Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/166: Peter Reichel, Der tragische Kanzler. Hermann Müller ... (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Peter Reichel

Der tragische Kanzler. Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik

Klaus Ludwig Helf, Januar 2019


Als vor 100 Jahren der Versailler Vertrag unterzeichnet wurde, war auf deutscher Seite der damalige Außenminister Hermann Müller (1876-1931) mit dabei. Der SPD-Mann ist heute fast vergessen sowohl in seiner eigenen Partei als auch in der zeithistorischen Wissenschaft, obwohl er einer der wichtigsten und erfolgreichsten demokratischen Politiker und Staatsmänner der Weimarer Republik war: Mitglied des Reichstages, Vorsitzender der SPD-Fraktion (1920 bis 1928), einer der SPD-Vorsitzenden (1919 bis 1928), Außenminister (1919/1920) und zweimaliger Reichkanzler (1920 und 1928-1930). Peter Reichel hat ihn jetzt aus der Versenkung geholt und eine zeitgeschichtliche und politikwissenschaftliche politische Biografie Hermann Müllers geschrieben - keine Lebensbiografie. Er beschreibt und analysiert seinen politischen Werdegang ab November 1904, als der junge, unbekannte Redakteur und Stadtverordnete in Görlitz zum ersten Mal mit der SPD-Legende August Bebel zusammentrifft.

Peter Reichel (*1942) ist Politikwissenschaftler und Historiker, war von 1986 bis 2007 Professur für "Historische Grundlagen der Politik" an der Universität Hamburg mit dem Forschungsschwerpunkt politische Kulturgeschichte. Sein Band "Der schöne Schein des Dritten Reiches" (1991) fand international große Beachtung. Zuletzt erschienen "Schwarz-Rot-Gold" (2005),"Robert Blum" (2007) und "Glanz und Elend deutscher Selbstdarstellung" (2012).

Der vorliegende Band ist dem evangelischen Theologen Wolfgang Grünberg gewidmet. Nach einer knappen Einführung folgen vier Kapitel über die politischen Stationen und Wirkungsstätten von Hermann Müller: Sekretär im Parteivorstand (1906 bis1919), Parteiführer im Parlament (1919 bis1931), Außenminister (1919/20) und Reichskanzler (1920 und 1928/30). Im letzten und fünften Kapitel geht es um die Beschreibung und Analyse der Tragik des Staatsmannes (Tod, Begräbnis, Nachrufe und das Dilemma der SPD). Der Anhang ist mit fast 80 Seiten sehr umfangreich und enthält Anmerkungen, Dank, Quellen- und Literaturverzeichnisse, Bildnachweise und ein Personenregister.

Hermann Müller wurde - so Peter Reichels These - "schuldlos zum Mitzerstörer der parlamentarischen Demokratie und schließlich selbst das Opfer seiner eigenen Partei und ihrer Unfähigkeit zur Großen Koalition" (S. 13). Am 27. März 1930 trat Müller als Kanzler der Großen Koalition von SPD und bürgerlichen Parteien zurück, weil seine Reichstags-Fraktion auf Druck der Gewerkschaften und der innerparteilichen Linken bei der Reform der Arbeitslosenversicherung einen Kompromiss ablehnte - es ging um die Erhöhung des Beitrags um ein Viertelprozent.

Müller war der letzte Reichskanzler mit parlamentarisch legitimierter Mehrheit. Reichspräsident Hindenburg installierte die Präsidialkabinette unter Heinrich Brüning, die mit Notverordnungen regierten. Nach den Reichstagswahlen vom September 1930 und dem Erdrutsch-Sieg der NSDAP, die zur zweitstärksten Fraktion wurde, rief Müller seine Partei zur Tolerierung der Regierung Brüning auf.

Hermann Müller, der wegen der angespannten politischen Lage seine Gesundheit lange vernachlässigte, starb am 20. März 1931 an den Folgen einer Gallenoperation. Hindenburg verweigerte ein offizielles Staatsbegräbnis. Hermann Müller wurde nach einem riesigen Trauerzug durch Berlin, an dem sich 300.000 Menschen beteiligt haben sollen, in der Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Städtischen Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde beigesetzt. Hermann Müller sei - so Reichel - dem "kulturellen Gedächtnis der Nachwelt abhandengekommen". Anders als Friedrich Ebert sei es ihm nicht vergönnt, einen Platz in den Annalen der sozialdemokratischen Geschichte zu finden. Hermann Müller gelte heute als "gescheiterter, schwacher Kanzler", der eine Mitverantwortung habe für das durch verantwortungslose Demokraten herbeigeführte Ende der parlamentarischen Demokratie und damit für die Selbstzerstörung der Weimarer Republik: "Dabei würde es dem Politiker Müller weit mehr gerecht, gemeinsam mit Stresemann als Wegbereiter einer neuen, einer europäischen Versöhnungs- und Außenpolitik anerkannt und geachtet zu werden" (S. 360).

Peter Reichel beschreibt und analysiert umfassend und faktenreich das politische Wirken Hermann Müllers sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik, als Moderator und Integrierer in der heillos in Flügelkämpfen zerstrittenen SPD und in der Reichstagsfraktion. Als "Zentrist" und Mann des Parteiestablishments war er wohl zu sehr mit seinen lavierenden und abwägenden Haltungen nicht in der Lage, profilierte, eigenständige, zupackende und alle Flügel überzeugende Positionen zu entwickeln und durchzusetzen. Hermann Müller sei bekannt gewesen als Sachlichkeitsfanatiker" (Friedrich Stampfer, Vorwärts-Chefredakteur), völlig uneitel, distanziert und ohne autoritäres Verhalten, zugewandt, gesellig, humorvoll und selbstironisch: "Er scherzt gern, auch über sich selbst. Seine Arena aber ist das Parlament, die Fraktion, das Kabinett die internationale Konferenz" (S. 11). Peter Reichel nimmt am Schluss seiner Biografie eine historisch-politisch übergreifende Perspektive ein und geißelt vor allem die fatale Kompromiss-Unfähigkeit der damaligen SPD und sieht damit auch Parallelen zur heutigen Zeit. Er verweist zu Recht auf das Dilemma, das die eigentliche Tragik Müllers und der Weimarer Republik ausgemacht habe, dass die Sozialdemokratie einerseits Republikgründerin und zugleich Republikzerstörerin war: "Sie stand stets vor der Wahl, ihre Anhänger und Wähler durch ihre Beteiligung an bürgerlichen Koalitionen zu enttäuschen oder die Republik ihren Feinden zu überlassen - Schuld oder Untergang als Alternative" (S. 370).

Peter Reichelt hat mit seinem Band entlang der politischen Biografie Hermann Müllers eine sehr gründliche und detailreiche Darstellung und Analyse der inneren Fraktionierungen, Spaltungen und ideologischen Grabenkämpfe innerhalb der SPD in den Jahren 1906 bis 1931 geschrieben. Es ist ein sehr wichtiges Buch, um die Zeitgeschichte zu verstehen und daraus auch Rückschlüsse für die aktuelle politische Situation und für das Dilemma der SPD ziehen zu können. Hermann Müller erscheint dabei als ein sachorientierter, völlig uneitler und verstandesbetonter Politiker, der ein kämpferisches Leben für die Demokratie, für den Ausgleich zwischen den europäischen Völkern und für die SPD geführt hat und mit seiner Redlichkeit aber auch mit seiner politischen Unentschlossenheit im politischen Chaos der Weimarer Republik tragisch gescheitert und zerbrochen ist.

Peter Reichel
Der tragische Kanzler.
Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik.
dtv Verlagsgesellschaft, München 2018
gebunden
464 Seiten
29,00 EUR.

*

Quelle:
© 2019 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang