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REZENSION/075: Margaret Atwood - Oryx und Crake (SB)


Margaret Atwood


Oryx und Crake



Als man vor kurzem den 25. Geburtstag des ersten Retortenbabies Louise Brown beging, wurde man daran erinnert, daß das biomedizinische Zeitalter längst zu unumkehrbarer alltäglicher Wirklichkeit geworden ist. An seinem Beginn stand die In-Vitro- Fertilisation des Menschen, ein nicht zufällig aus der Tierzucht weiterentwickeltes Verfahren, das den Zeugungsakt aus der behüteten Finsternis eines seit Anbeginn der Menschheit im wesentlichen unverändert ablaufenden Prozesses biologischer Fortpflanzung ins grelle Licht des von Stahl und Glas dominierten Labors der Reproduktionsmedizin vertrieb. Die sterile Unwirtlichkeit kalter Technik ist seither Ausgangspunkt einer Menschwerdung, die der Verfügbarkeit des reproduktiven Agens für die kapitalistische Verwertungspraxis gemäß in vielerlei Richtungen vonstatten geht, denen jedoch allesamt eins gemein ist - das Streben nach Kontrolle über die bioorganische Form des Menschen in all seinen denk- und planbaren Manifestationen.

Dieser Anspruch auf Gestaltung der physischen Existenzgrundlage des Menschen durchzieht das jüngste Buch der kanadischen Autorin Margaret Atwood wie ein roter Faden. Die Geschichte von "Oryx und Crake" handelt vom Versuch einer Wiederholung des fünften Tages der Genesis, dem Menschen die vermeintlichen Fehler seiner Art zugunsten einer humanen Lebensform auszutreiben, die weniger aggressive und expansive Formen der Reproduktion mit dem Verzicht auf kulturelle Höherentwicklung bezahlt. Aus der Taufe gehoben wurde dieser Entwurf durch den Nordamerikaner Crake, ein genialer und visionärer Mikrobiologe, der sich an die Spitze der biotechnologischen Forschung vorarbeitet, um das System einer rein kommerziellen Verwertung ihrer Erkenntnisse von dieser machtvollen Position aus auszuhebeln. Unterstützt wird er von seiner asiatischen Freundin Oryx, die wiederum ein Verhältnis mit dem Schneemenschen hat, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird. Seine Schilderung einer nicht allzufernen Zukunft, in der die Menschheit fast vollständig von einer unheilbaren Infektionskrankheit dahingerafft wurde, besteht aus zwei ineinander verschlungenen Handlungssträngen, die die zukünftige Welt einmal vor und einmal nach dem Neubeginn der Menschheit Revue passieren lassen.

Die Lebensbedingungen zu der Zeit, als der postapokalyptische Schneemensch noch Jimmy hieß und die unspektakuläre Existenz eines einigermaßen mißratenen Sprößlings gutsituierter Eltern in einem streng gegen die von Seuchen, Umweltschäden und sozialer Gewalt verheerte Welt abgeschotteten Wohn- und Arbeitskomplex fristet, sind zum Teil bereits heute Realität oder nur einen Schritt davon entfernt, zu grausamer Wirklichkeit zu werden. Atwood, die selbst unter Wissenschaftlern aufwuchs, läßt ihrer Lust am Ausfabulieren des Niedergangs einer genetisch modifizierten Welt freien Lauf, braucht bei der Darstellung der Absonderheiten eines Lebens im Ghetto privilegierter Funktionseliten jedoch keine große imaginative Distanz zurückzulegen.

So siedelt die Schilderung eines bioorganischen Substrats zur Erzeugung von Hühnerteilen, das ohne Kopf, Schnabel, Beine, Krallen und Federn auskommt, um als auf Fressen, Ausscheiden und Wachsen reduzierter "Hühner-Hakenwurm" der Fleischproduktion zu Diensten zu sein, ganz in der Nähe des Horrors heutiger Massentierhaltung. Das "knollenförmige Objekt, das mit einer getüpfelten weißlich-gelben Haut bedeckt zu sein schien" und aus dem "zwanzig dicke fleischige Röhren" ragten, an deren Ende jeweils eine weitere Knolle wuchs, verfolgt Jimmy jedes Mal, wenn ihm eine Zubereitung mit Hühnerfleisch angeboten wird, wie es den Konsumenten eines Eis schütteln könnte, das von in Legebatterien gepferchten Hühnern stammt, deren ganze, von Lärm, Hitze und Enge bestimmte Existenz sich auf die kurze Frist ihrer physischen Vernutzung beschränkt.

Ein Projekt wie das der transgenen Schweine, mit dem Jimmys Vater den biomedizinischen Fortschritt vorantreibt, knüpft nahtlos an die Diskussion um Xenotransplantationen an. Die Organschwein genannten Tiere fungieren als Wirte für menschliche Innereien, die nach der Transplantation keine Abstoßungsreaktion erzeugen, aber auch opportunistische Mikroben und Viren abwehren. Das dem Menschen in fast kannibalistischer Verwandtschaft verbundene Hausschwein nimmt dabei eine Entwicklung, die dem Schneemenschen später fast zum Verhängnis wird, als er von einer verwilderten Horde dieser höchst intelligenten Tiere zur Mahlzeit auserkoren wird. Jimmys Vater konnte sogar erreichen, daß die Organschweine menschliches Neokortex-Gewebe erzeugen, was Jimmys Mutter, der der schöpferische Drang ihres Gatten schon lange zuwider ist, zu der Bemerkung verleitet: "Ja, genau das brauchen wir. (...) Noch mehr Leute mit Schweinehirnen. Weil wir noch nicht genug davon haben."

Dem Konflikt zwischen einer hemmungslos selbstbezüglicher Rationalität huldigenden Wissenschaft und einer entsprechend radikaler werdenden Opposition, die auch vor militantem Widerstand nicht zurückschreckt, trägt Atwood mit der Ausbildung eines Orwellschen Überwachungssystems Rechnung, das die Enklaven der Eliten fest im Griff hat und das Privileg bevorzugter Versorgung zu einem fragwürdigen Vorteil macht. Die von den privaten Sicherheitsdiensten der Bioindustrie erzeugte Atmosphäre des Mißtrauens ist allerdings kaum mehr utopisch zu nennen, wenn man die unaufhaltsam erscheinende Karriere des Sicherheitsstaats zur allgewaltigen, mit den Finessen mikroelektronischer Kontrolltechnik armierten Instanz der Einschüchterung und Unterdrückung betrachtet.

Während Atwood die Inseln des Wissenschaftsbetriebs, die in der Spitzenversion einer Kunstwelt, in der Crake seiner Vision einer biotechnologisch ausgesteuerten Menschheit frönt, zum Optimum exklusiver Überlebenstechnik entwickelt wird, in aller Ausführlichkeit darstellt, bleibt das im Plebsland hausende Gros der nordamerikanischen Klassengesellschaft weitgehend konturlos. Die Autorin läßt sich nicht darauf ein, den vom Mangel an allem, was der Mensch zum Leben braucht, getriebenen sozialen Widerspruch zu einem Konflikt zuzuspitzen, der von der Seite der von Versorgungssicherheit ausgeschlossenen Massen her ausgetragen wird, sondern handelt ihn etwa in Gestalt der Mutter Jimmys ab, die als individualistische Rebellin wider die biotechnologische Deformation des Lebens ein tragisches Ende nimmt.

Die Schilderung eines erstrebenswerten Daseins unter der Kuppel einer vor den sengenden Strahlen der Sonne und dem Dreck der Fabrikschlote geschützten Kunstwelt kann als Synonym dafür genommen werden, daß es sich lohnt, Distanz zum Plebs zu wahren:

Alles war blitzsauber, landschaftlich durchgestylt, ökologisch makellos und sehr teuer. Die Luft war partikelfrei, dank der vielen solargetriebenen Wirbelfiltertürme, diskret plaziert und als moderne Kunstwerke verkleidet. Regulativgestein kümmerte sich um das Mikroklima, tellergroße Schmetterlinge trieben zwischen leuchtend gefärbten Sträuchern umher.

Der Mangel an Lebensressourcen und ihre Substitution durch die fragwürdigen Errungenschaften des genetischen Engineering ist in Atwoods Geschichte allgegenwärtig und beeinträchtigt das Lesevergnügen auf höchst produktive Weise. Es ist nicht nur der ökologische Niedergang des Planeten, der dem Leser auf die Haut rückt, sondern auch der armselige Versuch, dem überbordenden Verbrauch eigener Lebensgrundlagen mit den Mitteln einer biotechnologisch modifizierten Konsumkultur Einhalt zu bieten. Die von Crake schließlich vorgenommene Intervention in das biologische Reproduktionsverhalten des Menschen basiert ganz und gar auf dem positivistischen Weltbild seiner Wissenschaft, das heißt, sie kann das grundlegende Problem räuberischer Expansion des Menschen nicht überwinden, sondern nur regulieren. Daß der Mensch, der laut Crake im Unterschied zu vielen Tieren auf das Schwinden der Überlebensressourcen mit einer anwachsenden Vermehrungsrate reagiere, hoffe, "er könnte seinem Nachwuchs, einer neuen Version seiner selbst, seine Seele weitergeben und auf diese Weise ewig leben", verharmlost die räuberische Strategie eines religiösen Vitalismus vorschützenden Fruchtbarkeitsprimats, herrschende Interessen primär zulasten der eigenen Art durchzusetzen.

Crakes malthusianische Theorie der Überbevölkerung resultiert denn auch in einer Lösung pharmakologisch induzierter Bevölkerungsregulation, die dem auf rein quantitative Weise problematisierten Verbrauch der Lebensgrundlagen das Fanal der Massenvernichtung entgegensetzt. Daß die mörderische Seuche, mit der Crake und Oryx den Neubeginn ermöglichen, ausgerechnet über ein Medikament verbreitet wird, das sexueller Permissivität bei gleichzeitiger Sterilisation gewidmet ist, gemahnt schon ein wenig an die klerikale Moral von der Hybris des wissenschaftlichen Fortschritts. Diese Form des Lebensschutzes entbindet davon, dem Problem menschlicher Gewalttätigkeit so kompromißlos auf den Grund zu gehen, daß es nicht lediglich seine Form wechselt und etwa in Gestalt eines humangenetisch formierten Ständestaats à la Aldous Huxleys "Schöner neuer Welt" Urständ feiert.

Das von Crake entwickelte Paradice-Projekt, in dem Mikrobiologen und Humangenetiker die Rolle des nicht würfelnden Gottes einnehmen und das Paradies perfekt an ihre Umwelt angepaßter Homunkuli schaffen, gebiert schließlich den vermeintlich von seinem evolutionären Vermächtnis und Verhängnis abgekoppelten neuen Menschen:

Es sei verblüffend - sagte Crake -, welche einst unvorstellbaren Dinge das Team hier zu Stande gebracht habe. Was man verändert habe, sei nichts weniger als das alte Primatengehirn. Seine destruktiven Merkmale waren verschwunden, jene Merkmale, die für die gegenwärtigen Übel der Welt verantwortlich waren. Zum Beispiel der Rassismus - oder, wie man es in Paradice bezeichnete, die Pseudoartenbildung - war in der Modellgruppe eliminiert worden, indem man einfach den Bindungsmechanismus vertauscht hatte: Die Paradice-Menschen nahmen Hautfarbe einfach nicht wahr. Hierarchien könnten unter ihnen nicht existieren, weil ihnen die Neurokomplexe fehlten, die diese erzeugten. Weil sie weder Jäger noch Landwirte waren, gab es kein territoriales Denken: Die Herr-oder-Knecht-Verdrahtung, die die Menschheit so lange geplagt hatte, war aufgelöst worden. Sie aßen nichts als Blätter und Gras und die eine oder andere Beere; auf die Weise waren Nahrungsmittel reichhaltig und immer verfügbar. Ihre Sexualität war keine ständige Plage für sie, keine Wolke turbulenter Hormone: Sie wurden in regelmäßigen Abständen brünstig, so wie die meisten Säugetiere abgesehen vom Menschen.

Leider führt Atwood die von ihrem Protagonisten Crake realisierte Utopie eines psychosozial wie umwelttechnisch entschärften Menschen nicht über die Grenze des angedeuteten Widerspruchs zwischen dem szientistischen Entwurf und der in ihm angelegten Fortschreibung des destruktiven Potentials jeder auf Stoffwechsel basierenden bioorganischen Lebensform hinaus. Zwar deutet sie an, daß die von Schneemensch mit einem um seine bei der Apokalypse umgekommenen Freunde Crake und Oryx gruppierten Schöpfungsmythos ins quasireligiöse Bild gesetzten neuen Menschen an dem gleichen Geburtsfehler einer evolutionären Höherentwicklung der Arten kranken, der bereits die zivilisatorische Entwicklung des alten Menschen mit dem verzehrenden Charakter seiner Produktivität kollidieren ließ, doch wünschte man sich am Ende des Buches, daß nun die eigentlich interessante Auseinandersetzung mit dem Problem utopischer Antworten auf Fragen ihren Lauf nähme, deren kausale Anlage von vornherein zurück in das Dilemma zerstörerischer Entwicklung führt.

"Oryx und Crake" mag, was Stil und Form betreffen, keine literarische Offenbarung sein, ist jedoch als Beitrag zu den bedrohlichen Auswirkungen biotechnologischer Produktionsweisen und der biomedizinischen Zurichtung des Menschen durchaus lesenswert. Angesichts der geschwundenen politischen Relevanz zeitgenössischer Literatur ist jeder Versuch, die gesellschaftliche Entwicklung zu antizipieren und zumindest im Ansatz kritisch zu reflektieren, zu begrüßen. Eine deutlicher pointierte Stellungnahme der Kanadierin Margaret Atwoods, die mit den Klonkriegern der Raelianer im eigenen Land über eine extreme Form der religiösen Entuferung profaner Raubinteressen verfügt, zu den politischen Folgen der biologistischen Doktrin moderner Natur- und Sozialwissenschaften hätte dem Buch sicherlich gutgetan, doch grenzte dies vielleicht schon an eine Überforderung des (bloß) literarisch interessierten Publikums.


Margaret Atwood
Oryx und Crake
Berlin Verlag, Berlin 2003
381 Seiten
ISBN 3-8270-0014-9