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BUCHBESPRECHUNG/176: Volker Weidermanns Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2019

Kritik als Machtausübung
Volker Weidermanns Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki

von Hanjo Kesting


Günter Grass' Debütroman Die Blechtrommel erschien 1959. Dieses Jahr gilt heute als das eigentliche Gründungsjahr der (westdeutschen) Nachkriegsliteratur, denn damals erschienen auch Heinrich Bölls Roman Billard um halb zehn und Uwe Johnsons Roman Mutmaßungen über Jakob. 1959 habe die Bundesrepublik "das Klassenziel der Weltkultur" erreicht und sei "auf der Höhe der Zeit" angekommen, schrieb Hans Magnus Enzensberger rückblickend nicht ohne Emphase. So lässt es sich heute auch in den Handbüchern der Literaturgeschichte nachlesen.

Im gelebten Augenblick stellte es sich anders dar: Rein kommerziell war Ina Seidels Roman Michaela der belletristische Bestseller des Jahres 1959, mit weitem Abstand vor Böll, Grass, Johnson, den drei Repräsentanten des deutschen Literaturwunders. Aber, wie es bei John Ford, dem großen Filmregisseur, einmal heißt: "Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druckt die Legende!" Und der Bannerträger dieser Legende war Günter Grass. Um nochmals Enzensberger zu zitieren: "(...) Grass war die Lokomotive, die nach dem Krieg die deutsche Literatur an die Welt wieder herangeführt hat".

Über solchen Feststellungen kann leicht in Vergessenheit geraten, dass Die Blechtrommel zunächst ein hart umstrittenes, vielfach angefeindetes Buch war. Als zum Beispiel eine Jury beschloss, Grass für seinen Roman den renommierten Bremer Literaturpreis zu verleihen, wurde die Entscheidung vom Bremer Senat wieder rückgängig gemacht. Nicht auszuschließen, dass dabei der Verriss eine Rolle spielte, den der Kritiker Marcel Reich-Ranicki am 1. Januar 1960 in der Zeit veröffentlicht hatte. Er trug die Überschrift "Auf gut Glück getrommelt" und gipfelte in der Feststellung: "Phantasie ohne epischen Atem ist im Roman verhängnisvoll." Ein Fehlurteil, wie Reich-Ranicki später einräumen musste, aber er brauchte einige Jahre, um es öffentlich einzugestehen. Seine Selbstkritik fiel gewunden aus und ließ sich auch als Selbstverteidigung verstehen. Im Interesse der Literatur, schrieb er, könne ein Kritiker nicht streng genug sein, und so habe er im Zwiespalt zwischen Lob und Tadel bei seinem Urteil über die Blechtrommel leider "die Proportionen entstellt".

Chronik eines Zweikampfs

All dies lässt sich nachlesen in einem Buch, in dem der Spiegel-Redakteur Volker Weidermann die "Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki" noch einmal nacherzählt. Er erzählt sie als "Duell" - so auch der Titel des Buches -, obwohl er etwas umständlich beginnt und 130 Seiten braucht, um den eigentlichen Zweikampf zwischen Autor und Kritiker vorzubereiten. Bis dahin ist das Buch eine Art Parallelbiografie, die sich recht ungeniert an anderen Büchern bedient, an Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben, Grass' Autobiografie Beim Häuten der Zwiebel und Michael Jürgs' Grass-Biografie.

Erst 1958 kam es im Grandhotel Bristol in Warschau zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Grass und Reich-Ranicki. Da war der Kritiker gerade auf dem Weg in die Bundesrepublik, der Schriftsteller erst auf dem Weg zum Ruhm. Dieser Ruhm kam im Jahr darauf mit dem Erscheinen der Blechtrommel, gleichzeitig begann mit dem Veriss des Buches in der Zeit Reich-Ranickis Aufstieg zum führenden Literaturkritiker der Bundesrepublik. Von da an schwankte ihr Verhältnis hin und her, mal reserviert freundlich, ohne je herzlich zu werden, mal unverhohlen feindlich, wobei das Feindliche mit der Zeit immer stärker hervortrat, bis es schließlich 1995 zum Bruch kam anlässlich eines Spiegel-Titelbildes, auf dem Reich-Ranicki das neue Buch von Grass, Ein weites Feld, handgreiflich zerriss.

Dank der beiden Protagonisten und ihres nicht abreißenden Schlagabtauschs ist Weidermanns Buch zumindest im zweiten Teil eine fesselnde Lektüre, auch wenn ein Leser, der die Ereignisse als Zeitgenosse mitverfolgt hat, wenig Neues erfährt. Es ist ein offenbar schnell geschriebenes, sprachlich oft flüchtiges Buch, das viel seinen Quellen verdankt, sich aber an manchen Stellen, wo gesicherte Quellen fehlen, in vagen Mutmaßungen und Fantasien ergeht. "Wann endlich wird es ernst? Ernst für ihn, für seine Kameraden, für seine Stadt?" lässt Weidermann den 16jährigen Grass sinnieren, als der in den Krieg ziehen möchte, um zum "Endsieg" beizutragen. "Endlich fort von zu Hause, wenn auch nur ein paar Kilometer, endlich Schluss mit der Schule, endlich ernst genommen werden in diesen ernsten Zeiten."

Dass Weidermann im Duell zwischen dem Großschriftsteller und dem Großkritiker nicht Partei ergreift, kann man ihm nicht vorwerfen. Eher schon, dass er keine eigene Haltung zu seinem Gegenstand erkennen lässt, zum literarischen Werk von Grass auf der einen Seite, zum kritischen Werk Reich-Ranickis auf der anderen Seite, nicht zuletzt zum Verhältnis von Literatur und Kritik. Nur den Weg des jungen Grass zur Waffen-SS begleitet er mit kritischen Anmerkungen. Er zitiert aus Beim Häuten der Zwiebel den Satz: "Mein nächster Marschbefehl machte deutlich, wo der Rekrut meines Namens auf einem Truppenübungsplatz der Waffen-SS zum Panzerschützen ausgebildet werden sollte: irgendwo weit weg in den böhmischen Wäldern." Weidermanns Kommentar: "Die Passiv-Konstruktionen, das Verschieben der Handlung in die dritte Person. Der einfache, klare Satz 'Ich war Mitglied der Waffen-SS' wird auch in diesem Buch, das die so lange verdrängte Wahrheit enthüllen sollte, nicht ausgeschrieben." Für einen Literaturkritiker, der in der Nachfolge Reich-Ranickis heute als Leiter des Literarischen Quattetts fungiert, sind das erstaunlich verständnislose Schlussfolgerungen. Hinter ihnen steht offenbar die Erwartung, dass sich der 79-jährige Verfasser des Buches Beim Häuten der Zwiebel durch Verwendung des Wortes "Ich" ohne Einschränkung mit dem 17-jährigen Rekruten des Jahres 1944 identifizieren soll. "Ich ist ein anderer" heißt es bei Rimbaud. Es ist ein oft zitierter Schlüsselsatz der literarischen Moderne. Imre Kertész hat ihn 1997 zum Titel eines Buches gemacht: Ich - ein anderer. Darin heißt es: "'Ich' ist eine Fiktion, bei der wir bestenfalls Miturheber sind." So auch bei Grass. Seine Verwendung der dritten Person drückt die von ihm empfundene Schwierigkeit aus, sich zu dem 17-jährigen Rekruten seines Namens aus dem Abstand von mehr als 70 Jahren innerlich in Beziehung zu setzen. Sie zielt nicht auf die moralische Befreiung von Schuld. Nur wenige Seiten später heißt es (und hier wird ohne Umschweife die erste Person Singular verwendet): "(...) behauptete Unwissenheit konnte meine Einsicht, einem System eingefügt gewesen zu sein, das die Vernichtung von Millionen Menschen geplant, organisiert und vollzogen hat, nicht verschleiern".

Literatur und Kritik

Zweifellos hat Volker Weidermann die Möglichkeiten seines Stoffes nicht völlig ausgeschöpft. Das gilt besonders für das Thema Literatur und Kritik mit seinen grundsätzlichen Aspekten. Er entschied sich dafür, das Thema zu personalisieren und den persönlichen Konflikt zwischen Grass und Reich-Ranicki wie die Chronik eines Boxkampfes über zehn oder zwölf Runden zu referieren. Dass der Boxkampf im Lauf der Zeit immer mehr die Züge eines Machtkampfes annahm, bleibt trotzdem nicht verborgen. Reich-Ranicki ist niemals müde geworden, Grass als den "größten Meister der deutschen Sprache unserer Zeit" zu rühmen. Im merkwürdigen Widerspruch dazu steht die Tatsache, dass er die großen Romane von Grass ausnahmslos verrissen hat: nicht nur die Blechtrommel, sondern auch die Hundejahre, den Butt, die Rättin und Ein weites Feld. Nur die Gedichte und kleineren Erzählungen nahm er aus. Aber was auf den ersten Blick nicht zusammenpasst, ist psychologisch durchaus plausibel. Ein Kritiker kann seine Macht nur dann in vollem Maß auskosten und nach außen demonstrieren, wenn er große, berühmte, allgemein anerkannte Autoren verreißt. Dazu muss er sie vorher auf den Sockel stellen. Dazu passt eine Anekdote, die Weidermann anlässlich von Grass' Roman Ein weites Feld erzählt. Als sich die Verrisse des Buches abzeichneten, soll Reich-Ranicki "völlig entsetzt" gewesen sein und sich Sorge um Grass gemacht haben. Weidermann zitiert ihn mit den Worten: "Er kann nur noch Selbstmord begehen oder zu einem Gegenschlag, ausholen: einem Pamphlet gegen die Kritik." Seine Sorge hinderte Reich-Ranicki aber nicht, den Roman wenige Wochen später im Spiegel in Form eines persönlichen Briefes erbarmungslos zu verreißen: "Mein lieber Günter Grass (...)" Es war der schärfste, gezielteste Verriss, der einem Buch von Grass je zuteil wurde. Er schloss mit den Worten: "(...) in alter Herzlichkeit".

Volker Weidermann: Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 320 S., 22 EUR.


Hanjo Kesting
ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Im Wallstein Verlag, Göttingen, sind soeben seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik erschienen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2019, S. 54 - 56
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
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Internet: www.ng-fh.de, E-Mail: ng-fh@fes.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2019

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