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REZENSION/094: Seamus Deane - Im Dunkeln lesen (SB)


Seamus Deane


Im Dunkeln lesen



Im Jahr 1996, als der bis dahin völlig unbekannte Irischamerikaner Frank McCourt mit "Angela's Ashes" ("Die Asche meiner Mutter") über das Erwachsenwerden in tiefster Armut in der westirischen Stadt Limerick in den vierziger und fünfziger Jahren beiderseits des Atlantiks einen Bestsellererfolg feierte, veröffentlichte Seamus Deane, Dichter, Professor für englische Literatur an der Universität Harvard und einer der wichtigsten englischsprachigen Literaturkritiker überhaupt, mit "Reading in the Dark" ("Im Dunkeln lesen") seinen ersten - und bisher einzigen - Roman. Zwar wurde Deans Romandebut 1997 für den britischen Booker Prize nominiert und mit dem Irish Times International Fiction Prize sowie dem Irish Literature Prize ausgezeichnet, dennoch hat dieses kleine Meisterwerk wegen des ganzen Medienrummels um McCourts traurige, bitterböse und witzige Memoiren möglicherweise nicht die Beachtung erhalten, die es verdient hätte.

Ähnlich wie McCourt arbeitet Deane seine Kindheit und Jugend in der Nachkriegsära auf, jedoch statt Limerick ist der Schauplatz bei ihm Derry. Die viertgrößte und nördlichste Stadt Irlands ist in mehrfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung. 1689 wurde eine 105tägige Belagerung der Stadt, in der sich protestantische Siedler aus England und Schottland mit ihren Familien vor dem Ansturm einer katholischen Armee verbarrikadiert hatten, durchbrochen. Deshalb rangiert für die Befürworter der Union Nordirlands mit Großbritannien - daher der Name Unionisten - der alljährliche Marsch der Apprentice Boys durch Derry am 12. August in seiner Bedeutung fast gleichauf mit den Oranerierumzügen am "Glorious Twelfth", dem 12. Juli, dem Jahrestag des entscheidenden Sieges des protestantischen Wilhelm von Oranien über den katholischen König Jacob II. in der Schlacht am irischen Fluß Boyne im Kampf um den britischen Thron im Jahre 1690.

Als Irland nach dem Unabhängigkeitskrieg der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gegen die britische Staatsmacht 1922 geteilt wurde, hat man Derry - und die gleichnamige Grafschaft - gegen den Willen der katholisch-nationalistischen Mehrheit der Bewohner dem Ministaat Nordirland zugeschlagen. Damit wurde Derry von ihrem eigentlichen Hinterland, der Grafschaft Donegal, die ähnlich dem katholischen Teil der Stadt auf der Westseite des Flusses Foyle liegt, abgeschnitten. Dafür diente Derry Großbritannien als strategisch wichtiger Transporthafen und Marinestützpunkt während des Zweiten Weltkrieges gegen Nazideutschland. Bis heute ist der Name der Stadt ein Zankapfel. Seit den Tagen des Krieges zwischen William of Orange und King James nennen sie die britischen Behörden und die nordirischen Protestanten Londonderry, während die Regierung in Dublin, die Menschen in der Republik Irland und die katholisch-nationalistische Bevölkerung Nordirlands eisern am ursprünglichen Derry festhalten, das sich vom Gälischen Doire ableitet.

Deane, der 1940 in Derry als Kind einer irischrepublikanischen Familie zur Welt kam, verarbeitet all dies und vieles mehr - die strenge Erziehung an einem katholischen Gymnasium, die irische Märchenwelt, die Kindsheitserlebnisse im "Viertel der abschüssigen Straßen", die Anfänge der "Troubles", des sogenannten nordirischen Bürgerkrieges im Jahre 1968 - zu einer Erzählung, die sowohl poetisch schön, als auch in ihrer Dramatik ungemein spannend ist. Im Mittelpunkt des Romans steht ein dunkles Geheimnis, das zentnerschwer auf der Familie des Erzählers lastet, die Eltern fast entzweit und die Mutter beinahe in den Wahnsinn treibt beziehungsweise die Toten sehen läßt. Im Laufe der Jahren erfährt der Junge immer mehr Einzelheiten dieses Familiengeheimnisses, von dem er niemandem erzählen darf - vor allem nicht seinem eigenen, über alles geliebten Vater.

Ohne zuviel zu verraten, denn wie Deane das schreckliche Geheimnis peu- à-peu auspackt, ist wahrlich meisterhaft, geht es hier um blutige Ereignisse, die sich im Teilungsjahr 1922 und vier Jahre später in Derry abspielten, an denen die IRA und die nordirische Polizei beteiligt waren und die mehreren Menschen das Leben kosteten. Es handelt sich zudem um einen Fall von Denunziantentum innerhalb der IRA in Derry, zu deren Mitgliedern damals der Großvater des Jungen mütterlicherseits und sein Onkel väterlicherseits zählten. Und je mehr der Junge im Laufe der Jahre aus verschiedenen Quellen von diesem Geheimnis herausfindet, desto mehr wird er zwangsläufig zum Mitwisser einer Tragödie, die in ihrer schaurigen Tiefgründigkeit an die der griechischen Klassik erinnert. Überhaupt bietet diese gelungene Mischung von Elementen des Detektivromans, der irischen Sagen und des Bildungsromans dem Leser Genuß pur, packt ihn emotional und stimmt ihn nachdenklich zugleich.

Grianan war ein großer steinerner Ring, innen mit Aufgängen aus abgenutzten Stufen, die zu einem Wehrgang führten, von dem aus man in einer Richtung die Felder und Wiesen und in der anderen die sandigen Ufer des Lough überblickte. Am Fuß einer Innenmauer öffnete sich ein Geheimgang: eng und schwarz, wenn man hineinkroch, dann, am Ende, wo ein aus Steinplatten gefügter Wunschthron stand, für ein kurzes Stück geräumiger. Man setzte sich hin und schloß die Augen und konzentrierte sich auf das, was man sich am meisten wünschte, und lauschte dabei auf den Atem der schlafenden Krieger der sagenhaften Fianna, die darunter lagen. Sie warteten dort auf den Menschen mit dem einen Wunsch, der sie aus ihrem tausendjährigen Schlaf erwecken würde, damit sie die endgültige Schlacht gegen die Engländer schlugen und sie für immer von unserer Küste vertrieben. Das würde ein besonderer Mensch sein, überlegte ich mir, vielleicht mit Feenaugen, einem grünen und einem braunen, oder vielleicht jemand mit einer geheimen Absicht im Herzen, so hart und verborgen wie eine Pistole in der Tasche, jemand, der sich erst rührte, wenn er alles andere dazu bringen konnte, sich mit ihm zu rühren. Ich hatte eine schreckliche Angst, ich konnte aus Versehen diesen bestimmten Wunsch äußern und spüren, wie sich der Boden unter mir wölbte, und die toten Gesichter emporsteigen sehen, undeutlich hinter ihren scharf umrissenen Äxten und Speeren.
(S. 62)

Zwar hat Seamus Deane bei aller "geheimen Absicht" mit "Im Dunkeln lesen", dessen Übersetzung von Giovani Bandini und Ditte König lobende Erwähung verdient, die großen irischen Helden von einst um Fionn, Oisín, Oscar und Diarmuid natürlich nicht wirklich wiederauferstehen lassen, doch mit seinem Rühren an der eigenen Herkunft hat er eine großartige Erzählung zustandegebracht, welche in das Herz des Lesers dringt und hinter seinem Rücken die Geister tanzen läßt.

Seamus Deane
"Im Dunkeln lesen".
Aus dem Englischen ("Reading in the Dark")
von Giovani Bandini und Ditte König,
Carl Hanser Verlag, München, 1997
256 Seiten
ISBN 3-446-19101-1.


21. Juli 2006