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REZENSION/136: Christoph Meckel - Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg (SB)


Christoph Meckel


Russische Zone

Erinnerung an den Nachkrieg



Mein Erinnern bleibt schattenlos hell, es verwehrt mir nichts, verklärt und verschleiert nichts von Krieg und Nachkrieg, Entsetzen und Tod. Es ist der Versuch einer Spiegelung dessen, was das zehnjahrealte Kind im Tagtraum erfuhr; was mir gehören mußte, weil ich es sah; was unabweisbar wirklich wurde, weil das Gedächtnis es festhielt und nicht wieder preisgab. [S. 31]

Das Ergebnis dieses "Versuchs", dem das Zitat entnommen ist, erschien 2011 als Taschenbuch im Libelle-Verlag, ein sprachliches Kleinod mit dem Titel "Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg", das hier zur Rezension vorliegt und bei dem es sich weder um einen Roman noch um eine Kindheitsbiographie im üblichen Sinne handelt, noch um eine Beschreibung der "sogenannten Stunde Null".

Erinnerung, nicht Erinnerungen heißt das Buch im Untertitel, was in Anbetracht der Sprachpräzision des Autors bestimmt kein Zufall ist. Denn obwohl der Text fast ausschließlich Erinnerungen an seine drei in der gerade entstehenden Russischen Zone verbrachten Kindheitsjahre heraufbeschwört, geht es nicht in erster Linie um diese, genauso wenig wie es um das Kind Christoph Meckel geht, dessen Erinnerungsschatz (oder -bürde!) hier ausgebreitet wird, und schon gar nicht schreibt sich Meckel "Erinnerungen von der Seele" oder geht es ihm darum, "seine Kindheit aus dem Schutt der russischen Zone zu bergen".

Kurz nach Erscheinen des Buchs gab der Autor in einem Gespräch auf die Frage: "Und jetzt, sechzig Jahre danach - was hat Sie dazu gebracht, jetzt aufzuschreiben, was Sie damals am Kriegsende als Zehnjähriger erlebt haben?" folgende Antwort:

Wenn man Erinnerungen schreibt, deren Zentrum man selber ist, muß alles gut zusammenkommen, was man hat. Also einerseits der Wille, sich zu erinnern; die Fähigkeit, sich zu erinnern; die Gewißheit schreiben zu können, was man erinnert; die Gewißheit, sich genau erinnern zu können, das ist sehr wichtig, die Genauigkeit ist im Erinnern das Allerwichtigste [...]
Ich nehme an, der Wille eines Autors ist einfach, die Sache zu machen, damit sie da sei, in Sprache. Aber für mich war natürlich entscheidend, im Erinnern entdecken zu können, welchen Sinn das Ganze hatte. Und da stellte ich fest, daß ein Kind - ich war wie gesagt 10 Jahre alt - nach dem Sinn von Geschichte nicht fragt. Und nach dem Sinn, wie es ihm ergeht, ergehen wird, nicht fragt: Es nimmt die Realität so, wie sie da ist. Die Wirklichkeit, in der es sich befindet oder in der das Kind sich befindet, ist vollkommen real und wird nicht nach Sinn oder Bedeutung hinterfragt.[1]

Da der Interviewer sich mit dieser Aussage begnügte, ließ Meckel es dabei bewenden, obwohl die Frage ja eigentlich keineswegs beantwortet wurde. Im Gegenteil, die Feststellung, daß ein Kind eben nicht nach dem Sinn von Realität im allgemeinen und der eigenen Realität im besonderen sucht, mußte beim Hörer beziehungsweise Leser ja eher Verwunderung darüber hervorrufen, warum der Autor bei seinem Unterfangen, "den Sinn des Ganzen" zu ergründen, sich dann als Linse wohl ausgerechnet der zehnjährigen Kinderaugen bediente.

Daß es hier keinesfalls um die aus der Literatur bekannte und häufig strapazierte rührende Kinderperspektive oder gar um fingierte Kindlichkeit geht, steht außer Frage.

Die Gegenwart war ein schlechter Traum für viele, und für mich der lebendige Teil eines Schattenspiels mit den Toten. Von den Verbrechen der Deutschen erfuhr ich nichts. Ich hatte die Toten in den Trümmern gesehen, zerquetscht, verkohlt, halbiert, in Zuständen Fäulnis und Blut. Der gequälte Mensch war, was mich schlaflos machte. [S. 31]

Da klingt nirgendwo auch nur andeutungsweise etwas wie Kindheitsromantik oder -nostalgie an. Sondern das nackte Grauen des Kriegs und seiner Nachwirkungen faßt der Autor in Bilder - starke, ergreifende, erschütternde Bilder, und dabei vertraut er eben nicht dem erwachsenen, von Weltanschauung, Denkbildern, Ideologie und Erfahrungen vorgeprägten Blick des Maler-Dichters, sondern dem völlig ungeschützten, aber auch unvoreingenommenen Blick des Zehnjährigen; er wählt ihn nicht, um zu rühren oder anzuklagen oder um das Entsetzliche im kindlichen Verständnisbereich zu belassen, sondern im Gegenteil: den "neugierigen und furchtlosen", noch unverstellten, vorurteilsfreien, gnadenlosen Blick des Kindes nutzt er zu einer ebensolchen Darstellung. Ein gewaltiges Unternehmen und eine ungeheure Leistung. Daher findet sich im ganzen Buch nichts Versöhnliches oder Beschönigendes oder auch nur Erklärendes, nirgendwo eine Schuldzuweisung oder Rechtfertigung, keine Sinnsuche und schon gar keine Sinnfindung: Meckel läßt die Fakten für sich sprechen, so wie ein Kind das eben tut.

Wenn es denn aber nicht um eine zeitgeschichtliche Dokumentation oder um die Präsentation eines Stücks Biographie geht und vielleicht ja doch auch nicht wirklich um die Entdeckung irgendeines Sinns - worum geht es denn nun tatsächlich in dem Buch?

Den Schlüssel zum Verständnis der eigentlichen Kernaussage hat der Autor in seinem Werk zwar nicht explizit, aber unmißverständlich implizit mitgeliefert.

"Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg" ist eine Stellungnahme - eine eindeutige, unversöhnliche, kompromißlose Stellungnahme gegen den Krieg - jeden Krieg! - in seiner ganzen inakzeptablen Monstrosität, und gegen eine Gesellschaft, deren Politik und Machtstrukturen auf Krieg, Gewalt, Unterdrückung und Raub basieren.

Und diese Stellungnahme hat der Autor in dem schmalen Bändchen in drei vom Umfang her sehr unterschiedlichen, von der Aussagekraft her aber ebenbürtigen "Teilen" zum Ausdruck gebracht: in der beschriebenen Aneinanderreihung der zur "Erinnerung" verdichteten Erinnerungen; in zwei eigenen Grafiken, die diese einrahmen und unverkennbar zwei Harlekine darstellen; und schließlich in einem die letzten sechs Seiten umfassenden "Schlußkapitelchen" mit dem überraschenden Titel "Envoi".

Die Grafiken, zwei Radierungen, sind keine Illustrationen und haben mit dem aktuellen Inhalt des Buchs nur indirekt zu tun. Denn obwohl beide von ihrem Motiv her, wenn auch in stilisierter Form, durchaus etwas vom Grauen und der Bedrohung des Kriegs vermitteln, geht es hier ausschließlich um die Figur des Harlekins, die im Gesamtwerk Meckels eine ganz bestimmte und wesentliche Rolle spielt beziehungsweise eine Position vertritt, die ein besonderes Schlaglicht auf den gesamten Text wirft:

Es gibt in meiner Literatur wie in meiner Grafik und in meinen Bildern bestimmte Figuren, die immer wiederkommen. [...] Das sind Fixpunkte, die das einzelne Leben, den einzelnen Menschen zeigen in seinem Unterwegssein. [...][2]
Diese Figuren sind ohne Herkunft, Stammbaum, Stammtisch, Verwandtschaft, Vorfahren und Nachfahren. Sie sind frei. [...] Sollten sie einer Nation angehören, ist das ein Zufall [...] Ihre anarchischen Kräfte, zwielichtig, strahlend, unschuldig oder grausam erscheinen märchenhaft, unerschöpflich, selbstverständlich wie Schlaf und Vogelschrei, und sind ein Immunsystem gegen Ideologie jeder Art und Abart.[3]

Erstaunlicherweise wurde die Frage nach dem eigentlichen Stellenwert der beiden Grafiken in "Russische Zone" bisher in der medialen Öffentlichkeit, soweit mir bekannt, nirgendwo gestellt, genausowenig wie die Frage nach dem Stellenwert eines "Envoi" in einem Prosatext - völlig zu Unrecht, wie mir scheint.

Aber während die Radierungen dort nicht einmal auftauchen, wird das besagte "Schlußkapitelchen", wenn es überhaupt Erwähnung findet, entweder als (eher überflüssiger) glättender Anhang oder als versöhnliche Geste Rußland gegenüber oder auch als Dankbarkeitsäußerung an die russische Literatur interpretiert. Das ist umso unbegreiflicher, als die dichterische Meisterschaft und Präzision des Autors ein quasi beliebiges Anhängsel für ein so persönliches und erschütterndes kleines Werk - noch dazu als "eine Wendung ins Positive" oder eine Verdaulichmachung des Ganzen - geradezu ausschließt.

"Envoi" hieß die Schluß- oder Geleitstrophe bzw. das Postskript der alten französischen Ballade, das diese kommentierte und mit einer Moral versah und sich an die Person wandte, der das Gedicht gewidmet war.
Es würde zu weit führen, die als "Envoi" bezeichneten letzten sechs Seiten des Buchs hier auf eventuelle inhaltliche Parallelen - die es tatsächlich gibt - zu untersuchen. Wesentlich für ihr Verständnis ist vor allem die Tatsache, daß allein schon durch die Überschrift der Autor sein Werk ganz offensichtlich als eine Art Ballade charakterisiert beziehungsweise es als Träger charakteristischer Merkmale einer Ballade verstanden wissen will.

Die Ballade nämlich behandelt Gesamtmenschliches, ist immer eine Auseinandersetzung mit dem Menschen und nicht mit einem bestimmten, obwohl sie individuelles Schicksal darstellt, allerdings häufig aus dem Bereich der Historie oder der Mythen oder aber auch dem der Gesellschaftskritik, wobei die sozialkritische Ballade, bei der die Gesellschaftsstrukturen für das menschliche Leiden verantwortlich sind, direkt oder indirekt zu deren Änderung und damit letztlich zur Rebellion aufruft. Durch den "Envoi" wird also das vom Autor Erinnerte praktisch auf eine überpersönliche Ebene gehoben.

"Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg" ist ein Memento, eine als "Ballade" verpackte anarchische Botschaft, nicht an eine spezifische Leserschaft, sondern an jeden interessierten Leser. Und diesem wird sich die Frage, was den Autor zu seinem beeindruckenden Unterfangen gebracht hat, bestimmt nicht stellen.

Meckel zur gesellschaftlichen Bedeutung von Dichtung in der Gegenwart:

Die Dichtung spielt eine ungeheure Rolle, aber nicht im Vordergrund und nicht mit der Wucht einer Bombe. Ich habe es einmal gesagt, die Dichtung ist im Vordergrund nichts, im Hintergrund alles. Ohne Dichtung wären wir nicht mehr am Leben. Die Dichtung hat eine Wirkung, die man mit Flußversickerungen vergleichen kann. Das Wasser ist unsichtbar, es ist aber da und es kommt an anderer Stelle wieder zum Vorschein.[2]

Anmerkungen:

[1] TV-Sendung aus BR-Alpha, LeseZeichen, Literaturmagazin, Christoph Meckel, Schriftsteller, im Gespräch mit Armin Kratzert vom 30.01.2012, letzter Zugriff 08.04.2013
120130_2325_LeseZeichen_Christoph-Meckel-Russische-Zone.mp4

[2] "Die Sache kommt nicht aus der Literatur, sie kommt aus der Existenz des ganzen Menschen ...", Gespräch mit Christoph Meckel vom 8.7.2006, geführt von Viktor Kalinke
http://www.erata.de/Film/Interviews/I_Meckel.htm

[3] Chrisotph Meckel: "Die Kerle haben etwas an sich", Münchner Reden zur Poesie
www.poetenladen.de/poesie/christoph-meckel-poesie.html

8. April 2013


Christoph Meckel
Russische Zone. Erinnerung an den Nachkrieg
Mit Graphiken des Autors
Libelle Verlag, Lengwil, Schweiz 2011
Flexibler Einband
106 Seiten
19,90 Euro
ISBN 978-3-905707-47-2