Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/193: Christian Baron - Ein Mann seiner Klasse (Roman) (Klaus Ludwig Helf)


Christian Baron

Ein Mann seiner Klasse

Von Klaus Ludwig Helf, August 2020


Ausgerechnet die Bertelsmann-Stiftung, die sonst eher dem neoliberalen Zeitgeist folgt, kommt in einer von ihr in Auftrag gegebenen Studie im Juli 2020 zu dem Ergebnis, dass seit Jahren Kinderarmut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland sei und dass die Corona-Krise das Problem zu verschärfen drohe. Nach wie vor überschatte Armut den Alltag von mehr als einem Fünftel aller Kinder in Deutschland; 21,3 Prozent bzw. 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18 seien oft viele Jahre in ihrer Kindheit von Armut bedroht. Trotz jahrelanger guter wirtschaftlicher Entwicklung habe man es mit einem ungelösten strukturellen Problem in Deutschland zu tun, zumal damit erhebliche Folgen für das Aufwachsen, das Wohlbefinden, die Bildung und die Zukunftschancen der Kinder verbunden seien.

Christian Baron, Jahrgang 1985 und Redakteur der Wochenzeitung "FREITAG", erzählt in seinem neuen Buch mit schonungsloser Offenheit, Direktheit und Intensität über seine von bitterer Armut geprägte Kindheit in Kaiserslautern in den neunziger Jahren, über seinen alkoholsüchtigen, prügelnden Vater, über seine depressive Mutter und über soziale Diskriminierung, Scham und Gewalt und was es für einen jungen Menschen bedeutet und wie es sich anfühlt, in einem reichen Land in Armut aufzuwachsen und auch darüber, wie wichtig es ist, Bezugspersonen zu finden, die Mut machen und Wege aufzeigen, um aus dem ganzen Schlamassel und der Perspektivlosigkeit herauszufinden. Das waren bei ihm die beiden Tanten Juli und Ella und ein Lehrer, die es ihm möglich machten, einen eigenen Weg zu finden über Abitur und Studienabschluss bis zu einem Job als Redakteur.

Das Buch ist kein literarisch ambitionierter Roman mit Plot und versierter Erzählstruktur, eher ein autobiografischer Essay mit unterschiedlichen Zeitebenen, collagiert mit Sozialreportagen und direkten, ungeschminkten Wortwechseln und verrohter Sprache, so zum Beispiel als sein Vater alkoholisiert und von Polizisten misshandelt wieder mal mit dem Turnschuh auf seine Frau einschlug, blaffte er ihn an, er solle den Fernseher leiser stellen: "Ob ich schlecht höre, johlte mein Vater. Ich sei ein genauso mieses Stück Scheiße wie meine Mutter brüllte er, und dann schlug er noch einmal zu." (S. 128) Schlimm war es für die Kinder - bereits im Bett liegend - zu hören, wie der Vater betrunken und randalierend nach Hause kam und wie er den Kopf ihrer Mutter gegen die Wand knallte. Es gab aber auch beglückende Momente in der Familie, wenn der Vater und seine beiden Söhne stundenlang und ausdauernd das Computerspiel Super Mario Bros. spielten oder die Mutter mit Christian zu den Songs der Kelly Family durch die Wohnung tanzte. Er wirbt daher im Nachhinein für Verständnis und Empathie für seinen Vater aus später Einsicht: "Mein Fortbleiben vom Sterbebett des Vaters gründete in der Weigerung zum Verzeihen und in der Unfähigkeit zu trauern. Beides steht für eine Männlichkeit, von der ich einzig deshalb loskommen konnte, weil ich zufällig nicht frühzeitig aus dem Bildungssystem eliminiert wurde. Heute, da ich ehrlich zu mir selbst sein kann, gestehe ich ein, was schon damals galt und was bis heute gilt: ich habe ihn lieb." (S. 19/20) Bis zum frühen Tod seiner Mutter - er war zehn Jahre alt - lebte er mit seinen Geschwistern in einer heruntergekommenen Wohnung: "Ein versiffter Teppich überdeckte den grauen Betonboden, die Fenster waren nur einfach verglast und obendrein undicht, es gab keine Heizung, an den Wänden gediehen Feuchtigkeitsflecken, die in jedem Raum jeden Schimmel sprießen ließen, der meiner Lunge schweres Asthma bescherte." (S. 14) Danach wurde es besser, als die Kinder zu ihrer Tante Juli und ihrem Mann Ralf in ein "richtiges" Haus zogen, in einem "sozialen Brennpunkt im Herzen einer bürgerlichen Idylle" gelegen, aber dennoch blieben sie für die Etablierten die "Barackler" oder "Sozialhilfe-Adel", wie Herr Schofel vom Jugendamt sie nannte: "Wir hatten weiterhin wenig Geld, wir fuhren noch immer nicht in den Urlaub, mein Bruder und ich teilten uns erneut ein ZimmerAber es gab weder Gewalt noch Hunger." (S. 226) Ganz so idyllisch war es offenbar doch nicht, denn in Christian brodelten Jähzorn und Gewaltfantasien, als er seine Schwester mit einem Keks gefährlich malträtierte oder seinem Bruder die Gabel zwischen dessen Augen warf, andrerseits war er in der Schule schamvoll verstockt: "Dabei war ich der unauffälligste nur vorstellbare Schüler. Ich schämte mich für alles. Wenn die Lehrer mich aufriefen, blieb ich mal stumm, denn ich verstand die Fragen oft nicht. Selbst wenn ich eine Antwort wusste, wollte ich nicht als Streber gelten. Manche Lehrer rochen meine Scham. Einmal fragte meine Französischlehrerin, wie mein Vater heiße. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich werde doch wissen, wie mein Vater heißeOb ich wenigstens wisse, was er beruflich mache? Wieder sagte ich kein Wort. Ihr Gesicht schaukelte vor mir, ihre Augen quollen mir entgegen." (S. 241)

Mit großer erzählerischer Wucht und Intensität zeigt Christian Baron die Lebensrealität von Menschen in sozialen Schieflagen, bitterer Armut, Verachtung, Erniedrigung, Gewalt und Perspektivlosigkeit, die kaum weder von den Medien noch von der Politik oder von der Literatur wahrgenommen geschweige denn reflektiert wird. Es ist ein aufrüttelndes und schockierendes Buch, das schonungslos offenlegt, wie es in unserer Gesellschaft unter der Oberfläche brodelt. Es wird Zeit, den Sozialstaat gründlich umzukrempeln.

Christian Baron
Ein Mann seiner Klasse
Claasen Berlin 2020
288 S.,
20,- Euro, als E-Book 16,99 Euro

*

Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang