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REZENSION/022: Haley & Stevens - Queen (Historische Familiensaga) (SB)


Alex Haley und David Stevens


Queen



Beim ersten flüchtigen Blick konnte ich nur das Wort QUEEN auf dem Cover lesen, und während ich noch überlegte, ob es etwas mit gleichnamiger Popgruppe zu tun haben könnte, kehrte mein Blick schon zurück und blieb an dem Wort ROOTS hängen. Da dämmerte etwas aus ferner Vergangenheit und Namen wie Kunta Kinte und Chicken George kamen mir wieder in den Sinn. ROOTS - das war doch die Serie, die vor vielen Jahren die Menschen familienweise vor den Fernseher gebracht hatte. Damals bin ich nicht auf die Idee gekommen, daß sich hinter dieser Fernsehserie auch ein Buch verbergen könnte, doch werde ich heute, fast zwanzig Jahre später, eines besseren belehrt. Um herauszufinden, was der Titel ROOTS mit dem vorliegenden - übrigens ziemlich umfangreichen - Werk zu tun hat, betrachte ich es genauer. Ergebnis: der gleiche Autor. Und nicht nur das. Auch einen inneren Zusammenhang soll es geben. Der Autor, der vor vielen Jahren die "Wurzeln" seiner Abstammung mütterlicherseits bis ins Afrika zur Zeit der Sklavenjäger zurückverfolgt hat, will in QUEEN der Familiengeschichte seines Vaters nachgehen.

Wer ROOTS kennt ist hier zunächst überrascht; denn die Erzählung beginnt nicht, wie vielleicht stillschweigend vorausgesetzt, in irgendeinem Winkel Afrikas, sondern in Irland. Und zwar im Jahre 1797, zu der Zeit, als Irland schon von den Engländern besetzt ist und Napoleon gerade den Versuch unternimmt, England zu erobern.

Hauptperson ist zunächst James Jackson. Er wächst unter wohlhabenden Bedingungen auf, da sein Vater als Besitzer von Ländereien sowie einer Fabrik seinen Vorteil aus der englischen Besetzung zu ziehen weiß. Trotzdem sympathisiert James mit den Bauern, den Katholiken, und auch sein bester Freund ist dort zu Hause. Dieser ist der erste einer Reihe von Menschen, die von James wegen ihres wachen Verstandes, ihrer großen Leidenschaftlichkeit und ihres Mutes zutiefst bewundert werden. Obwohl er sich selbst als vorsichtiger und weniger temperamentvoll einschätzt, schließt er sich der irischen Widerstandsbewegung an, nicht zuletzt aus Solidarität zu seinem Freund. Als er verfolgt wird, faßt er den Entschluß, nach Amerika auszuwandern.

Die Baumwollplantage, "The Forks of Cypress", die er in seiner neuen Heimat aufbaut, wird zum Hauptschauplatz des größten Teils des Romans.


In dieser Geschichte findet die Idee des Amerikanischen Traums in einer weiteren Version ihren Ausdruck. Die Möglichkeit, daß jeder Mensch, der bereit ist, hart zu arbeiten, es quasi aus dem nichts heraus zu etwas bringen kann. Insofern ist das Buch abgrundtief amerikanisch und legt in erste Linie Wert auf die Darstellung dessen, was ein Mensch unter vermeintlich freien und gerechten Bedingungen erreichen kann. Die Darstellung dessen, daß die Bedingungen nicht für alle frei und gerecht sind, scheint für den Autor zunächst von keinerlei Bedeutung zu sein. Erst viel später schenkt er den historischen und wirtschaftlichen Umständen der Sklaverei nähere Aufmerksamkeit.

Und da seine Geschichte nicht mit den Sklaven als Sympathieträgern beginnt, sondern mit dem Iren und Wahlamerikaner James Jackson, ist es - zumindest in seiner ersten Hälfe, eher ein "weißer" Südstaatenroman, in dem die Sklaverei als wirtschaftlicher Faktor akzeptiert wird.

Als Vergleich kann hier noch einmal ROOTS angeführt werden, wo - zumindest im Film - nicht einmal ansatzweise der gleiche Wert auf die Darstellung des Familienlebens der Weißen in einer Südstaatengesellschaft gelegt wurde.


Als James Jackson nach Amerika kommt, hat er von Sklaverei keine Ahnung, und sie findet zunächst weder in abgestoßener, noch in aufgeschlossener Hinsicht seine Reaktion. Er akzeptiert sie als Wirtschaftsform eines Staates, der zum größten Teil von der Baumwollproduktion lebt, auch wenn er persönlich einige Praktiken in der Behandlungsweise der Sklaven nicht gutheißen kann.


Beim Lesen wird sehr schnell deutlich, daß das Buch kein Heldenroman ist. Im Gegenteil. Die Hauptpersonen sind ganz normale Leute, mit ganz gewöhnlichen Wünschen und Idealen. Dabei kann der Leser durch die absolut nachvollziehbare Handlungsweise erleben, wie - am Beispiel von James Jackson - aus einem ganz freundlichen jungen Mann, der nichts anderes tut, als seinen verständlichen Interessen zu folgen, ein Sklavenbesitzer wird. Und gerade weil alles im Grunde so einleuchtend und folgerichtig verläuft, ist es nicht einfach, die Distanz aufrechtzuerhalten. Bei dem sonst klischeehaft so eindeutig als grausam und widerwärtig dargestellten Sklavenhalter dagegen wird einem Leser die Distanzierung geradezu nahegelegt.


James lernt Andrew Jackson kennen und bewundern. (Der gleiche Nachnahme der beiden darf nicht verwirren, sie sind nicht verwandt.)

Mit dieser Person führt der Autor ganz beiläufig, doch sehr zielsicher, einen späteren Präsidenten der USA als Romanfigur in die Handlung ein.

Folgt man der Geschichtsschreibung, gilt die Ära des Präsidenten Andrew Jackson als eine Periode des einfachen Volkes, daß zu dieser Zeit an politischem Einfluß gewann. Wie auch im Roman, lebte Jackson auf einem herrschaftlichen Gut, betonte jedoch seine einfache Herkunft. Er umgab sich mit dem Ruf, als "Mann des Volkes" eine Alternative zu den sonst üblichen aristokratischen Machtansprüchen zu bieten. "Jackson wurde zur Symbolfigur, welche die Tugenden und Möglichkeiten des Amerikanertums in idealer Weise verkörperte." [2]

All diese Tugenden ändern nichts an der Tatsache, daß Jackson für seinen Namensvetter James in sehr zwiespältiger Hinsicht zu einer Schlüsselfigur wird; denn wollte man es korrekt ausdrücken, müßte man ihn als "Mann des w e i ß e n Volkes" bezeichnen - was auch durch seinen Umgang mit Indianern gerechtfertigt wäre.

Abgesehen von dem materiellen Erfolg, den die Freundschaft prägend mit sich bringt, hat James hier beispielhaft vor Augen, wie praktisch und sozial aufwertend es ist, wenn man einen Leibsklaven zur ständigen Verfügung hat. Um es seinem Vorbild gleichzutun, erwirbt James seinen ersten Sklaven: Käpt'n Jack. Und dieser Kauf wird schicksalhaft für die persönliche Geschichte des Autors Alex Haley und dementsprechend auch für den ganzen Roman; denn es ist kein anderer als genau dieser Käpt'n Jack, der zum anderen Ast des Familienstammbaums der Haleys wird.


Im weiteren Verlauf des Romans verlegt sich die Handlung in typischer Manier eines Familienromans immer stärker auf die Kinder der ursprünglichen Hauptfiguren, bis diese vollständig an ihre Seite getreten sind.

Auf diese Weise wird Queen, die Enkeltochter von Käpt'n Jack, zur Hauptfigur und Titelträgerin des Romans. Und mit ihr wechselt der ehrzählerische Schwerpunkt mehr und mehr zu den Randgebieten der prächtigen Farm - in die Sklavenquartiere.

Im Verlauf der Handlung taucht die Hoffnung auf, daß es für Queen, deren Vater den Sklaven gegenüber relativ wohlgesonnen ist, eine glücklichere Wende geben wird als für ihre Mutter, die, obgleich sie geliebt wird, immer die Sklavin bleibt. Bei der Frage jedoch, wie genau dieses "glücklich" beschaffen sein könnte, ohne aus dem Buch ein Märchen zu machen, ist es selbst bei dem aufrichtigen Wunsch nach einem Happy-End annähernd unmöglich, eine passende oder gar eine machbare Version zu ersinnen. Die Darstellung der Verhältnisse dieser historischen Epoche, genauso wie die der Menschen, erscheinen dazu viel zu realistisch. Und wie gesagt, es ist kein Heldenroman.

Und es ist auch kein Buch, daß sich etwa durch die Beschreibung von Grausamkeit und Gewalt gegen die Schwarzen hervorhebt. Die Dinge, die sich hier ereignen, werden geschildert, ohne daß eine der Romanfiguren - egal zu welcher Seite sie gehört - Empörung darüber empfindet. Dazu ist alles viel zu normal und alltäglich. Niemand erwartet etwas anderes. Doch gerade durch die beiläufige Beschreibung gewöhnlicher Begebenheiten, die grausam sind, ohne die tätliche Gewalt der Weißen in den Vordergrund zu stellen, kann der Wunsch nach einer grundlegenden Änderung dieser Verhältnisse nicht nur verständlich, sondern zum eigenen Anliegen werden; denn die Distanzierung zur Brutalität fällt viel leichter als zu Menschen, die sich einfach nur ihrer hineingeborenen Position entsprechend verhalten.

Die Menschen, die hier beispielsweise nach bestem christlichen Verständnis und biblisch begründet die Schwarzen als seelenlos und eher als Tiere denn als Menschen bezeichnen, hat man vorher als Hauptpersonen des Romans kennengelernt. Dadurch kann die Distanz zu ihnen nicht annähernd so schnell aufgebaut werden, wie dies in Anbetracht ihrer als ungerecht eingestuften Handlungsweise für das humane Selbstverständnis wünschenswert wäre. Sie wurden auf etlichen hundert Seiten zu guten Bekannten, und sie haben nichts anderes getan, als etwas, das gewiß jedem Menschen zutiefst einleuchtet und normalerweise nicht kritisierenswert erscheint: Sie haben sich bemüht, aus ihrem Leben das Beste zu machen - und waren dabei nach sämtlichen gesellschaftlichen Kriterien sehr erfolgreich. Daß dies zu Lasten anderer geht, wird bei der auf Sklaverei basierenden Wirtschaft gar nicht abgestritten, sondern von den Südstaatlern als systemimmanent vorausgesetzt und als ihr gutes Recht vertreten. Erst, nachdem die Hauptpersonen gewechselt haben und zunehmend aus der Sicht der Sklaven erzählt wird, will man automatisch nichts mehr mit den "Herren" zu tun haben. Und an der Stelle, wo plötzlich klar wird, daß man die Seite wechseln möchte, bejaht man automatisch die Veränderung des Systems von Herren und Sklaven.

Trotz dieser beschriebenen Wertung, ist das Buch kein Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung, wie dies als Antwort auf die Sklaverei zu erwarten gewesen wäre. Und es sieht die Problemlösung der Menschen auch nicht in der Flucht in den liberalen Norden, wie dies sonst häufig unkritisch propagiert wird. Statt dessen wird in dem Buch - wahrscheinlich realistisch - beschrieben, daß die Menschen, die sich vom industrialisierten Norden eine andere Lebensperspektive erhoffen, dort weder sozial noch wirtschaftlich besser stehen als im Süden.

So betrachtet sieht es erst einmal aus, als gäbe es hier gar keine Perspektive. Doch es gibt eine, nur liegt sie nicht in der Generation von Queen (obgleich mit ihr schon die dritte im Verhältnis von Schwarz und Weiß beschrieben wird). Die Perspektive liegt in der Generation nach Queen, also in der langsamen Entwicklung. Mit den Kindern Queens wird die Geschichte jedoch nicht weitererzählt. Der Autor erwähnt am Ende lediglich, daß einer ihrer Söhne, nämlich sein Vater, studierte und im Ersten Weltkrieg für die Amerikaner kämpfte. Weiterhin folgt eine Auflistung der Enkelkinder Queens mit ihren beruflichen Werdegängen. Von den vier Enkelsöhnen wurde einer Rechtsanwalt, einer Architekt, einer Musiklehrer und einer Schriftsteller. Das sind die letzten Sätze des ganzen Romans - was verraten werden kann, ohne der Geschichte etwas von ihrem Unterhaltungswert zu rauben.

Nicht zuletzt auch durch den Hinweis auf die Karrieren der Enkelsöhne wird deutlich, daß es dem Autor mit seinem Buch nicht darum geht, anzuklagen oder den Haß auf die damaligen Verhältnisse erneut zu schüren. Er will in erster Linie seine Familiengeschichte erzählen, mit besonderer Anteilnahme an der Geschichte seiner Großmutter, die als sogenanntes "Plantagenkind" weder von den Sklaven noch von den Weißen richtig anerkannt wurde. Dies erzählt er allerdings mit einem abschließenden Hinweis in der Art wie: "Seht her, was trotzdem aus uns geworden ist!"

[1] zu den Autoren: Alex Haley ist der eigentliche Autor, seine Familiengeschichte wird beschrieben. Obwohl es einen Koautor gab, ist im Text der Einfachheit halber, und weil ich es für seine Geschichte halte, immer nur Alex Haley angesprochen.

[2] Zitat: Udo Sauter, Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika.


Alex Haley und David Stevens
Queen
The Story of an American Family
W. Morrow and Company Inc., London 1993