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REZENSION/124: Henry Köhlert - Der Hochzeitsring (Historischer Roman) (SB)


Henry Köhlert


Der Hochzeitsring

Historischer Roman um den Erfurter Schatz



Schon der Titel dieses inhaltlich wie formal höchst ungewöhnlichen kleinen Romanwerks ist dazu angetan, die Neugier jedes Lesers zu wecken, dem der Zauber von Erzählungen über Schatzkarten, Schatzsuchen oder ganz unverhofft aus der Versenkung auftauchende Schätze seit Kindertagen vertraut und teuer ist. Und daß es sich diesmal weder um einen Abenteuerroman noch um ein Märchen handelt, sondern wie im Untertitel angekündigt um einen historischen Roman, macht das ganze umso spannender. Vor allem, weil man gleich auf den ersten Seiten des in leserfreundlicher Schrift und Aufmachung präsentierten Paperbacks über den Autor Henry Köhlert erfährt, daß dieser, ein begeisterter Journalist, seit 2002 in Erfurt wohnt, für sein Leben gern in der Vergangenheit und alten Archiven "wühlt" und sich dort schon öfter Anregungen für eigene Geschichten geholt hat. Da stellt sich denn natürlich sofort die Frage, was für ein aufregender Fund ihn wohl zu diesem - übrigens seinem ersten - Roman inspiriert haben könnte. Darüber gibt nun der äußerst knappe "Prolog" folgende geradezu kryptische Auskunft:

Es war am 8. September 1998, eine Baustelle an der Michaelisstraße. Ein Keller aus dem hohen Mittelalter im Hinterhof sollte Fahrradkeller werden, ein Abfallschacht war als Zugang zu einer Tiefgarage vorgesehen. Parallel liefen archäologische Grabungen - diese Gegend in der heutigen Altstadt Erfurts zählte im Mittelalter zu den reicheren Vierteln, hier lebten jüdische und christliche Händler, Goldschmiede, Ratsmitglieder, Hofbesitzer, Finanziers Haus an Haus.
Die Bauarbeiten liefen planmäßig, bis zu dem Moment, als die Baggerschaufel auf etwas Unerwartetes stieß.
(Seite 6)

Daß es sich bei diesem "Unerwarteten" natürlich um den sogenannten "Erfurter Schatz" handelte, verrät der Autor dem Leser ebenso wenig wie dessen Herkunft aus dem ganz realen und nicht unbeträchtlichen Vermögen eines jüdischen Erfurter Händlers zu Beginn des 14. Jahrhunderts, das dieser seinerzeit offensichtlich im Kellerversteck seines Hauses, einem mittelalterlichen "Safe", in Sicherheit gebracht hatte. Welche seiner Reichtümer und warum er sie vergrub, und was es mit dem Hochzeitsring, dem kostbarsten Stück des Fundes, auf sich hatte, davon berichtet dann aber in dreizehn höchst spannenden Kapiteln das keineswegs nur für Erfurter äußerst interessante und lesenswerte Buch.

Der Prolog, der also weder über die Handlung noch über die Personen des "Hochzeitsrings" auch nur das geringste enthüllt, dient ganz offensichtlich dazu, eine Verbindung herzustellen zwischen der Zeit der Romanhandlung und der Lesergegenwart und zugleich die Authentizität des im Mittelpunkt der Geschichte stehenden Schatzes zu verbürgen, um so die für jeden Geschichtsroman wesentliche Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und Historie von vornherein zu klären.

Wenn der Autor seinen "Hochzeitsring" im Untertitel als "historischen Roman um den Erfurter Schatz" präzisiert, ist das nicht einfach als literarische Gattungsbestimmung gedacht, sondern programmatisch: In diesem Buch steht tatsächlich der im wahrsten Sinne des Wortes zutage geförderte "Erfurter Schatz" nicht nur im Zentrum des Interesses, sondern bestimmt - gewissermaßen als die eigentliche Hauptfigur der Handlung - deren Anfang und Ende, während die wenigen Protagonisten, egal ob historisch oder fiktiv, ausschließlich als Handlungsträger der vom Autor erdachten Geschichte bzw. als Sprachrohr für seine Botschaft dienen.

Das historische Ambiente und die historischen Fakten, überaus gründlich recherchiert und trotz einer geradezu minutiösen Detailtreue höchst lebendig dargestellt, dienen nicht in erster Linie der authentischen Kulisse für das kurze, intensive Drama des fiktiven Handlungsgeschehens, sondern letzteres erscheint vielmehr als Vorwand, um die historische Kulisse aufs liebevollste reich und bunt zu entfalten.

In einem geradezu winzigen Zeitfenster von drei Monaten - von Januar 1349 bis Ende März - läßt der Autor gleichsam nach Art der prächtigen, aus aneinandergereihten Szenen gewebten Tapisserien jener Zeit, den Alltag des mittelalterlichen Erfurt in teils leuchtenden, teils aber auch düsteren Farben vor den Augen des Lesers entstehen. Nicht den Alltag von Kirche und Adel, wie ihn die Historiographen und Geschichtsbücher dokumentieren, sondern den des einfachen Volks, der Handwerker und Händler, und zwar aus der Sicht des stummen Goldschmiedlehrlings Konrad, eines der vier Protagonisten der dramatischen Handlung.

Es ist ein äußerst gelungener Kunstgriff des Autors, daß er diesen stummen, gerade erst dem Knabenalter entwachsenen Schüler und Pflegesohn des Goldschmieds alles, was geschieht, anhand der ihn in seiner Sprachlosigkeit brennend interessierenden und beschäftigenden Fragen unentwegt kommentieren und den Leser auf diese Weise nicht nur in die Gedankenwelt einer anderen Epoche mitnehmen läßt, sondern diesem durch die staunenden und lebensneugierigen Augen des Jungen einen von Schulwissen und Klischees völlig unbeschwerten Blick auf das mittelalterliche Erfurt zu werfen erlaubt.

Daß die Romanfiguren trotz ihrer Reduzierung auf bloße Handlungsträger, ohne die romanübliche Entwicklung oder Charakterentfaltung, dem Leser dennoch sozusagen "auf die Schnelle" ganz erheblich ans Herz wachsen und dieser nach beendeter Lektüre geradezu ergriffen zurückbleibt, beruht auf zweierlei. Zum einen auf der außerordentlichen Sorgfalt der Recherche und dem deutlich spürbaren Mitgefühl des Recherchierenden für die Personen und ihr Schicksal. Zum anderen auf der bei aller Unaufdringlichkeit unmißverständlichen Botschaft des Autors: seinem Plädoyer für Toleranz, für ein Bemühen um Verständnis anderen Lebens- und Denkweisen gegenüber, sowie seiner ganz grundsätzlichen Verurteilung von Machtmißbrauch und Intoleranz in jeder Form, völlig unabhängig von einer speziellen Epoche, einer speziellen Nation oder einer speziellen historischen Situation. Eine Botschaft, deren Vermittlung dem Autor ganz ohne erhobenen Zeigefinger und ohne das ewige Getrommel gegen den Antisemitismus aufs eindringlichste gelungen ist, indem er sie einfach - schlicht und ergreifend im wahrsten Sinne des Wortes - in der Romanhandlung umgesetzt hat.

Ein wirklich ungewöhnliches Romanwerk, wie gesagt - hoffentlich das erste von vielen weiteren.

13. Januar 2012


Henry Köhlert
Der Hochzeitsring
Historischer Roman um den Erfurter Schatz
Sutton Verlag, Erfurt 2011
Euro 12.00
ISBN: 978-3-86680-876-8