen werden:

Habt ihr's versucht? Habt ihr versucht, versucht, immer wieder hartnäckig versucht, auch nur über kleine Krankheiten und Schmerzen des Leibes Sieger zu werden? Anders als durch Arzneifressen und Befolgen von Ratschlägen, die der Arzt gibt, dessen Wissenschaft sehr oft versagt? - Ein verlegenes Schweigen, ein geringschätziges Lächeln; und der Schatten an der Wand wird weiter emsig mit Kalk beworfen. Ein Versuch, sich selbst von Grund aus zu wandeln in einen Menschen, der freier Herr ist über Zufall und Mißgeschick, nicht nur über Krankheiten und kleine Leiden gilt als Wahnwitz. Besonders die, die so stolz betonen, sie seien Herren ihres Willens - in Wirklichkeit jedoch die erbärmlichsten Sklaven einer fremden Willensmacht sind, die heimlich ihr Tun lenkt, ohne daß sie auch nur eine Ahnung davon haben, gerade sie wollen nicht einmal den Versuch wagen. Sklaven sind sie des Demiurgen, den sie für Gott halten und für den Verhänger des Schicksals. Für sie ist er es auch. Verlassen ist, wer sich auf andere verläßt, und seien diese anderen auch Götter.

Philosophische Erkenntnisse allein können die Rettung aus der Tretmühle, zu der das Leben des Menschen geworden ist - es wahrscheinlich von Anbeginn gewesen ist -, bringen, so sagen die Einsichtsvollen unserer Rasse. Sind unsere Philosophen der Tretmühle entronnen? War Kant imstande, sich auch nur Zahnschmerzen zu vertreiben? Er hat es nicht angestrebt, könnte man erwidern. Ich glaube nicht! Sicherlich wird ihm ein oder das anderemal der Gedanke gekommen sein: merkwürdig, daß ich so viel weiß und doch nicht einen Schritt weiter gelangt bin auf dem Weg des Könnens. Und wenn nicht ihm der Gedanke gekommen ist, so doch dem Manne mit dem "gesunden Menschenverstand". Theorien von unerhörter Tiefe haben unsere europäischen Philosophen aufgestellt, was das Dasein, das Leben die Erscheinung der sichtbaren Welt anbelangt, und sie haben die Richtigkeit dessen, was sie herausgefunden, logisch und sogar mathematisch bewiesen; den Weg aber, wie man Herr wird über das Geschick, haben sie nicht gezeigt. Kiwis - Vögel ohne Flügel - sind ihre Erkenntnisse geblieben. Theorien sind von der Praxis durch eine gähnende Kluft getrennt, gleichen Frauen, die keine Kinder gebären. Umstellen den Weg der Erkenntnis allein bewirkt nicht, daß das Fatum sich ändert. Ein Wegdenken des Schattens an der Wand hat keinerlei Wirkung; um ihn zu verändern, muß der Gegenstand, der zwischen Licht und Wand steht, anders gestellt werden. Wer das vermag - bildlich gesprochen -, der wird Herr über sein Schicksal. Gewiß: es ist möglich, daß der "Schatten" dadurch noch häßlicher wird, als er vorher war, aber dann liegt die Schuld an dem, der falsch operiert. Hier muß das Wissen der Tat vorhergehen.
(Fledermäuse 2. Der Schwarze Habicht. Rastatt 1984, S. 39)

In der Absicht, das dichterische Wirken von Meyrinks Novellen und Romanen in literaturwissenschaftliche Theoreme zu bannen, stößt der wissenschaftliche Sprachgebrauch an seine Grenzen und erstickt im Vakuum seiner eigenen Strukturen, sobald Erzählelemente "aus dem Bereich des Unnatürlichen, Abseitigen, des Anomalen, Pathologischen" hinzutreten:

Auch die zentrale Rolle des Okkultismus unterscheidet Meyrink von allen seinen Zeitgenossen. Besondere Wirkungen auf den Leser entstehen außerdem dadurch, daß sprachliche Mittel der Verdeutlichung und grammatische Beziehungen ihrer Funktion beraubt werden. So entstehen Formeln der Unsagbarkeit, die als Steigerung der Vorstellung dienen, freilich Steigerungen ins Leere, die der Phantasie fast unbegrenzten Spielraum lassen.
(Kafka-Handbuch, Bd. 2. Der Mensch und seine Zeit. Stuttgart 1979, S. 89/90)

Eine Ausnahme, zumindest was das Engagement betrifft, mit dem die literaturwissenschaftliche Forschung betrieben wurde, bilden die Betrachtungen von Marianne Wünsch, die in ihrem Buch "Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen" von 1991 Meyrinks Rolle umfassend bearbeitet.

Die Bedeutung Meyrinks visionärer Schöpfungen, die in ihren Lesern mit facettenreichem Witz und heimlicher Intensität die beunruhigende Glut dunkler Ahnungen schüren, wurde unterschätzt und wird unterschätzt bleiben. Seine Werke, die wohl tatsächlich nur jene Menschen ansprechen, für die sie geschrieben sind, werfen mit erschreckender Direktheit grundlegende Fragestellungen auf, an denen sich die Welt teilt. Der Biograf Hartmut Binder hat seine außerordentliche Arbeit zwar mit allem archivalischen Engagement und großer Liebe zum Detail verfasst. - Zu denen, die Meyrinks Schriften aus tiefstem Inneren schätzen, scheint er aber nicht zu gehören, war er doch bereits 1979 Herausgeber des Buches, aus dem die oben zitierte distanzsuchende Feststellung Christoph Stölzls stammt, Meyrinks Geschichten steigerten die Vorstellung ihrer Leser "ins Leere"... - Um es kurz gesagt in den 1917 verfassten Worten von Kurt Pinthus auszudrücken:

Jedem wird klar sein: Meyrink schrieb seine Romane nicht nur, um Menschen und Ereignisse darzustellen, sondern um gewisse Lehren und Erkenntnisse in populärer Form zu verbreiten. "Das grüne Gesicht" scheint sogar hauptsächlich um der Lehre willen entstanden zu sein. Die bunte erregende Hülle wurde erfunden, damit sie den lesenden Geist anlocke, den Leib der Lehre, der sich unter ihr birgt zu genießen. Jeder wird also selbst zu urteilen haben, ob er die Möglichkeit dieser Romane als Kunstwerk bejaht, - und sodann, ob er die Lehren Meyrinks annimmt oder verwirft - oder sie als Kuriosum interessiert beschaut.
(Fledermäuse. Ein Geschichtenbuch. Leipzig 1917, S. 352/353)

Über Jahrzehnte waren Gustav Meyrinks Bücher, wenn überhaupt, so ausschließlich im Antiquariat zu erstehen und obwohl seit einigen Jahren eine verlagstechnische Meyrink-Renaissance eingesetzt hat und seinen Romanen auch in der Literaturwissenschaft durchaus ein Platz im "Sonderfälle" behandelnden Diskurs über Phantastische Literatur zukommt, wird ihnen eine gewisse Ernsthaftigkeit, scheinbar nur der Vollständigkeit halber, aufgrund ihres literaturgeschichtlichen Wertes zugesprochen.

Unter diesen Gesichtspunkten überrascht es wenig, dass die neueste Auseinandersetzung mit der Biographie des weltoffenen und sowohl in westlicher als auch in östlicher Mystik und Religion gelehrten Dandys ob ihres immensen Detailreichtums wohl sehr beeindruckt und in ihrer informativen Ausführlichkeit das Herz jedes Meyrinkbewunderers höher schlagen lässt; hinsichtlich Meyrinks Persönlichkeit jedoch bedauerlicherweise in Teilen aus skeptischen, ja sogar abschätzig anmutenden Betrachtungen besteht, deren Basis nicht selten kleinliche und haarspalterische Perspektiven auf den ökonomischen und "unmoralischen" Lebenswandel des Autors bilden.

Die Vorgehensweise des Franz Kafka- und Prag-Spezialisten Prof. Dr. Hartmut Binder, Jahrgang 1937, folgt dem in der Literaturwissenschaft "hermeneutisch" genannten Verfahren, das historische und biografische Gegebenheiten des Autorenlebens mit den literarischen Werken des jeweiligen Schriftstellers in Deckung zu bringen sucht und das in Kreisen der jüngeren literaturwissenschaftlichen Strömung "strukturaler Textanalyse", die rein werkimmanent analysiert und argumentiert, weitgehend geächtet ist. Obwohl Binders sorgfältig recherchierte "Enthüllungen" äußerst interessante Betrachtungen zu Meyrinks privatem und beruflichem Umfeld und Personenkreis bergen, entufern sie regelmäßig in nahezu anmaßende Spekulationen, die seltsam standpunktlos bleiben und jegliche Anbindung an die Gegenwart missen. Dieser Mangel an Gegenwartsbezug ist es wohl auch, der den Leser am Ende des Buches zu dem Schluss kommen lässt, dass er, möchte er Meyrink nahe kommen, seine Werke am besten selbst studiert und die vorliegende Biografie eher im Sinne eines mit Vorsicht zu genießenden Nachschlagewerks der historischen Gegebenheiten benutzt.

Die mit äußerster Akribie ausgewertete Materialsammlung, die ihre Quellen aus der Vergangenheit bis in genaueste (Un-)Wahrscheinlichkeiten der zeitlichen Reihenfolge und literarisch-topographischen Gegebenheiten zu durchdringen vorgibt, will den Eindruck größtmöglicher Vollständigkeit erwecken. Die Beschreibung der damaligen Prager (Straßen-)Verhältnisse ist für Binder, der das alte und neue Prag wie seine Westentasche zu kennen scheint, ein Leichtes, weswegen ihr wohl auch so viel Platz eingeräumt wird. Der Leser darf Meyrink und seinen Figuren auf Schritt und Tritt folgen und erfährt dabei bis ins kleinste stadtplanerische Detail, welche Teile der Stadtbeschreibungen aus Meyrinks Romanen real existent waren und welche erdacht sind. Binder nutzt hier die Gelegenheit, sein Wissen, das er bereits in Büchern über Kafka oder das literarische Prag zum Besten gegeben hat, noch einmal Meyrink-gerecht aufzubrühen. Auf unangebrachte Weise besserwisserisch wirken dabei Sätze wie:

Auf jeden Fall dämonisiert Meyrink [im "Golem", Anm. d. Red.] das alte Gemäuer der Hahnpaßgasse, das am Ende des 19. Jahrhunderts zwar Spuren des Verfalls aufwies, sich jedoch im übrigen weit weniger geheimnisvoll ausnahm, als er seinen Lesern glauben machen will, zu einer spukhaften Vision.
(S. 533)

Nicht nur hier scheint der Biograf die Tatsache, dass Meyrink seine tatsächlichen Umgebungen und sonstige Erfahrungen künstlerisch verarbeitete, also in künstlerischer Absicht veränderte, als mutwilliges In-die-Irre-Führen der Leser misszuverstehen.

Dass dem Werk des erfahrenen Hochschullehrers Hartmut Binder, der von 1973 bis 2000 an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg lehrte und sich spätestens seit seinen ersten ausführlichen Arbeiten zu Franz Kafka Mitte der 70er Jahre souverän archivalischer Routinen zu bedienen weiß, nur ein begrenzter, weil auf die untersuchten Quellen festlegbarer "Wahrheitsanspruch" zukommen kann, liegt in der Natur einer sich auf amtliche und persönliche Schriftdokumente aufbauenden quantitativen Analyse. Das Erfordernis, den Ergebnissen eine tiefergehende Einschätzung und Interpretation folgen zu lassen, wird von Binder leider nicht selten dazu benutzt, seine persönlichen (Vor-)Urteile über Meyrink zu untermauern.

Der Biograf will, wie aus Klappentext und Vorwort des Buches hervorgeht, endlich einmal kräftig aufräumen mit den geheimnisvollen und oft kolportierten Geschichten, die sich um den berühmt berüchtigten Prager Autor ranken, und er verspricht, sich Meyrinks Leben anhand "harter Fakten" zu nähern. Diese Aufgabe gestaltete sich jedoch schwieriger als erwartet, denn so viele amtliche Dokumente und schriftliche Fremdzeugnisse Binder und seine Helfer untersucht haben mögen, so interessant die sozialen Verstrickungen und "okkulten" Ziele Meyrinks auch in Szene gesetzt werden, der Forscher darf, wie viele vor ihm, eine gleichsam von Meyrink selbst gezogene unsichtbare Linie nicht überschreiten. Aus Wilhelm Kelbers "Besuch bei der Witwe von Gustav Meyrink" von 1956 zitiert Hartmut Binder:

"Briefe aufheben war bei Meyrinks verpönt. Er fügte jedem Brief an sie extra und allein zu diesem Zwecke einen Satz ein, der jede Weitergabe oder längere Aufbewahrung unmöglich machte." Und Meyrinks Enkel wußte zu berichten, der Großvater habe seine Briefe so verschmiert, daß sie unleserlich wurden.
(Fußnote 5, S. 688)

Der bereits zu Lebzeiten sagenumwobene Publizist hat, und darauf lässt wohl auch die Unauffindbarkeit der von Binder "besonders schmerzlich" vermissten (S. 10) privaten Briefwechsel zwischen Meyrink und seiner zweiten Ehefrau Philomena Berndt schließen - ihre Beziehung begann unter schwierigsten gesellschaftlichen Umständen -, bestimmte Bereiche seines Lebens absichtlich diffus gehalten und Spuren wahrscheinlich mit Bedacht verwischt, um sich, seine Familie, enge Freunde und fremde Bewunderer u. a. vor boulevardträchtigen und vor nichts halt machenden Ausschlachtungen zu bewahren. Die Biografie weist deshalb zusammen mit anderen unauffindbaren Materialien verständlicherweise Informationslücken auf, die durch weit ausholende Darstellungen des Lebens und Wirkens von an Geheimlehren oder künstlerisch-literarischem Schaffen interessierten Freunden Meyrinks, oder auch seiner militärischen Widersacher, nur bedingt eingekreist werden. Dennoch, Binder liefert nicht nur mehr Informationen als der Leser beim ersten Studium verarbeiten kann und je zu Gustav Meyrink zusammengetragen worden sind, sondern er nimmt sich auch wie nebenbei Platz, ein Bild der Zeit von ca. 1770 bis 1932 zu malen, das trotz konservativer Prägung viele interessante Fragen aufzuwerfen vermag. Der wertvolle, 784 Seiten starke, "mit 303 Abbildungen und zwei Stadtplänen" versehene Band macht heutiger Buchmacherkunst alle Ehre.

Dass gerade Meyrinks Eigenschaft augenzwinkernd nur im weitesten Sinne Aufschlussgebendes über sich selbst zu verbreiten den wahrheitsliebenden Biografen Binder zu der Annahme führt, der Autor habe "gute Gründe" gehabt, über seine näheren Lebensumstände zu schweigen oder sie sogar zu verstecken, obwohl diese doch zumindest in Prag ohnehin öffentlich bekannt gewesen sein dürften, ist nicht verwunderlich (S. 9/10). Dem deutschen Bankier Meyrink, den sein Lebensweg u. a. nach Hamburg, München, Prag, Montreux und Starnberg führte und der zu Unrecht von Seiten der Literaturwissenschaft ob seiner für heutige Verhältnisse "politisch unkorrekten" Sprache schon mal zum Verfechter rassistischen Gedankenguts erklärt wird, wurde vieles vorgeworfen. Binder untermauert einige dieser Übel und kolportiert sie schließlich, in einem Fall sogar durch die Schaltung von wortwörtlich übernommenen Originaldokumenten eines Gerichtsstreits zwischen Gustav Meyrink und Angehörigen des Militärs (S. 256-288). Hier, wie auch in der Darstellung des Gerichtsprozesses, in dem Meyrink unterstellt wurde, er habe seinen Kunden Geld unterschlagen, und obwohl er aus seiner daraufhin angeordneten Untersuchungshaft als juristisch vollständig rehabilitiert hervorging (S. 289-305), scheint Binder in seinen Kommentaren latent für Meyrinks Gegenparteien das Wort zu führen. Das Wagnis, die juristische Auslegung damaliger rechtverständiger Autoritäten wie z.B. des Prager Militärgerichts in Frage zu stellen, das in mehreren "Ehrenhändeln" Meyrinks, der sich, so Binder, "als Prozeßhansel" hervorgetan habe (S. 9), zu Ungunsten des Autors entschied, ist seinem Biografen zu groß. - Schließlich sprechen die Akten der juristischen Instanzen ja eine deutliche Sprache ...

Schon im Vorwort des Buches macht der sonst so gewissenhafte Forscher Hartmut Binder auf Umwegen deutlich, dass er, obwohl ihm Selbstzeugnisse zu den frühen Jahren Meyrinks fehlen, offensichtlich keine Probleme hatte, den Angeklagten wenigstens seiner Delinquenz zu überführen. Binder bedient sich dabei eines völlig fehlplazierten naiv-jovialen Untertons, der auf den folgenden 770 Seiten leider auch dort noch nachklingt, wo er eigentlich gar nicht mehr angeschlagen wird.

Gustav Meyrink hat zur Erhellung seiner Lebensumstände wenig beigetragen und eher dafür gesorgt, daß sie im dunkeln blieben. Soweit möglich, weigerte er sich, biographische Sachverhalte preiszugeben; auch unterließ er es, die früh aufkommenden Legenden über seine Prager Jahre zu dementieren. Das ist verständlich, denn was er zu berichten gehabt hätte, war wenig geeignet, ihn in günstigem Licht zu zeigen: Meyrink war unehelich und, weil seine Mutter die Matrikelführung betrogen hatte, überdies unter falschem Namen geboren worden, hatte eine mäßige Schulbildung, aber kein Studium vorzuweisen, spielte eine unrühmliche Rolle in einem gesellschaftlichen Skandal, tat sich als Prozeßhansel hervor, scheiterte als Geschäftsmann (nicht nur als Bankier), saß wegen Betrugsverdacht in Untersuchungshaft sowie wegen Beleidigung im Gefängnis und verließ seine Frau um einer anderen willen.

Meyrink muß in Bedrängnis geraten sein, als der Albert Langen Verlag aus Anlaß seines zehnjährigen Bestehens einen Katalog plante, in dem die hier publizierenden Autoren über sich Auskunft geben sollten. Er half sich damit, daß er den ihm abverlangten Lebenslauf als eine Art Polizeiprotokoll gestaltete, in dem das Behördendeutsch der Habsburgermonarchie karikiert wurde. Das ermöglichte ihm, seine Herkunft, sein berufliches Scheitern und seine Auseinandersetzungen mit der Justiz zu verschweigen. Ehrenaffären und Untersuchungshaft, von denen man im Albert Langen Verlag natürlich wußte, werden zwar erwähnt, aber in einem, wie sich zeigen wird, durchaus unzutreffenden Sinn gedeutet und überdies falsch datiert. So lag der erwähnte Strafprozeß nicht vier Jahre zurück, wie Meyrink hier behauptet, sondern lediglich zwei.

Entsprechend dieser Strategie weigerte er sich 1916 dem Übersetzer Borivoj Prusík gegenüber, für die tschechische Version seines Golem-Romans biographische Informationen beizusteuern. Er begründete dies damit, daß ihm augenblicklich die Zeit fehle, die zur Bewältigung einer solchen Aufgabe nötig sei; auch bezweifelte er, daß ein solcher Bericht dem geplanten Buch nützen könne. Später veröffentlichte er ein Zirkular, Selbstbeschreibung des Autors Gustav Meyrink betitelt, in dem er in einer heutiger Praxis vergleichbaren Weise über sich Auskunft gab, ohne heikle Punkte berühren zu müssen: Es beginnt mit den Stichwörtern Wohnort, Geburtsort, Geburtsdatum, Staatsangehörigkeit, Religion, Bildungsgang, Beruf, geht dann zu Sachverhalten wie Größe, Gewicht, Brust-, Bizeps-, Oberschenkel- und Unterschenkelumfang über und schließt mit Stellungnahmen zu verschiedenen Lebensbereichen, so daß der Leser, von der Kauzigkeit dieser Abfolge in Bann geschlagen, vergißt, daß Herkunft, Ausbildung und natürlich die skandalträchtigen Ereignisse fehlen, die sowohl seinen zweifelhaften Ruf begründeten als auch Grundlage seiner schriftstellerischen Arbeit waren. Erst 1931 sprach er in einem Interview, das er mit dem Journalisten Karl Marilaun führte, über seine uneheliche Geburt, seine Schulbildung und seinen Bankierberuf, freilich wiederum, ohne Ehrenhändel und Prozesse zu erwähnen.
(S. 9/10)

Dem empfindsamen und auf ein möglichst unangepasstes und extravagantes Auftreten bedachten Gustav Meyrink, der sich auf seine Jugend zurückblickend selbst schmunzelnd als "Gigerl" bezeichnete (S. 75), war sein gesellschaftliches Ansehen mit Gewissheit nicht egal, darüber geben auch die von Binder liebevoll in die Biografie eingebundenen hochqualitativen Fotografien des Autors und begeisterten Ruderers aus verschiedenen Jahren Aufschluss. Aber seine Weigerung, sich der ungerechten und brutalen Fessel militärisch-amtlicher Ordnung und soldatischer Eitelkeit in aller Öffentlichkeit anzudienen, resultiert doch wohl eher aus seiner ungeheuren Fähigkeit, vorherrschende Gewaltverhältnisse in Frage zu stellen, die es ihm schließlich auch ermöglichte, sich kontinuierlicher als andere an den Abgrund menschenmöglicher Erkenntnis zu begeben. Das von Binder angedeutete beleidigte Duckmäusertum, dass Meyrink dazu gebracht haben soll, seine harten gesellschaftlichen "Erfahrungen" im Sinne kunsttherapeutischer Maßnahmen in seinen Werken zu "verarbeiten", um besser damit leben zu können und Binders Behauptung, dass die "skandalträchtigen Ereignisse, die [...] seinen zweifelhaften Ruf begründeten [...] auch Grundlage seiner schriftstellerischen Arbeit" gewesen sein sollen, sind eine Frechheit.

Der Pädagoge kommt wieder und wieder auf diese vermeintliche Erschütterung und Bitternis des Schriftstellers zu sprechen, wie um seiner aus welchen "Überlieferungen" auch immer gewonnenen Auffassung zu Meyrinks Seelenzustand bleibenden Nachdruck zu verleihen:

In seiner Verwandlung des Blutes schreibt Meyrink, als er erkannt habe, daß "die wunderschöne Kulisse" des Lebens "kein echter Palast war, sondern bemalter Pappendeckel", in dem ihm selbst eine unerfreuliche Rolle zugedacht war, habe ihn "ein wilder unbändiger Haß" ergriffen, der sich in Satiren gegen alles Komödiantentum bahngebrochen habe. (F 209f.) Betrachtet man die Themen, die er sich in seinen Satiren vornahm, erkennt man, daß eine wesentliche Triebfeder für seine Produktion die Verletzungen waren, die ihm von der Prager Gesellschaft während seiner Krankheit, in den Ehrenaffären und im Zusammenhang mit seinem Strafprozeß zugefügt worden waren. Denn zwar finden sich in seinen Texten auch allgemein gehaltene Ausfälle gegen Spießer, aber die eigentliche Stoßrichtung geht doch ganz ausgeprägt gegen Medizin, Militärs und Justiz, und zwar noch zu einer Zeit, als er Prag längst verlassen hatte. (S. 346)

Einerseits wollte sich Meyrink psychische Entlastung verschaffen, indem er den erlittenen Unbill satirisch abarbeitete, andererseits bediente er sich bei der Konzeption seiner Erzählungen und Romane der okkulten Erfahrungen, die er im Lauf der Jahre gewonnen hatte.
(S. 348)

Was Binders Argumentation in Hinsicht auf die ohnehin schwer fassbaren Gebiete des Spiritismus und Okkultismus, die von der Jahrhundertwende bis in die 20er Jahre auch bei Wissenschaftlern und anderen ernstgenommenen Mitgliedern der Gesellschaft populär waren, betrifft, so kann er sich natürlich auch hier nur an die historische Faktenlage halten. Die Art und Weise aber, in welcher Beliebigkeit die verschiedenen Stellungnahmen Gustav Meyrinks zu "okkulten Phänomenen" wie der Entstehung von "Teleplasma", Geistererscheinungen, der Levitation von Gegenständen oder sogar "des Mediums selbst" (S. 629) mit seiner erheblichen Entwicklungsschritten unterworfenen und schlussendlich kritischen Haltung zum Okkultismus verknüpft werden, lässt an Binders Methode zweifeln. Gerade hier stiftet seine persönliche Einschätzung wiederum eher zusätzliche Verwirrung, als dass sie eine Bresche in den Dschungel der Spekulationen zu schlagen vermag, der über den Fremd- und Selbstzeugnissen zu Meyrinks spiritistischen Aktivitäten gedeiht.

Die Kritik an einer von Albert Talhoff 1945 getroffenen Aussage, in der dieser beschreibt, wie Gustav Meyrink den Parapsychologen Prof. Dr. med. Freiherr von Schrenck-Notzing und sein Medium Eva C. des Betrugs überführt haben soll, mündet in eine amüsante, weil missverständliche Argumentationsfolge, die Binder als durchweg "wissenschaftsgläubig" entlarvt.

Albert Talhoff schreibt, nachdem er betonte, so Binder, "daß keiner Pseudomystiker und Miniaturyogis mehr verlacht habe als Meyrink" (S. 482):

"Das mußte auch die weltbekannte Eva C im Schrenck-Notzingschen Geisterbeschwörungsatelier zu München erfahren, der Meyrink, als sie im Trancezustand lag und das weißschaumige Teleplasma ausschwitzte, ein silbernes Döschen voll Gespensterknetstoff abknipste, um es auf seine chemischen Bestandteile untersuchen zu lassen - womit die Entlarvungstragödie des spiritistischen Rätsels begann. Aber Meyrink bediente sich noch eines anderen detektivischen Mittels. Auf seine Entdeckungsreisen nahm er kundige Taschenspieler mit. Indessen die optischen Wachen der automatisch funktionierenden Scheinwerfer und Filmapparaturen von versteckten Orten her arbeiteten, merkten sich Meyrink und seine Taschenspieler die Tricks, von denen die Medien lebten. Denn die mechanisch aufpassenden Decken- und Bodenapparate hielten es mit den Gespenstern. Sie verrieten nichts."
(S. 482)

Daraufhin erläutert Hartmut Binder, Talhoffs Erinnerungen seien

ein typisches Beispiel für die Legenden, die sich seit jeher um Meyrinks Leben gerankt haben, denn abgesehen davon daß dieser, um mögliche Tricks von Medien durchschauen zu können, tatsächlich die Erfahrungen eines Taschenspielers zu nutzen pflegte, nämlich seines Sohnes Harro, ist in der angeführten Passage alles erfunden.
(S. 482)

Nicht nur, dass Talhoffs Bemerkungen über die "Arbeitsweise" von "Photoapparat und Filmkamera" "jeder Logik, Begründung und Lebenserfahrung" spotteten, so Binder weiter, diese Geräte seien auch, so viel ließen "die Versuchsanordnungen" Schrenck-Notzings erkennen, gar nicht "an der Zimmerdecke und auf dem Fußboden" montiert gewesen. Außerdem dokumentierten die "penibel geführten Sitzungsprotokolle Schrenck-Notzings", daß "Meyrink an keiner Séance mit dem Medium Eva C. teilnahm". Was Talhoff über Meyrink zu berichten wisse, seien

in Wirklichkeit Handlungen eines Münchner Psychologiedozenten und der Gattin Schrenck-Notzings, die in der Sitzung vom 11. September 1912 wallende, graurötliche Substanz in einer Porzellandose sammelten und chemisch untersuchen ließen.
(S. 482)

Diese Untersuchung habe laut Binder in keiner Weise den Verdacht genährt, Eva C. sei eine Schwindlerin gewesen, denn die fragliche Substanz habe "im wesentlichen aus Zelldetritus und verschieden geformten Epithelzellen, also aus organischer Materie" bestanden, "die weder aus der Vagina noch aus der Mund- und Rachenhöhle des Mediums stammen konnte, weil Speichelkörper, Pilzformen und Blutzellen fehlten". Schrenck-Notzing habe, so Binders nicht weiter relativierte oder kommentierte Erklärung, den Stoff "wegen seiner körperbildenden Eigenschaft und weil sich die Gestaltung außerhalb des Mediums vollzog [...], Teleplasma" genannt. (S. 482)

Als Quelle dieses die Aussage Talhoffs angeblich hieb- und stichfest widerlegenden Beweises wird von Binder das von Albert Freiherr von Schrenck-Notzing selbst verfasste 1914 in München erschienene Buch "Materialisation's-Phänomene. Ein Beitrag zur Erforschung der mediumistischen Telepathie. Mit 150 Abbildungen und 30 Tafeln" angegeben. Der Biograf, mit dem in dieser Sache wahrlich nicht zu spaßen ist, versteigt sich noch zu einem letzten und vernichtenden Seitenhieb gegen den Autor Albert Talhoff:

In diesem Zusammenhang spöttisch von "Gespensterknetstoff" oder einem "spiritistischen Rätsel" zu sprechen, wie Talhoff es tut, ist unangebracht, denn Schrenck-Notzing behauptet an keiner Stelle seiner Veröffentlichungen, bei den von seinen Versuchspersonen erzeugten menschengestaltigen Erscheinungen handle es sich um Gespenster oder Verstorbene, sondern er beschränkt sich auf die Beschreibung des tatsächlich seltsamen Phänomens, dessen Erklärung der Forschung aufgetragen sei.
(S. 482/484)

Ob der Wissenschaftler Binder hier wirklich persönlich der Meinung ist, die Manifestation von Teleplasma sei ein "tatsächlich seltsames Phänomen, dessen Erklärung der Forschung aufgetragen sei" oder ob diese Formulierung von einer nicht eindeutig gekennzeichneten indirekten Zitation eines Textes von Schrenck-Notzing herrührt, ist schwer zu sagen. Jede der beiden Möglichkeiten zeigt aber die Hilflosigkeit Binders und wie schwierig sich die Beschäftigung mit dem "wissenschaftlichen Okkultismus" damals wie heute gestaltete. Gustav Meyrink selbst schrieb in seinem 1927 verfassten Essay "Hochstapler der Mystik" - und diese Aussage scheint sich eindeutig gegen den Okkultismus als Lehre zu wenden:

Wie nun auch die Sehnsucht jener beschaffen sein mag, die sich zu dem geheimnisvollen Gebiet des Okkultismus mit Macht hingezogen fühlen: eine Erfüllung winkt ihnen niemals - nur bittere Enttäuschung -, solange sie Hilfe und Rat bei anderen suchen, als bei sich selbst und der eigenen Seele! Entwickeln kann nur jeder sich selber, denn jegliche Entwicklung ist rein individuell. Schablonen und Rezepte versagen hier und müssen versagen. Wer Fragen stellt, der weiß überhaupt nicht, worum es sich im Grunde handelt! Außer er stellt sie an sich selbst! Belehrt muß er werden durch geistige "Osmose" - durch das, was ihm einfällt: aus dem allerinnersten eigenen Ich herüberfällt in den körperlich-seelischen Menschen. Und darum möchte ich denen, die da suchen aus Sehnsucht, zurufen: hüte dich vor den sogenannten "Führern"!
(Das Haus zur letzten Latern, München/Wien 1973, S. 364/365)

Andererseits soll Meyrink, der sich erst vier Jahre zuvor, also 1922 und '23, wie Binder belegt, mit eigenen Beiträgen an Schrenck-Notzings Veröffentlichungen beteiligte, durchaus positiv zu den Versuchen des Parapsychologen gestanden haben und seine Ergebnisse sogar noch zwei Jahre nach der eben zitierten Aussage aus "Hochstapler der Mystik" "keineswegs" in Zweifel gezogen haben - obwohl er "von zuverlässigen Bezugspersonen in Bled (Veldes) erfahren [habe][...], daß Schrenck-Notzing mindestens in einem Fall einer Betrügerin aufgesessen sei". Dies geht, glaubt man dem Fund Hartmut Binders, aus einem Brief Meyrinks an seinen Freund Oldrich Neubert von 1929 hervor:

Je mehr ich über diese Sache nachdenke, desto mehr bin ich der Meinung, daß ihre Betrügereien nichts anderes sein können als langandauernde Beeinflussung von Geistern. Mit anderen Worten: Ist sie bei Bewusstsein, dann betrügt sie, wenn sie in Trance kommt und jemand ihr die Hände festhält, damit sie nicht betrügen kann, dann sind die Geister frei und wirken astral.
(S. 485)

Wiederum nur zwei Möglichkeiten können diese scheinbare Widersprüchlichkeit erklären. Entweder Meyrink hat, wie viele okkultistisch Interessierte zu seiner Zeit, einen Unterschied zwischen den zwei Schulen des Spiritismus gemacht, und sein Essay über die Hochstapler der Mystik darf nicht auf Schrenck-Notzing und seine Bemühungen bezogen werden. Oder Binder, der es selbst "merkwürdig" findet, dass Meyrink Schrenck-Notzings Ergebnisse unter diesen Umständen nicht in Frage stellt, hat Meyrinks Aussage im Brief an Oldrich Neubert missverstanden und einen möglichen ironischen Unterton nicht beachtet. Träfe letzteres zu, stünde Meyrink, entgegen der Interpretation von Binder, Schrenck-Notzings Unternehmungen sehr wohl skeptisch gegenüber.

Priska Pytlik schreibt in ihrer Dissertation "Okkultismus und Moderne: ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900", Schrenck-Notzing habe

nie das Ziel [verfolgt], der Geisterhypothese Bestätigung zu verschaffen: Seine Experimente erfolgten stets vor dem Hintergrund eines animistisch orientierten Ansatzes. Aus diesem Grund sprach er - ebenso wie Thomas Mann in seinen Sitzungsprotokollen - von "okkulten" und nicht von "spiritistischen" Phänomenen.
(Okkultismus und Moderne: ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Paderborn 2005, S. 48)

Da Hartmut Binder selbst in einem hier weiter oben angeführten Zitat aus der Biografie mit Nachdruck auf die Schrenck-Notzingsche Unterscheidung zwischen "okkulten" und "spiritistischen" Erscheinungen pocht, ist es seltsam, wenn er die sich ausdrücklich auf geisterhafte Erscheinungen beziehende Aussage von Meyrink an Neubert als Beweis für Meyrinks Glauben an die Versuche Schrenck-Notzings gelten lässt.

Dass es Binder nicht gelingt, hier zur Erhellung der Verhältnisse beizutragen, darf ihm nicht angekreidet werden. Auch in der Literatur zum Thema sind widersprüchliche Aussagen zum Verhältnis von Gustav Meyrink und Albert von Schrenck-Notzing zu finden. Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Wünsch kommt in ihrem Buch "Fantastische Literatur der Frühen Moderne", wenn auch ohne Quellenangabe, sogar zu der Annahme, Meyrink habe Schrenck-Notzing "von Herzen gehaßt und verachtet" (S. 127). In Anbetracht dieses Widerspruchs sollte vielleicht, und diese Frage könnte Anlass geben, das Ganze einmal genau unter die Lupe zu nehmen, am ehesten davon ausgegangen werden, dass Meyrink seine Meinung zu Schrenck-Notzings Experimenten im Laufe der Jahre geändert hat, ihm also zunächst wohlgesonnen war, ihn dann jedoch als unglaubwürdig entlarvte. Ärgerlich bleibt, dass in der Biografie eine abschließende Schlussfolgerung, die diese Lage ausdrücklich als undurchsichtig kennzeichnet, nicht gezogen wird.

In seinem Versuch, Gustav Meyrink politisch einzuordnen, kommt Hartmut Binder zu dem Ergebnis, "daß er politisch sehr weit rechts stand", was "schließlich ein Eintrag in seinem Schwarzen Notizbuch [zeigt], wo er zu einem eigenen Projekt vermerkt: 'Die Tendenz des Romans muss ein Wutschrei gegen den socialistischen (demokratischen) Ameisenstaat sein." Diese Aussage und die Bemerkung, Karl Marx sei "der größte Büffel, der je gelebt hat", die Binder zufolge in der "Selbstbeschreibung des Autors Gustav Meyrink" unter der Rubrik "Stellung zu Karl Marx" zu lesen sei, machen deutlich, dass Meyrink dem Kommunismus nicht besonders positiv gesonnen war - ihn jedoch deswegen "weit rechts" einzuordnen, scheint übertrieben. In seiner "Selbstbeschreibung des Autors Gustav Meyrink" habe Meyrink auch bekannt, "keiner politischen Richtung anzugehören", was aber nicht bedeute, so Binder weiter, dass "politische Ereignisse" nicht in seinem Interessensfeld lagen:

Denn obwohl er zurückgezogen lebte, findet man ihn im Juli 1919 neben zahlreichen expressionistischen Schriftstellern als Unterzeichner eines Aufrufs an die revolutionäre französische Jugend, der von Kasimir Edschmid verfaßt und in der von Carlo Mierendorff herausgegebenen Zeitschrift Das Tribunal veröffentlicht wurde. Edschmid rief die Jugend dazu auf, die Grenzen fallen zu lassen und sich zu vereinen. Propagiert wird in dieser Grußbotschaft ein Kampf gegen den Haß, der sich bewußt vom herrschenden Nationalismus absetzen wollte, der Meyrink im Jahr 1917 so zugesetzt hatte.
(S. 614)

Die Revolution jedoch habe ihn als "Bagatelle im Weltgeschehen" wenig interessiert, und "als der Kriegszustand in München schon seit Wochen aufgehoben war" habe der von "der damals herrschenden Großwetterlage" verunsicherte Autor einem Journalisten in München geschrieben, "er sehe augenblicklich in der Veröffentlichung eines Romans keinen Sinn: 'Solange die roten Schweine umher grunzen, behalte ich die Kunst in meinen vier Wänden.'"(S. 615) So gerne Binder Meyrinks angeblich starken Rechtsdrall auch belegen möchte, die von ihm geleistete selektive Auswahl von Textbeispielen, in denen Meyrink sich gegen den Marxschen Kommunismus wendet, birgt keinerlei Aussagekraft darüber, ob er auch wirklich rechts stand. Naheliegend ist vielmehr, dass er tatsächlich "keiner politischen Richtung" zugetan war, wie Meyrink immerhin selbst von sich behauptete. Dass seine Einstellung jedoch mit einem Desinteresse für politische Entwicklungen verknüpft war, ist, wie auch Binder annimmt, keinesfalls gegeben. Meyrinks Lebenswandel und ideologischer Einstellung - so vorhanden - würde das auch kaum entsprechen.

Baron von Pfeill aus dem "Grünen Gesicht" jedenfalls, erzählt seinem guten Freund Hauberrisser, dass er von einem eigenen Staat träumt, der nur einen einzigen Untertan aufnimmt,

"nämlich mich selbst. Ebenso bin ich der einzige Missionär meines Glaubens. Übertrittlinge brauche ich nicht."

"Organisator bist du demnach nicht, wie ich sehe", warf Hauberrisser erleichtert ein.

"Zum Organisieren fühlt sich heute jeder berufen, daraus geht schon hervor, wie falsch es sein muß. Das Gegenteil von dem, was der große Haufen tut, ist an sich schon richtig." - Pfeill erhob sich und ging auf und ab. - "Nicht einmal Jesus hat sich unterfangen zu organisieren, er hat ein Vorbild gegeben. [...] Organisieren darf nur die Natur oder der Weltgeist. - Mein Staat soll ewig sein; er braucht keine Organisation. Wenn er eine hätte, würde er sein Ziel verfehlen."

"Aber einmal wird dein Staat, wenn er einen Zweck haben soll ja doch aus vielen bestehen müssen; woher willst du diese Bürger nehmen, lieber Pfeill?"

"Hör zu: Wenn ein Mensch einen Einfall hat, so beweist das nur, daß viele gleichzeitig denselben Gedanken gefaßt haben. Wer das nicht versteht, weiß nicht, was ein Einfall ist. Gedanken sind ansteckend, auch wenn man sie nicht ausspricht. Dann vielleicht erst recht. Ich bin fest überzeugt: In diesem Augenblick sind schon eine ganze Menge meinem Staat beigetreten, und schließlich wird er die Welt überschwemmen. - Die körperliche Hygiene hat große Fortschritte gemacht - man desinfiziert sogar schon die Türklinken, um sich nicht irgendeine Krankheit zu holen - ich sage dir, es gibt gewisse Schlagworte, die weit schlimmere Krankheiten, zum Beispiel: Rassen- und Völkerhaß, Pathos und dergleichen, übertragen und mit viel schärferer Lauge keimfrei gemacht werden müßten als Türklinken."

"Du willst den Nationalismus ausrotten?"

"Es soll von mir in fremden Gärten nichts ausgerottet werden, was nicht von selbst stirbt. In meinem eignen darf ich tun und lassen, was ich will. Der Nationalismus scheint für die meisten Menschen eine Notwendigkeit zu sein, das räume ich ein, aber es ist hoch an der Zeit, daß es endlich auch einen 'Staat' gibt, in dem die Bürger nicht durch Landesgrenzen und gemeinsame Sprache zusammengehalten werden, sondern durch die Denkungsart, und leben können, wie sie wollen.

- In gewissem Sinne haben die ganz recht, die lachen, wenn einer sagt, er wolle die Menschheit umgestalten. - Sie übersehen bloß, daß es vollkommen genügt, wenn ein einzelner sich bis in die Wurzeln umgestaltet. Sein Werk kann dann niemals vergehen - gleichgültig, ob es der Welt bekannt wird oder nicht. So einer hat ein Loch ins Bestehende gerissen, das nie mehr zuwachsen kann, ob es jetzt die andern gleich bemerken oder eine Million Jahre später. Was einmal entstanden ist, kann nur scheinbar verschwinden. So ein Loch in das Netz zu reißen, in dem die Menschheit sich verfangen hat - nicht durch öffentliches Predigen, nein: indem ich selbst der Fessel entrinne, das ist's, was ich will."
(Das grüne Gesicht. Prag 2003, S. 135-137)

Wer also nicht darauf angewiesen ist, vielen nahegelegten Schlussfolgerungen des Autors Hartmut Binder zu folgen, dem liegt mit dieser Arbeit ein überaus detailreiches und schon deshalb mit seinen zahlreichen Bilddokumenten um Eindrücklichkeit bemühtes und lesenswertes Buch zur Person und zum Werk Gustav Meyrinks vor.


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Literatur:

Gustav Meyrink: Gesammelte Werke. Sechster Band. Fledermäuse. Ein Geschichtenbuch. Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1917.

Gustav Meyrink: Das Haus zur letzten Latern. Albert Langen Georg Müller Verlag, München/Wien 1973.

Gustav Meyrink: Fledermäuse 2. Der schwarze Habicht. Moewig Taschenbuchverlag, Rastatt 1984.

Gustav Meyrink: Das grüne Gesicht. Ein Roman. Vitalis Verlag, Prag 2003.

Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930). Definition, denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen. Wilhelm Fink Verlag, München 1991.

Priska Pytlik: Okkultismus und Moderne: ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2005.

22. Februar 2010


Hartmut Binder
Gustav Meyrink
Ein Leben im Bann der Magie
Mit 303 Abbildungen und zwei Stadtplänen
Vitalis Verlag, Prag 2009
ISBN 978-3-89919-078-6