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REZENSION/064: Minette Walters - Die Bildhauerin (Thriller) (SB)


Minette Walters


Die Bildhauerin



Es war unmöglich, sie ohne einen Schauer des Abscheus näher kommen zu sehen. Sie war die groteske Parodie einer Frau, so unförmig, daß Kopf, Hände und Füße auf absurde Weise wie viel zu klein geratene nachträgliche Anhängsel von der gewaltigen Masse ihres Körpers abstanden. Schmutziges blondes Haar klebte feucht und dünn an ihrer Kopfhaut, und unter ihren Achselhöhlen hatten sich dunkle Schweißflecken ausgebreitet. Das Gehen bereitete ihr offensichtlich Mühe. Immer in Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren, schlurfte sie auf den Innenkanten ihrer Füße vorwärts, die Beine auseinandergetrieben von der Stoßkraft eines gigantischen Oberschenkels gegen den anderen. Und selbst bei der kleinsten Bewegung spannte sich mit der Verlagerung der Fleischmassen der Stoff ihres Kleides gefährlich. Sie besaß, so schien es, nicht ein einziges Charakteristikum, das mit ihrer Erscheinung versöhnt hätte. (S. 11)

Minette Walters versteht eindrücklich zu beschreiben, wie der Beginn ihres Romans beweist. Und ohne Frage ist "Die Bildhauerin" ein gelungener Unterhaltungsroman, zumal es der Autorin geglückt ist, nahezu sämtliche Elemente, die den Erfolg auf dem Gebiet der seichteren Unterhaltung garantieren, zwanglos in ihrer Story unterzubringen. Man nehme die Faszination, die von einer Mörderin wie Olive Martin ausgeht, deren monströse Leibesfülle spontanen Abscheu erregt, aber auch immer wieder das Mitleid des Lesers weckt. Im Kontrast dazu eine schöne, intelligente, selbstsichere und mutige Heldin, die Schriftstellerin Rosalind "Roz" Leigh. Dies wird gewürzt mit einer grausamen Bluttat sowie einigen eingestreuten "harmloseren" Scharmützeln. Homosexualität und Sex mit Minderjährigen werden ebenfalls thematisiert, abgesehen von den obligatorischen Beischlafszenen zwischen der Heldin und ihrem Lover. Sogar die unter anderem aus dem Voodoo-Kult bekannte Praktik, mit Hilfe von eigens angefertigten Puppen Macht über bestimmte Personen zu erlangen, findet in der Geschichte als beiläufige Erinnerung an das Übersinnliche ihren Platz.

So wie Minette Walters für ihren Roman die Weichen gestellt hat, war der Erfolg als übliche Version des schnell konsumierbaren Thrillers vorprogrammiert. Dennoch ist es schade, daß die Autorin nicht die Schiene kurzlebiger Reize und flüchtiger Einblicke verlassen hat. So bleibt die "Bildhauerin", die mutmaßliche Mörderin Olive und eigentliche Titelheldin, nach einer vielversprechenden Einführung doch eher eine Nebenfigur. Statt dessen wird mit der Schriftstellerin Roz dem vergleichsweise uninteressanten Typus der attraktiven, doch vom Leben gebeutelten Karrierefrau, die ihr Herz wiederentdeckt, über Gebühr Platz eingeräumt. In ähnlicher Weise verfährt die Autorin auch mit anderen Erzählansätzen, beispielsweise beim Restaurantbesitzer Hal, der zunächst eine interessante, eigenwillige Person zu sein scheint, später aber ganz in die Rolle des bewundernden Begleiters der lässigen Roz abrutscht:

" Hal betrachtete sie nachdenklich. "Und wohin geht's jetzt?"

"Jetzt werde ich mal dem guten Edward die Hölle heiß machen", antwortete sie. "Der wird sein blaues Wunder erleben."

"Hälst du das für klug? Ich dachte, er sei ein Psychopath?" Hal zog sich die Mütze wieder über die Augen und rutschte tiefer in seinen Sitz, um sein Schläfchen fortzusetzen. "Aber du wirst ja wissen, was du tust." Sein Vertrauen in Roz kannte keine Grenzen. Sie hatte mehr Schneid als die meisten Männer, die er kannte. " (S. 3929

Auch die Charaktere der modernen Ordensschwester Bridget oder Olives tyrannischer Schwester Amber hätte die Autorin höchst interessant ausgestalten können, unterläßt es jedoch zugunsten eines nie abreißenden Flusses neuer überraschender Ereignisse und Perspektiven. Fast hat es den Anschein, als würde sie Charaktere ersinnen, mit denen sich schon nach kurzer Zeit nichts mehr anzufangen weiß.

Eben weil Minette Walters Charaktere mehr Tiefe versprechen, als sie letztlich halten können, bleibt bei manchem Leser ein leises Gefühl der Enttäuschung zurück, denn "die Bildhauerin" hätte sicherlich mehr sein können als ein oberflächliches Spiel mit der menschlichen Neigung, schnelle Urteile zu fällen und Antworten zu konstruieren.

Natürlich sind es bei einem guten Buch oft gerade die Offenlassungen, die der Phantasie des Lesers Raum geben, doch bei Minette Walters kann man sich an einigen Stellen des Eindrucks nicht erwehren, daß ihre Offenlassungen ein Notbehelf sind, um darüber hinwegzutäuschen, daß sie sich abgesehen von interessanten Denkansätzen nicht aus dem Fahrwasser des Gewöhnlichen hinauswagt. Glück scheint für sie zu sein, wenn man sich wie die Heldin ein kleines Eigenheim mit Namen "Bayview" kaufen kann und der Geliebte in sich ungeahnte Gefühlswelten entdeckt:

Roz' Entschluß, Bayview zu kaufen, fand seinen uneingeschränkten Beifall. Sich vor der Kulisse des Ozeans zu lieben war, gemessen an der Aussicht durch die vergitterten Fenster des 'Proacher', eine immense Verbesserung. [...] Hal hatte in sich eine Fähigkeit zur Liebe entdeckt, von deren Vorhandensein er nichts gewußt hatte. (S. 408)

Wie eingangs bereits erwähnt, ist Minette Walters eine Autorin, die einen Spannungsroman professionell zu konstruieren und eindrücklich zu erzählen versteht. Deshalb wird man ihr die stellenweise allzu flache inhaltliche Auseinandersetzung mit ihren eigenen Themen und Charakteren sicherlich gern nachsehen.


Minette Walters
Die Bildhauerin
Aus dem Englischen von Mechtild Sandberg-Ciletti
Goldmann Verlag, München 1995
411 Seiten
ISBN 3-442-30614-0