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BUCHBESPRECHUNG/145: "1517 - Weltgeschichte eines Jahres" von Heinz Schilling (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Heinz Schilling
1517 - Weltgeschichte eines Jahres

von Klaus Ludwig Helf, September 2017


Zum Reformationsjubiläum hat jetzt Heinz Schilling einen Band geschrieben, der sich mit dem Jahr 1517 in einer ganz spezifischen weltgeschichtlichen Perspektive beschäftigt, indem er die Reformation in den Kontext des europäischen und globalen Umbruchs in die "Frühe Neuzeit" einbettet. Er kann dabei geopolitische, wirtschaftliche, kulturelle und menschlich-existentielle Problemlagen entdecken und analysieren, die denen unserer Gegenwart ähnlich waren, u.a. Sinn- und Wertekrise, Verfolgung von Juden, Angst vor muslimischer Unterwanderung und vor der ökonomischen Revolution des globalen Geld- und Warentransfers, religiös begründeter Fanatismus und Gewaltausbrüche in der Folge. Ohne die Bedeutung Luthers und der Reformation als Katalysator für die Entwicklung der "Neuzeit" zu schmälern, gelingt es Schilling mit seinem erweiterten Blickwinkel in überzeugender und differenzierter Weise, diese Monopolstellung zu relativieren. Luthers Thesen, das Aufkommen von Renaissance und Humanismus und das zeitgleiche Eindringen des neuen Weltwissens nach Europa mache die komplexe Dynamik der "Neuzeit" aus - so Schillings These.

Heinz Schilling (*1942) lehrte bis 2010 Geschichte (Schwerpunkt "Frühe Neuzeit"), zuletzt an der Humboldt-Universität in Berlin. Als wissenschaftlicher Berater von TV-Dokumentationen und Ausstellungsprojekten sucht er die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit; 2012 erschien seine viel beachtete Luther-Biografie "Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs". Nach dem Prolog ("1517 - ein neuer Blick auf das Epochenjahr") folgen sieben Kapitel, Epilog und Anhang (Anmerkungen, Quellen und Literatur, Bildnachweis, Personen- und Ortsregister).

In seiner "Weltgeschichte eines Jahres" führt uns Heinz Schilling u.a. nach Spanien, Italien und Portugal, nach Polen und Litauen, ins Reich der Osmanen an den Nil, auf die Arabische Halbinsel und nach Nordafrika, an den chinesischen Kaiserhof und ins Reich der Azteken; er beschreibt und untersucht Machtkonstellationen und Lebensverhältnisse, globale Geld- und Warentransfers (kopernikanische Geldwerttheorie), Erfindungen und Entdeckungen, kollektive Ängste und Sehnsucht nach Sicherheit, Glaube an Magie, Hexen und Dämonen, bevor er im letzten Kapitel "die Morgenröte des Protestantismus an den Grenzen der Zivilisation" analysiert. Nicht die lutherische Lehre - so Schilling -, sondern die aus der Reformation entstandene "konfessionelle Differenzierung der lateinischen Christenheit" in römische, lutherische, reformierte und anglikanische Kirchen habe die Modernisierung in der europäischen Neuzeit maßgeblich vorangetrieben:

Allgemeinhistorisch aber war es ein mächtiger Schub kultureller und gesellschaftlicher Differenzierung, aus dem langfristig gesehen die pluralistische Zivilisation der Moderne hervorging. Wichtig war dabei, dass in der Konsequenz der Reformation der Kern der alteuropäischen Vergesellschaftung aufgebrochen wurde, nämlich die Verschränkung von Sakralem und Säkularem, Religion und Gesellschaft, Priesterlichem und Politischem. (S. 303) 

Eine generelle weltanschauliche Differenzierung der Grundlagen menschlichen Zusammenlebens im Sinne der Säkularisierung sei aber zunächst von keiner der sich bitter bekämpfenden Konfessionen gewollt gewesen, da jede für sich den Anspruch auf absolute Wahrheit reklamiert habe. Der Weg zu Toleranz, Pluralismus und Freiheit im modernen Sinne war jedoch opfervoll, lang und grausam, gepflastert mit vernichtendem Hass, bitterböser Menschenverachtung und abscheulicher Gewalt: "Bald nach 1517 zog in Europa für anderthalb Jahrhunderte eine tiefe weltanschauliche Fundamentalfeindschaft auf, deren Gewaltpotential mit Anschlägen, Morden und grausamen Verstümmelungen sich in nichts vom heutigen religiösen Fundamentalismus unterscheidet." (S. 303/304) Erst mit dem Westfälischen Frieden Mitte des 17. Jahrhunderts sei die Überwindung des religiösen Fundamentalismus in Europa gelungen und das Tor zur Multikonfessionalität und zur pluralistischen Freiheits- und Toleranzgeschichte aufgestoßen worden.

Mit seinem Band entfaltet uns Heinz Schilling die globalen Trends der Welt vor 500 Jahren, als das Tor zur "Frühen Neuzeit" aufgestoßen wurde mit analytischer Kraft und erzählerischer Gabe. Es macht Spaß, in diesem Buch zu lesen, sich in die Welt um 1517 einzulassen und erstaunliche Parallelen zur heutigen Zeit zu entdecken.

Heinz Schilling
1517 - Weltgeschichte eines Jahres
C.H. Beck Verlag, München 2017
zahlreiche Abbildungen und Fotografien
364 Seiten
24,95 Euro

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2017

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