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BUCHBESPRECHUNG/001: "Die Nachhut" von Hans Waal, Roman (Ralf G. Landmesser)


Libertarian Press Agency - Berlin

Gelesen - "Die Nachhut" von Hans Waal, Roman

Von Ralf G. Landmesser


Rezension:

Hans Waal
Die Nachhut
Roman
Plöttner Verlag
Leipzig 2008
Hardcover, Fadenbindung, 332 Seiten
ISBN 978-3-938442-43-2
Preis: Euro (D) 19.90

http://www.youtube.com/watch?v=LGhiqHHcbI8

hier kann mensch den Autor live im Rahmen von "Leipzig liest" 2008 hören. Es ist die vielleicht lustigste Stelle im Buch. Andererseits - platter gehts kaum. Jedoch wiederum: kann und konnte mensch nicht jahrelang ähnlich traurige Figuren an deutschen (!) Tank(!)stellen sehen und leider auch hören? Die angebliche Unkenntnis von Zapfsäulen bei den Oldies ist jedoch etwas hahnebüchen - die gabs auch damals schon. Schließlich sind sie selbst offensichtlich Kraftfahrer; Hitler fuhr Mercedes und die Wermacht ist nicht nach Russland geritten.


Die Nachhut der Vorhaut - Eine Naziklamotte

Im Rahmen einer Art Actionkrimihandlung, ausgeschmückt mit reichlich sexuellen Anspielungen und erotisch sein sollenden Verwirrspielen, schlagen sich vier vergreiste Soldaten einer Eliteeinheit der Waffen-SS nach Berlin anno 2004 durch. Kurz vor Kriegsende eingezogen, haben sie 60 Jahre vergessen und völlig abgeschnitten vom Draußen in einem hochsicheren "Führerbunker" ausgeharrt. Der liegt dummerweise unter dem Bombodrom Wittstock-Kyritz-Neuruppin. Dessen vormaliger Gebrauch als Russen-Schießplatz ließ sie jahrzehntelang glauben, der Krieg sei noch in vollem Gang. Als der letzte Büchsenöffner abbricht, beschließen die letzten vier Bunkerhelden befehlswidrig "nach oben" zu gehen. Die meisten Bunker-Kameraden waren inzwischen friedlich verstorben. Ein Kamerateam, das gerade den Ostermarsch der Bürgerinitiative FREIe HEIDe abfilmt, verirrt sich im Gelände und stößt ausgerechnet auf die vier SS-Veteranen, die bei der ersten vermeintlichen Feindberührung an der Autobahn Berlin-Hamburg einen Reisebus voller us-amerikanischer Austauschschüler mit einer MPi-Salve beharkten. Zum Glück gibt es keine Toten, aber die Sache wird zum Politikum auf höchster Ebene.

Parallel entwickelt sich die Geschichte einer wackeren, aber offenbar mit einem frühkindlichen Trauma belasteten Antifaschistin mit DDR-Hintergrund (Pfarrershaushalt), die in einem selbstsüchtigen politischen Manöver ihres politisch arrivierten Geliebten aus Antifa-Bewegungszeiten zur Chefin der BKA-"SoKo Rechtsradikalismus" gemacht wurde. Hier fühlt sie sich total fehl am Platz und ist es in ihrer Unfähigkeit Zusammenhänge zu begreifen auch tatsächlich. In sexueller Abhängigkeit zum inzwischen hochrangigen Politiker der ein übles Doppelspiel treibt, wird sie zum Spielball politischer und privater Ränkespiele.

Die verstörten SS-Soldaten kommen verständlicherweise nach 60 Jahren Bunker mit der Welt, die sie vorfinden, nicht klar. Sie sind Gespenster einer vergangenen Zeit. Unverdrossen und pflichtgemäß immer noch an den Endsieg glaubend, arglos mit Stahlhelm, Waffen und in ihren SS-Uniformen unterwegs, ständig argwöhnend, werden sie meist als kuriose oder gar kultige Spinner wahrgenommen, vor denen keiner mehr Angst hat - solange sie nicht herumballern. Auf ihrem Abenteuertrip nach "der Reichshauptstadt Berlin" auf der Suche nach dem "Reichsführer SS", geraten sie zwischen die politischen und medialen Fronten und damit in einen Krieg, in dem sie von vorne herein die Verlierer sein werden. Die Halsstarrigkeit dieser "Looser" in jeder Beziehung erinnert aber deutlich an die Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die genau solchen Geistes war und ist - soweit sie noch lebt. So gibt es auch freudiges Wiedererkennen mancherorts.

Die Story an sich ist keine schlechte Idee, aber welche Chance wurde hier vergeben! Das Halbwissen des leipziger Autors und berliner Journalisten "Hans Waal" (Pseudonym), läßt den guten Erzählansatz streckenweise in Peinlichkeiten stolpern, die ebenso unnötig, wie für das Lesevergnügen des Informierten abträglich sind. An einigen Stellen des Buches stößt der Eingeweihte auf offensichtliche Widersprüche, die bei einem sorgfältigeren Lektorat durchaus hätten vermieden werden können. Ist die Unkenntnis der SS-Soldaten weitgehend plausibel, so wirkt sie an anderen Stellen reichlich weit hergeholt und teils völlig unglaubwürdig. Beispielsweise kann mensch nicht tagelang durch die Gegend stolpern und kein einziges (Düsen)Flugzeug gesehen haben von denen der Himmel um und über Berlin voll ist (s.S. 285). Der Aufhänger mit dem Büchsenöffner hat ebenfalls seine Tücken: schon sechs Jahre alte Konserven schmecken nur noch nach Blech - nach sechzig Jahren dürfte auch die letzte Dose durchgerostet sein, es sei denn sie wäre aus echtem Goldblech, vom Geschmack ganz zu schweigen (S.108/109). Alter Sekt schmeckt leider auch nicht mehr und von antikem Kaviar holt mensch sich höchstens Fischvergiftung. Und gar 60 Jahre altes Mehl ... bähhh!

Auch der running gag mit dem Fernsehgerät hat einen Schönheitsfehler: Ab dem 22. März 1935 wurde in Deutschland das erste regelmäßige Fernsehprogramm der Welt in hochauflösender Qualität ausgestrahlt ("Fernsehsender Paul Nipkow", Berlin); Quelle z.B.: wikipedia. Schon 1936 wurden zu den olympischen Spielen in Berlin und Hamburg Sendungen für die Öffentlichkeit aus dem Olympiastadion in so genannte Fernsehstuben und Großbildstellen übertragen. Es gab sogar eine Art Videoprojektor ("Eidophor")! Ab 1939 wurde gar den technisch hervorragende "Deutschen Einheits-Fernseh-Empfänger E 1", eine "Goebbelsschnauze" mit Bild produziert, von dem allerdings nur geringe Mengen gebaut wurden. In einigen Lazaretten konnten Soldaten zur Erbauung und Unterhaltung bis 1944 fernsehen. Ein aufgeweckter SS-Mann aus guter Familie hätte das jedenfalls gewußt, wurde doch deutscher Erfindergeist mit allen Posaunen herumgetrötet. Es hätte also für die alten Knaben keine übermäßige Überraschung sein dürfen, wenn sie eine Weiterentwicklung der alten Reichs-Telefunken-Glotze in Farbe zu Gesicht bekamen. Das als Medienmann nicht zu wissen, ist für den Autor schon bezeichnend.

An anderen Stellen gibt es Dramaturgiefehler: der SS-Mann Fritz kann nicht eine halbe Stunde im Denkmal für die ermordeten Juden Europas herumstolpern, wenn es, noch im Bau, mit einem gut bewachten Bauzaun umgeben ist (s.S. 285 bis 287). Unplausibilitäten gibt es mehrfach.

Schlimmer aber ist die textimmanente Dauerverharmlosung von NeoNazis, die durch die Bank als unfähige "undeutsche" Trottel, wehrmachtsnostalgische Spinner oder unheilbar verkalkte Altnazis dargestellt werden. Wen das Spektrum des Rechtsradikalismus nicht nur als Romanschnörkel interessiert, sollte sich einmal die Plattform www.metapedia.de ansehen. Das Spektrum der Rechtsradikalen reicht bekanntlich bis weit in die sogenannte "Mitte der Gesellschaft" und wird auch von dort finanziert. Es ist keineswegs, wie in "Die Nachhut" suggeriert wird, die anscheinende Unfähigkeit der Polizei, mit dem Rechtsradikalismus fertig zu werden. Politischer Wille, Kalkül und Ranküne spielen eine mindestens ebenso große Rolle. Seit Gründung der "Organisation Gehlen / ORG" 1948 (vorher Wehrmachtsgeheimdienst "Aufklärung fremde Heere Ost"), die mit Gründung der BRD zum nazidurchseuchten BND wurde, geht eine braune Stinkspur durch die bundesdeutsche Geschichte bis heute.

Liegt es nun daran, daß das Geburtsjahr des Autors 1968 ist, oder warum meint er die (ehemalige) politische Führung der BRD als 68er-Seilschaft ehemaliger "Steinewerfer" darstellen zu müssen, die neben dem Einheimsen persönlicher Vorteile, auch ihre Antifa-Neurose zwanghaft ausleben muß? Anspielungen auf den ehemaligen Außenminister & Vizekanzler Fischer und Co. sind überdeutlich. Der offizielle Charakter des bundesdeutschen Antifaschismus nach Strickart der Regierung wird süffisant konterkariert und als reines Wohl- und Angstverhalten gegenüber dem Ausland präsentiert. Das mag teils so sein. Aber hier wird doch reichlich pauschal der gute Wille vieler Menschen, mit der Vergangenheit zu brechen, verächtlich gemacht.

Für Feinheiten scheint der Autor ohnehin kein Auge zu haben. Grobschlächtig ist gerade recht. Mensch könnte in ihm einen abgebrühten Journalisten der Boulevardpresse oder eines Quotensenders vermuten. Darauf weisen auch die den Roman durchziehenden ewigen ermüdenden Fickgeschichten hin, ohne die es in den Revolverblättern und Kommerzsendern kaum geht. Von "Blutschande" (Nazis müssen ja pervers sein) über Seitensprung bis Greisenliebe wird alles durchgehechelt. Um das Sexualleben des vierzigjährigen Autors scheint es schlecht bestellt zu sein. Midlifecrisis? Oder doch nur billige Spekulation auf Auflagensteigerung?

Was hingegen die Praktiken des bundesdeutschen Journalismus anbelangt, ist in diesem Buch einiges zu lernen. Hier kennt der Autor sich von Berufs wegen aus. So oder so ähnlich werden wohl die Karten gespielt. Von Sensationsgeilheit, persönlichen Eitelkeiten und Reportermacken bis zu teils oder ganz offensichtlichen Eingriffen staatlicherseits (natürlich "aus Staatsraison") in die "freie" Berichterstattung ist alles dabei. Wenn der Roman schon nicht in Sachen Nazifaschismus als Lehrstück taugt, als Lehrstück Pressefreiheit taugt er allemal. Wie exemplarisch eine Berichterstattung umgedeutet, frisiert oder ganz abserviert werden kann, wird hier mehr als angedeutet.

Was "Hans Waal" aber geritten hat, den Namen des alten Adelsgeschlechtes derer "von Jagemann" als Hauptpersonen ins Spiel zu bringen, bleibt im Dunkeln. Die Änderung nur eines Buchstabens hätte dies vermieden. Zwar steht ein Mann dieses Namens gerade als schmiergeldbelasteter SIEMENS-Manager im Rampenlicht, aber ein verurteilter Kriegsverbrecher dieses Namens ließ sich bei unserer Recherche nicht ermitteln. Was will uns also Waal damit sagen? Meint er die SIEMENS-Connection? Daß der, der Regierung gegenüber dienstbeflissene Psychiater Dr. Worch ausgerechnet den Namen eines der bekanntesten NeoNazis hat, kann hingegen kein Zufall sein. Auch Waal muß ihn kennen. Will der Autor damit einen Verdacht andeuten, daß der echte Worch ein Mann des Verfassungsschutzes ist?

Die Handlung ist nicht dumm gestrickt, wenn auch die von allen Hauptpersonen angewandte Tagebuch- und Briefmethode eher etwas unwahrscheinlich wirkt. Sie soll wohl Authentizität vermitteln. Mensch kann dieses Buch mit Kurzweil lesen und es kommt auf die Dauer sogar so etwas wie Spannung auf. Mensch kann es aber auch bleiben lassen und nichts ist verloren! Empfehlen oder gar verschenken sollte mensch "Die Nachhut" keinesfalls, jedenfalls nicht an Unbedarfte. Denn gefährlich ist das Buch für Menschen, die keine tiefere Ahnung von der schwierigen Materie haben, weil ihnen hier subtil Halbwissen untergejubelt wird, das in seiner willkürlichen Zusammenfügung für ein ziemlich schräges Weltbild sorgt oder wenigstens sorgen kann. Unter dem Strich zeigt sich, daß da einer sein lückenhaftes Wissen und seine halbgaren Vorurteile zusammengeschrieben hat, die nur allzu bereitwillig viele seiner Zeitgenossen teilen und schenkelklopfend feiern werden. Die gefällige Romanform der nicht ungekonnten Schreibe wird dies leider fördern. Dem Aufarbeiten und Abarbeiten der nach wie vor höchst problematischen deutschen Geschichte hat Hans Waal damit sicher keinen Gefallen getan, sondern nur einen weiteren wirren Konsumschmonz geliefert. Den Geisteszustand der Nation wird das nicht verbessern. Mit einem solchen Stoff darf man nicht so verantwortungslässig umgehen.

Handwerklich ist das Buch solide gemacht. Fadenbindung und Hardcover mit Schutzumschlag sind für ein knapp 20 EURO kostendes Buch heute keine Selbstverständlichkeit. Mit seinen über 300 Seiten ist der Titel nicht überpreist. Das ist aber noch fast das Beste, was darüber gesagt werden kann. Das Lektorat war offenbar zu schlampig oder zu unbeschlagen, besonders im Inhaltlichen; Satzfehler sind hingegen eher selten.

RGL für LPA
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. März 2009