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BUCHBESPRECHUNG/070: "Gesellschaft der Angst" von Heinz Bude (Klaus Ludwig Helf)


Heinz Bude: "Gesellschaft der Angst"

von Klaus Ludwig Helf, 1. April 2015


Der vorliegende Band von Heinz Bude kann wertvolle Einsichten und Ideen liefern; ein schmaler Band, in dem viel Power steckt.

Angst in modernen Gesellschaften ist ein Thema, das alle angeht, da sie keine sozialen Grenzen kennt - aber das Spielen mit der Angst kann zu demagogischen Zwecken missbraucht werden, das Ignorieren der Angst kann zu verheerenden gesellschaftspolitischen Folgen führen: Angst ist der Ausdruck für einen Gesellschaftszustand mit schwankendem Boden. Man muss sich daher proaktiv und rechtzeitig mit gesellschaftlichen Angstbildern auseinandersetzen und ein sensibles Gespür entwickeln. Der vorliegende Band von Heinz Bude kann dazu wertvolle Einsichten und Ideen liefern; ein schmaler Band, in dem viel Power steckt. Heinz Bude (* 1954) ist als Soziologe Leiter des Arbeitsbereichs "Die Gesellschaft der Bundesrepublik" am Hamburger Institut für Sozialforschung und Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel; seine Arbeitsschwerpunkte sind Generations-, Exklusions- und Unternehmerforschung; seine letzten wichtigen Veröffentlichungen sind: "Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft" (2008) und "Bildungspanik. Was unsere Gesellschaft spaltet" (2011).

Nach der Vorbemerkung und dem grundlegenden Kapitel über "Angst als Prinzip" folgen zehn weitere Abhandlungen u.a. über die Ängste der Mittelschicht, des Dienstleistungsproletariats, der Migranten, die Ängste in der Politik und zwischen den Generationen; eine umfassende Bibliographie gibt dem wissenschaftlich Interessierten die Chance zum Nachschlagen und zum Weiterarbeiten am Thema. Im Eingangskapitel versucht Bude, die Angst als Prinzip zu erklären und als ideellen Maßstab des Wohlfahrtstaates zu verstehen. Er zitiert den Soziologen Niklas Luhmann, der dem Phänomen der Angst schon in den 80er-Jahren eine große politische und moralische Zukunft voraussagt habe:

Niklas Luhmann, der in seiner Systemtheorie eigentlich immer für alles noch einen Ausweg sieht, erkennt in der Angst das vielleicht einzige Apriori moderner Gesellschaften, auf das sich alle Gesellschaftsmitglieder einigen können. Sie ist das Prinzip, das absolut gilt, wenn alle Prinzipien relativ geworden sind. Über Angst kann die Muslima mit der Säkularistin, der liberale Zyniker mit dem verzweifelten Menschenrechtler reden" (S.11/12).

Man könne niemanden davon überzeugen, dass seine Ängste unbegründet seien - so Bude; diese ließen sich in Gesprächen darüber höchstens binden und zerstreuen, vorausgesetzt allerdings, man akzeptiert diese Ängste des Gegenübers und bestreitet sie nicht. Bude sieht in dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt den Politiker, der das Thema der Angst und die Strategie der Angstabsorption auf die politische Agenda des zwanzigsten Jahrhunderts gesetzt habe in seiner Rede am 3. März 1933 nach der "Großen Depression": "The only thing we have to fear is fear itself".

Die gesamte Entwicklung des Wohlfahrtsstaates in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts müsse man als eine Antwort auf Roosevelts Aufforderung begreifen. Wer abstürzt, solle aufgefangen, beraten und unterstützt werden, wer von Hause aus benachteiligt ist, solle einen Ausgleich erfahren: Qualifizierung von Niedrigqualifizierten, Beratung von überschuldeten Personen und Haushalten, kompensatorische Erziehung von Kindern aus unterprivilegierten Familien: "Es geht nämlich nicht allein um die Bekämpfung von Armut, sozialer Ausgrenzung und systematischer gesellschaftlicher Benachteiligung, sondern um die Bekämpfung der Angst davor, ausrangiert, entrechtet und diskriminiert zu werden" (S.16). Das habe auch einige Jahrzehnte mehr oder minder als Maßstab Gültigkeit gehabt; der moderne Staat habe sich der direkten Verantwortung für seine Bürgerinnen und Bürger entzogen und die Fürsorge an den Markt delegiert. Die Potenzierung des Kapitalismus, die Verselbständigung der globalisierten Finanzwirtschaft, das World Wide Web und auch der NSA-Skandal tragen - so Bude - zu einem erheblichen Teil dazu bei, untergründig und nachhaltig Angst zu verbreiten und führe zu einer demokratisch nicht zu kontrollierenden Kontrolle, zu einer "Niemandsherrschaft" (Hannah Arendt).

Als psychoanalytisches Analyseinstrument verwendet Heinz Bude David Riesmans Unterscheidung zwischen dem "innengeleiteten Gewissensmenschen" und dem "außengeleiteten Kontaktmenschen" ("The lonely crowd", 1950). Der außengeleitete Charakter mache sein Selbstwertgefühl abhängig von der Anerkennung und Zuneigung durch die Umwelt und durch den Mitmenschen; er richte seinen Kreiselkompass für die innere Gleichgewichtsbildung strikt an den Urteilen seiner Umgebung aus.

Der Angstmensch heute als dominante Figur in unserer Gesellschaft verfüge über ein ausgezeichnetes Radarsystem, allerdings ohne inneren Kompass. Bude zählt zu diesem klassischen Angsttypus den traditionellen sozialen Aufsteiger, den Emporkömmling, den Seiteneinsteiger und den Karrieristen und vor allem die Mitglieder der "Generation Y", der heute von 25-bis 35-Jährigen; deren Ego hänge keineswegs von einem gesunden positiven Selbstbild ab, sondern nur von äußeren Bedingungen und erzeuge energieraubende und erschöpfende Angst. Der Optimierungswahn, die Angst, etwas nicht hinzubekommen oder den äußeren Anforderungen nicht zu genügen, verwandelt sich in Angst, alles falsch gemacht zu haben: "Man fühlt sich gehetzt, getrieben und angegriffen. Alles wirkt stumpf, matt und reizlos. Man wacht morgens wie gerädert auf, als habe man nicht geschlafen" (S.95). In unserer heutigen Gesellschaft gebe es - so seine These - einen Wechsel im gesellschaftlichen Integrationsmodus "vom Aufstiegsversprechen zur Exklusionsdrohung"; die Angst vor dem Abstieg sei heute wieder zu einer persönlichen, gesellschaftlich ausgrenzenden Angelegenheit geworden: Die Angst, nicht als Kollektiv vergessen oder ausgegrenzt zu werden, "sondern als Einzelne auszurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren und im freien Fall ohne den Schirm eines haltenden Milieus oder einer 'traditionellen Verliererkultur' abzustürzen und im sozialen Nichts zu verschwinden" (S.21).

Neben dem klassischen Angsttyp moderner Gesellschaften, dem sozialen Aufsteiger männlichen Geschlechts aus den Zeiten der industriegesellschaftlichen Expansion, gebe es jetzt den sozialen Aufsteiger neuen Typs als Massenphänomen, die Enkelgeneration in der längeren sozialen Aufstiegsgeschichte in der Familie. Betroffen sei vor allem die Generation der bis zu 40-Jährigen. Die Angstszenarien dieser sozialen Aufsteiger seien versenkter und versteckter als bei den klassischen Aufsteigern, da sie mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit und des Ungeschicks und der Angst vor dem Versagen aufgewachsen seien, "weil sie im Umgang mit den von zu Hause aus Bessergebildeten und Bessersituierten das Gefühl nicht los wird, dass sie in Fettnäpfchen tritt und Fehler begeht" (S.46).

Es sei die daraus entstehende Überempfindlichkeit, mit der sich die vielen ganz normalen sozialen Aufsteigerinnen und Aufsteiger das Leben so schwer machten: "Zu unterliegen ist etwas anderes als zu versagen. Diese Angst rieselt feiner, setzt sich dafür tiefer in den Poren fest. Man will auf keinen Fall als engstirnig, provinziell oder angestrengt erscheinen. Aber Weltläufigkeit, Lockerheit und Selbstsicherheit sind so einfach nicht zu erlernen" (S.47). Auch die gesellschaftliche Mitte, die zwar privilegiert, aber in der Selbstwahrnehmung im "prekären Wohlstand" lebe, sei von "Statuspanik" und Angst befallen; diese sei aber - so argumentiert Bude - vor allem im Orientierungsverlust begründet: "Die Einzelnen fühlen sich trotz guter Polster und gediegener Zertifikate heute deshalb schutzloser und verwundbarer, weil der organische Zusammenhang von Autonomiestreben und Gemeinschaftsbindung zerbrochen zu sein scheint" (S.73).

So solidarisierten sich z.B. bei ihren Gehaltsforderungen die Lokomotivführer mit den Flugkapitänen und nicht mehr mit den Zugbegleitern, mit denen sie ja eigentlich eine Betriebsgemeinschaft im Zug bildeten. So könne man ein Auseinanderdriften von Milieus in der gesellschaftlichen Mitte Deutschlands beobachten, ein missgünstiges Gegeneinander, bei dem die Fronten schnell wechseln und sich die Koalitionen im Wind drehen nach dem Motto: Was hat der, was ich nicht habe und wie stehe ich da in den Augen der anderen? Wer fühlt sich geprellt oder begehrt und wer soll Opfer für was bringen und wen soll man unterstützen? Der einzige gemeinsame Bezugspunkt der Mitte-Milieus sei "ein rumorendes Empfinden der Bedrohtheit ihres überkommenen, erreichten oder behaupteten sozialen Status" (S.74).

Ein Signalthema dieser Familien aus der gesellschaftlichen Mitte sei die Bildung - wie Bude mit Recht feststellt; bei diesem Thema werde deutlich, dass Statusängste in erster Linie Zukunftsängste seien. Viele Mittelstandseltern mit gehobenen Bildungsabschlüssen seien in der Sorge, ihre Kinder würden nicht fit gemacht für die globalisierte Arbeitswelt; sie sehen ihre Kinder in den öffentlichen, allgemein zugänglichen Schulen oder Hochschulen durch die Kinder von abgehängten Migrationsverlierern und von motivationsschwachen Unterprivilegierten gefährdet und flüchten durch Wohnortwechsel oder durch Wahl einer privaten Schule. Worin liegen die Ursachen für diese Bedrohtheitsgefühle?

Nach Bude fehlt hier ein gesellschaftliches Leitbild, das im Blick auf ungewisse Zukünfte zwischen den verschiedenen sozialmoralischen Milieus der Mitte vermittelnd, überbrückend oder ausgleichend wirken könnte. Die Geringverdiener und eigentlichen Verlierer in der Gesellschaft finde man heute vor allem in der Dienstleistungsbranche, wo rund 15 Prozent aller Beschäftigten tätig seien, einfache Dienstleistungen, für die mit 900 bis 1100 Euro netto wenig bezahlt, aber viel verlangt werde: Gebäudereinigung, Frisör, Paketzustellung, Sicherheitsfirmen, Pflege, Gastronomie, Billigläden. Es handele sich um Wachstumsbranchen, da z.B. die Haushalte immer mehr übers Internet bestellten und der Anteil an Hochbetagten und Pflegebedürftigen wachse: Die Profitsteigerung könne in diesen Bereichen kaum über technische Rationalisierung, sondern meist nur durch Druck auf die Menschen erfolgen, durch Tempovorgaben der Chefs und durch den Konkurrenzkampf untereinander um Entlastungsvorteile und um Imagegewinn: "Dem fühlt man sich gewappnet, wenn man jung und stark ist, davor bekommt man Angst, wenn man älter und schwächer wird. Das geht in der Regel ganz schnell. Der Körper macht die Arbeit des Zustellens, Putzens, Pflegens, Bedienens und Verkaufens meistens nicht länger als zehn Jahre mit. Dann gehört man zum alten Eisen und muss sehen, wie man durchkommt" (S.86).

Im Vergleich zum alten "Industrieproletariat" sei das neue "Dienstleistungsproletariat" weiblicher, ethnisch heterogener und qualifikatorisch diffuser; viele kämen aus Ländern, deren Bildungsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt seien, oft seien sie auch europäische Pendelmigranten aus Bulgarien, Moldawien oder aus der Ukraine, die meisten seien aber deutscher Herkunft aus der Nachkommenschaft der industriellen Arbeiterklasse. Im neuen Proletariat einfacher Dienste "dreht sich die Angst darum, wie man sich gegen Zwischenchefs, junge Spunde und alte Hasen durchsetzt, wie man sich die Ruhepausen zu verschaffen und sich wegzuducken vermag, mit welcher Abfindung man in mittleren Alter auf der Straße landet und wie man seiner Müdigkeit Herr wird" (S.89).

Die Wiederkehr von Formen personaler Herrschaft und "blanker Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft" lasse die Angst zur Voraussetzung und Bedingung des alltäglichen Überlebens werden. Nur manchmal breche die Wut durch: "Dann wird die Kaffeetasse eines Chefs mit dem Bodenlappen ausgeputzt, dann wird, bevor das Frühstück für Verliebte serviert wird, noch auf das Lachsbrötchen gespuckt, dann landet ein Postsack in der Spree ... Im Moment der Wut kann man durchatmen, aber fürs Leben nützt das nichts" (S.90). Viele Menschen, vor allem Bildungsverlierer und Bildungsversager - so Budes zentrale These - leben in unserer Gesellschaft in einer Atmosphäre der Angst, die sich, wie ein "leises Rauschen" (S.72) unmerklich, aber trotzdem unleugbar ausbreite. Aber wir fragen uns: Warum gibt es dann keinen Aufstand, keinen Versuch, diese angsterzeugenden Strukturen aufzubrechen?

Der Autor bleibt uns eine Antwort schuldig. Heinz Bude hat mit dem schmalen Band eine klare Analyse des sozialpsychologischen Phänomen der Angst in unserer Gesellschaft vorgelegt und dabei die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen dahinter freigeschaufelt; auf die Entwicklung möglicher Lösungsstrategien, wie diese angsterzeugenden Strukturen, Gefühle und Einstellungen aufzubrechen sind, verzichtet er leider. Vielleicht dürfen wir hoffen auf weiterführende Reflexionen des Autors, da er selbst im Vorwort schreibt: "Angst zeigt uns, was mit uns los ist. Die Soziologie, die ihre Gesellschaft verstehen will, muss heute die Gesellschaft der Angst in den Blick nehmen" (S.10).

Der Band ist trotz der Einwände absolut empfehlenswert für alle, die sich kritisch mit den gesellschaftlichen Zuständen in Deutschland beschäftigen wollen und daran interessiert sind, etwas verändern zu wollen: gut und flüssig zu lesen, theoriegesättigte und praxisgeerdete Analysen und Beobachtungen aus der Mitte der Gesellschaft.

Heinz Bude
Gesellschaft der Angst
Hamburger Edition
168 Seiten
16 Euro
ISBN: 978-3-868-54284-4

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2015

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