Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/050: Timeri N. Murari - Der Sahib (Indien) (SB)


Timeri N. Murari


Der Sahib



Wo anders könnte die Geschichte eines Buches mit dem Titel "Der Sahib" spielen, als im sagenumwobenen Indien.

Der indische Autor Timeri N. Murari hat in diesem Roman den Helden seiner Kindheit auferstehen lassen. Hier läßt er Kindheitsträume Wirklichkeit werden.

Murari schildert die Probleme seines Landes Anfang der Jahrhundertwende. Er bedient sich dabei verschiedener spannender Handlungsstränge: Dem Leser wird das Ausmaß der Herrschaft unter der britischen Krone vermittelt, das Spektrum an unterschiedlichen Standpunkten auf dem so bunt gewürfelten Kontinent durch verschiedenste Charaktere verdeutlicht.

Da ist an erster Stelle Kim, die Hauptperson. Er ist einem Abenteuerroman Rudyard Kiplings entsprungen. In diesem Roman ist er nicht mehr der Waisenjunge, der die indischen Städte, Basare und Tempel durchstreift, der einem buddhistischen Lama durch ganz Indien folgt, hier ist er ein erwachsener Mann, ein von der englischen Krone angeworbener Geheimagent. Kim ist der perfekte Spion, Sohn eines irischen Vaters und einer englischen Mutter, "äußerlich ein Sahib, ein gut aussehender Engländer, ist er doch tief in seinem Inneren ein Inder" (S. 238).

Kim hatte sich noch niemals in seinem Leben in Indien einsam gefühlt. Immer hatte es so viel zu sehen und zu tun gegeben, immer hatte er Freunde gehabt, mit denen sich wunderbar reden ließ - über Gerüchte mehr noch als Geschichten. Er gehörte zu keiner bestimmten Familie, Kaste oder religiösen Sekte und bezog sein Identitätsgefühl aus einer tieferen Quelle. Es kam aus Indien selbst, und dieses Band war so stark, daß er niemals auch nur danach fragte.

Chef der Geheimpolizei ist "der Oberst". Er hat Kim in den Basaren von Lahore entdeckt, dessen englische Herkunft anhand einer Halskette und der hellen Hautfarbe ausgemacht und sofort nur einen Gedanken gehabt, den idealen Helfershelfer für die Durchsetzung seiner Interessen gefunden zu haben. "Er (Kim) kann denken und fühlen wie sie, er kennt die tausend Windungen ihres verschlagenen Geistes" (S. 21).

Oberst Creighton stellt den typischen Anglo-Inder dar, von englischer Herkunft, geboren in Indien. Hier, in diesem Land, hat er eine glückliche Kindheit verbracht, hier hat er Indiens Berge, Ebenen und Dschungel, das magische, kaleidoskopische Indien lieben gelernt. Obwohl er von seiner Liebe zu Indien überzeugt ist und seine Aufgabe darin sieht, die Inder von der "angeborenen Neigung zur Selbstzerstörung" zu schützen, verachtet er seine Völker. Er wahrt Distanz, bleibt stets in Habacht-Stellung.

Aber Mutter Indien verschluckt jeden, der ihr zu nahe kommt. Bisher war noch jeder Eroberer dieser Umarmung erlegen, und nur wenig gab Zeugnis von seiner Anwesenheit - ein Palast oder ein Grabmal hie und da, ein Paar blaue Augen in einem dunklen Gesicht. Selbst uns hätte es fast erwischt. Nur durch bewußt gewahrte Distanz haben wir uns an der Macht halten und unsere Identität bewahren können. (S. 239)

Oberst Creighton nimmt sich Kims wie eines eigenen Sohns an und läßt den Jungen fortan von den Padres des St. Xavier-Colleges erziehen.

Für den Leser dürfte sehr schnell klar sein, daß eine Konfrontation zwischen dem Oberst und Kim unausweichlich sein wird. Welche Kultur trägt den Sieg davon?

Alice Soames, Exfrau des Geheimdienstchefs, hat ihren Mädchennamen wieder angenommen. Entgegen jeglichem Verhaltens einer englischen Frau spricht sie die Sprache des Landes und als fortschrittliche, moderne Engländerin mit "eigener Meinung" arbeitet sie als Korrespondentin bei einer englischen Zeitung. Viel Zeit ist seit ihrer Trennung vom Oberst vergangen.

Für Alice ist Indien im wahrsten Sinne des Wortes das Land ihrer Träume. Als sie einst als junges Mädchen den Kontinent betrat, war sie "heimgekehrt". Alice liebt das Land und seine Menschen, sie weiß um seine Sitten und seine Bräuche.

Zusammen mit Oberst Creighton hat sie zwei Kinder, Richard und Elizabeth. Da der Oberst Alice jedoch als junge Frau seines Hauses verwiesen und jeglichen Kontakt zu den Kindern verhindert hat, halten diese ihre Mutter für tot.

Die Schicksale der beiden Kinder könnte man als typische Schicksale dieser zwei Welten und ihrer Zeit betrachten, geboren in Indien, erzogen in Englands Internaten, als Erwachsene zurückgekehrt und erneut konfrontiert mit einer ihnen völlig fremd gewordenen Kultur.

Timeri Murari beschreibt die Stellung der englischen Frau in der indischen Gesellschaft, er beschreibt die Stellung einer Frau, die aus den engen Grenzen ausbricht, er zeigt das Bild der indischen Frau, deren Ehemann mit den Engländern kooperiert, aber er konfrontiert den Leser auch mit dem althergebrachten und scheinbar unentrinnbaren Schicksal einer typischen indischen Ehefrau.

Der Leser erlebt das verzweifelte Schicksal von Mohini, einer Inderin, die gemäß indischem Brauch als zwölfjährige "in den Besitz" eines alternden, aber wohlhabenden Inders übergegangen ist. Immer noch jung, schön und voller Hoffnung will Mohini einem solchen Dasein entfliehen. Sie unternimmt den Versuch zu entkommen.

Die Jagd beginnt, das indische Recht ist auf Seiten ihres Mannes, die tiefverwurzelten Traditionen richten sich gegen sie.

Wird Mohini trotzdem schaffen, die Spuren hinter sich zu verwischen? Hat sie, die indische Ehefrau, irgendwelche Perspektiven?

Zu einem spannenden Unterhaltungsroman gehört natürlich auch eine spannende Liebesgeschichte. Und so versteht es sich fast von selbst, daß unser Held Kim und die wunderschöne, geheimnisvolle Mohini, zumindest für einige Zeit, unweigerlich aufeinandertreffen. Und nicht zuletzt hilft Jatayu, der mächtige Geier, der der Hindulegende nach Prinzessin Sita aus den Klauen des Dämonenkönigs Ravanna entrissen hat.

Der Leser steht vor zahlreichen Fragen und fiebert ihren Lösungen entgegen. Er ahnt den Ausgang, kann aber nichts endgültig wissen und gerade deswegen will das Buch zuende gelesen sein!


Timeri N. Murari
Der Sahib
Gustav Lübbe Verlag GmbH, Bergisch Gladbach 1989
700 Seiten, 12,80 DM
ISBN 3-404-11870-7