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BUCHBESPRECHUNG/073: Carlos Castaneda - Tensegrity (Esoterik) (SB)


Carlos Castaneda


Tensegrity - Die magischen Bewegungen der Zauberer



Wer im Magie-Pool des SCHATTENBLICK auf die Serie "Castanedas Universum - eine kritische Betrachtung" stößt, wird sich womöglich an die eigene Vergangenheit erinnern, mit den ersten Büchern Carlos Castanedas, die vor einem Vierteljahrhundert erschienen waren - als Schwarzdrucke selbstverständlich, die nur unter größter Verschwiegenheit und mit verschwörerischster Miene weitergereicht wurden. "Hast du schon gehört? Es gibt wieder einen neuen Castaneda!" vernahm man nicht nur einmal in der Wohngemeinschaft, wenn man bei Grace Slick oder Eric Burden auf alten Matratzen beisammen saß und zunächst eine Pfeife, alsbald aber die abenteuerlichsten Geschichten die Runde machten.

Castaneda! Allein wer den Namen kannte, der fühlte sich schon irgendwie zugehörig, beinahe ein Wissender auf dem Weg des alten, unberechenbaren Yaqui-Indianers Don Juan Matus, der mit seinem durchtriebenen Kumpel Genaro den armen Städter aus den USA mit den Schrecken einer offenbar viel wirklicheren Wirklichkeit konfrontierte, als die Zivilisation sie repräsentierte. Da berichtete schon mal einer aus der Runde von jemandem, der einen kannte, dessen Bruder ebenfalls Kontakt mit Mescalito, dem Verbündeten, gesucht und, wenn man dem Bekannten des Bekannten des Bruders Glauben schenken durfte, auch gefunden hatte. 'Dinge' sollen sich verändert haben, nicht in der Einbildung, sondern ganz und gar wirklich und von anderen Menschen überprüfbar ... und im Hintergrund solcher Schauermärchen hüpften Jefferson Airplanes weiße Hasen über die Wand und wurde im Garten des Lebens zum Schlagzeugsolo von Iron Butterfly aufgespielt.

Dies war die rechte Atmosphäre, in der Castaneda die Lehren des Don Juan in die Köpfe der Nach-68er träufelte und mit jedem Zug an dem qualmenden Kraut fühlte man sich ihm näher und näher. Es fehlte gewiß nicht viel, so dachte man, und das ganze Wissen Castanedas würde in einen hineinströmen und dann hätte man die Macht, die so sehr begehrte. Doch bei all der guten Stimmung, nein, trotz all der guten Stimmung und den hochgesteckten und später enttäuschten Erwartungen blieb der eine Gedanke, Wunsch oder Traum haften: es könnte etwas dran sein. Vielleicht ist die Welt wirklich nicht so fest verfügt, wie es den Anschein hat, vielleicht hat Carlos Castaneda ein Fünkchen hinter das Gespinst geschaut, für das der vernünftige, logisch denkende Homo sapiens sapiens den abstrakten Begriff "Realität" gewählt hat.

Jedenfalls behauptete Castaneda in seinen ersten Büchern, daß Zauberei machbar sei, daß die alten Wissenden, in der Sprache der Tolteken Naguals genannt, über die Fähigkeit verfügten, Sprünge von zwanzig Meter Länge und mehr zu machen, an der Decke spazieren zu gehen oder an zwei Orten gleichzeitig zu sein, und was der irrwitzigsten faszinierenden Taten mehr waren.

Heute weilt Castaneda nicht mehr unter den Lebenden, aber er hat ein letztes Werk hinterlassen, das, so sollte man meinen, all seine Erfahrungen als Schüler und Nagual eines eigenen Zugs zusammenfaßt. Er nannte dieses Buch "Tensegrity. Die magischen Bewegungen der Zauberer". Es beginnt mit einer kurzen theoretischen Herleitung seiner Lehre und führt bald zu einer praktischen Anleitung in Form von Bewegungsstudien über, die in kurzen Begleittexten, die vorwiegend auf die präzise Positionierung einzelner Körperteile abzielen, erläutert werden. Diese Form der Präsentation, die hinlänglich aus Büchern über Kampfkünste bekannt ist, läßt die Schlußfolgerung zu, daß sich Castaneda auf eben diesem Gebiet am Esoterik-Markt behaupten wollte.

Schon auf der ersten Seite im ersten Satz der Einleitung wird allerdings deutlich, daß Castaneda von seinem ursprünglichen Ansatz weit abgerückt ist und zum Schluß seiner Werke nicht mehr den Anspruch vertritt, es ginge ihm um Zauberei und Macht:

"Don Juan Matus, ein Meisterschamane, ein 'Nagual', wie Meisterschamanen genannt werden, die an der Spitze einer Gruppe von Zauberern stehen, hat mir den Zugang zu der kognitiven Welt der Schamanen geöffnet, die in alter Zeit in Mexiko lebten." (S. 7)

Was macht der Begriff "kognitive Welt" in einem Castaneda? Diese Frage wird sich zumindest jeder Altleser stellen, der das Buch an den ersten Romanen des Autors mißt. Dort ging es um die Erlangung körperlicher Fertigkeiten und um einen äußerst heiklen Kontakt, beziehungsweise ein Bündnis mit Wesenheiten, die nicht der menschlichen Konvention unterworfen waren, aber die, sofern man ihren Weg kreuzte und die Begegnung überlebte, einen ungeheuren Machtzuwachs bedeuten konnten. Aber eine "kognitive Welt"? Das ist ein klarer Rückzieher auf ein psychologisches Konzept, wie man es meterweise in den Regalen einschlägiger Esoterik- Buchhandlungen in zig Abwandlungen der immer gleichen Grundaussage findet. In jenen Büchern wandeln die Adepten zu nachtschlafender Zeit von Schauplatz zu Schauplatz - in ihren Träumen, versteht sich - und lassen ihren Geist Reisen zu den phantastischsten Welten unternehmen. Einige Autoren verknüpfen die Vorstellung früherer Leben mit ihren Traumreisen, andere sprechen von Bewußtseintserweiterung, Traumzeit oder subjektiver Realität - Castaneda nennt es halt "kognitive Welt". Wenn "Tensegrity" als etwas anderes als ein Bewußtseinskonzept gedacht war, warum beschränkt Castaneda dann die Welt der Schamanen auf die bloße Kognition und grenzt sie somit von Wirksamkeit und Einflußnahme ab?

Sollte sich also jener Castaneda, der einst die Begegnung mit einem uralten Zauberer geschildert hatte, mit dem "Mieter", der seit Jahrunderten auf die gesamte Zauberlinie des Don Juan Einfluß genommen und jedem Nagual ein machtvolles Geschenk gemacht hatte -, sollte sich also jener Castaneda auf das vertraute Feld von Psychologismen zurückgezogen haben, auf bloße Sensationen, die der in bürgerlicher Mittelmäßigkeit aufgewachsene Pennäler allein schon bei der Lektüre von Büchern über Zauberei nur allzu bereitwillig am eigenen Leibe erfahren will, vielleicht noch befördert durch den ein oder anderen Verbündeten, den er in den aufsteigenden Rauchschlieren seiner Krautpfeife zu erkennen glaubte? Tatsächlich läßt sich dem Buch nichts entnehmen, das diesem Eindruck widerspräche. Wenn es in "Tensegrity" einen roten Faden zu entdecken gibt, dann ist es der, daß sich der Anspruch auf Wirksamkeit in Wohlgefälligkeit auflöst - sprichwörtlich, wie dem folgenden Zitat aus der Einleitung zu entnehmen ist, in der Castaneda seine magischen Bewegungen, von denen in früheren Büchern übrigens niemals die Rede war, ins Zentrum der generationenlangen Zauberlehre rückt:

"Die magischen Bewegungen wurden nicht erfunden. Sie wurden von den Schamanen seiner Tradition, die in alter Zeit in Mexiko lebten, entdeckt, während sie sich in schamanistischen Zuständen 'gesteigerten Bewußtseins' befanden. Die Entdeckung der magischen Bewegungen geschah eher zufällig. Am Anfang stand die sehr einfache Frage nach dem Wesen eines unglaublichen Wohlgefühls, das diese Schamanen in den Zuständen 'gesteigerten Bewußtseins' erlebten, wenn sie bestimmte Körperhaltungen einnahmen oder ihre Glieder auf eine bestimmte Art und Weise bewegten. Ihr Wohlgefühl war so intensiv, daß der Drang, diese Bewegungen in einem normalen Bewußtseinszustand zu wiederholen, bald zum Mittelpunkt all ihrer Bemühungen wurde."
(S. 8)

Während Castaneda in seinen früheren Büchern statt "gesteigerter Bewußtheit" Begriffe wie "zweite Aufmerksamkeit" oder "Nagual" einsetzte, die zumindest noch den Deutungsspielraum zuließen, es könne sich um etwas anderes als um jenen menschheitsalten Götzen namens Reflektion handeln, dessen Reiz-Reaktionsbogen sich den huldvollen Gläubigen nimmerendend aus allen vor- und unvorstellbaren Richtungen entgegenspannt und ihn im Zentrum seiner persönlichen Welt gefangen hält, so ist "gesteigerte Bewußtheit" gleichbedeutend mit dem egozentrischen Wahn, man halte die Fäden, an denen die Welt hängt, tatsächlich in den eigenen Händen und nicht umgekehrt.

Doch wird nicht auch die Hand eher von der Marionette geführt, von der Länge der Fäden, der Form der Gliedmaßen und den Räumen ihrer Gelenke? Castanedas magische Bewegungen sind wie die Hand, die den Anforderungen Genüge tut, indem sie den bestimmenden Kräften des Falls nach unten und dem permanenten Aufbäumen folgt und sich nach vollbrachtem Werk zur Ruhe begibt. Jenes Wohlgefühl, das in Folge der im zweiten, wesentlich größeren Teil "Tensegritys" fotografisch dargestellten Bewegungen angeblich einsetzt, kommt dem erleichterten Empfinden nach einem strammen Fußmarsch gleich, wenn der schwere Rucksack abgelegt wird und sich der Wanderer auf einmal so unbeschreiblich erleichtert fühlt. Denn was Castaneda in sechs Bewegungsfolgen mit jeweils bis zu vier Untergruppen präsentiert, sind nichts anderes als Wechselfälle von Spannung und Entspannung in zumeist statischer, anstrengender Position. Wie auch in manchen Büchern zum Kung Fu ist der Stand bei Castaneda etwas mehr als schulterbreit, und die Knie sind leicht gebeugt. Schon das allein verlangt von dem Übenden eine gewisse Kondition, um nicht zu sagen, Bereitschaft, sich solchen Plagen auf das Versprechen hin auszusetzen, man könne irgendwann auf die Strapazen verzichten und die herbeigesehnten Wirkungen auf anderem Wege erzielen. Diese Hoffnung erfüllt sich allerdings nie, wie schon die Erfahrungen langjähriger Praktikanten der Kampfkünste zeigen, und so bleibt bei Castaneda bestenfalls das Wohlgefühl, das der Verspannung folgt wie das Hinwegdämmern in den Schlaf nach einem anstrengenden Marsch.

In keinem Buch, das Castaneda in der Zeit vor "Tensegrity" geschrieben hat, kommt dem Wohlgefühl eine besondere Bedeutung zu. Gewiß, die beiden Lehrer von Carlos Castaneda, Don Juan und Don Genaro, waren von äußerst sonnigem Gemüt und boshafter Schalkhaftigkeit. Sie schienen keine Gelegenheit verstreichen zu lassen, Carlos Castaneda einen gehörigen Schrecken einzujagen, was bei ihnen regelmäßig zu langanhaltenden Heiterkeitsausbrüchen führte - aber diese Form von Wohlgefühl stand niemals im Zentrum der Zauberei und war niemals ihr Daseinszweck! Wenn es darum geht, gute Gefühle zu entwickeln, bedürfte es auch keines solch komplizierten Regelwerks, wie es Castaneda in seinen rund zehn Büchern geschildert hat - das ist nur etwas für komplizierte Menschen -, einen Rausch der Sinne im Hier und Jetzt kann man auch nach der Einnahme psychedelischer Drogen oder Alkoholika erleben.

Es mag sein, daß Castaneda mit "Tensegrity" auf einen Kundenkreis abgezielt hat, der sein Erbe nunmehr in einer Bewegungsform verwalten soll, da die literarische Quelle nach etlichen schlecht kaschierten Wiederholungen versiegt war. Man ist deshalb geneigt zu sagen, daß die magischen Bewegungen ohne seinen Schöpfer noch weiter verwässert werden, ganz so wie man es von den meisten Schülergenerationen der verschiedenen Kampfkünsten kennt, aber kann man Wasser mit Wasser verdünnen? Mit anderen Worten: Castaneda hat bereits einen dünnen Auszug aus anderen Formen der Körperertüchtigung gemacht.

Die Übung 27 der 3. Gruppe der 1. Folge (diese formale Systematik hat sich als das einzig Verbindende der Übungen herausgestellt) wird "Energie von vorne zu den Nebennieren bringen" genannt. Die Bildfolge weist große Ähnlichkeiten mit der Grundposition des Wing Tsun auf, wobei Castaneda anscheinend darauf geachtet hat, es nicht vollständig zu kopieren, sondern sich nur daran anzulehnen. Übung 41 der 4. Gruppe der 3. Folge wiederum erinnert an den Gottesanbeterinnenstil. Und das Tai Chi findet man in so vielen Übungen wieder, daß hier nur stellvertretend der tiefe Pferdestand genannt wird, der bei Castaneda allerdings nicht ganz so tief ausgeführt wird. Er nennt es "Die persönliche Geschichte mit der Ferse am Boden in Bewegung setzen" (Übung 22, 2. Gruppe, 3. Folge). Zur Ehrenrettung der hier erwähnten Kampfkünste sei gesagt, daß Castaneda bei jeder Übung hinsichtlich der Präzision der Ausführung weit hinter ihnen zurückbleibt, dynamische Anteil vollständig unterdrückt und, was am schwerwiegendsten ist, jeden inneren, das heißt herleitbaren Zusammenhang der Bewegungsformen, wie man sie in den Kampfkünsten wiederfindet, missen läßt.

Auch Castanedas Versuch, den magischen Bewegungen einen theoretischen Hintergrund zu verpassen, fällt mehr als kläglich aus. Der Autor schreibt, daß es in der Zauberschule Don Juans darum ging, "Energie umzuverteilen", und daß jedem Menschen von Geburt an eine bestimmte Energiemenge mitgegeben sei. Der Leser soll nun mit dem bloßen Versprechen geködert werden, daß das Verdrehen der Handgelenke in bestimmte Richtungen oder der angestrengte Blick abwechselnd über die rechte und linke Schulter oder auch das Kreisenlassen der gestreckten Arme eben diese unsichtbare Energie "richtig" umverteile. Dabei gibt es für den Praktizierenden keinerlei Erfolgsmaßstäbe, denn die Energie ist ja nicht definiert, sondern muß als mystische Größe herhalten.

Eine schneidende Bewegung mit dem gestreckten Arm vor dem Körper nach unten wird als "Zerschneiden der Energie" ausgewiesen - doch der Übende hat keinen Anhaltspunkt dafür, was er da eigentlich macht, also ob er Energie zerschneidet oder ob er sie nicht trifft, noch wird ihm mitgeteilt, warum er die Energie überhaupt zerschneiden soll. Zumal er in anderen Übungen die Energie hochzieht, im Kreis sammelt, zu einer Kugel ballt, zerschlägt, behämmert, mit einem Aufwärtshaken trifft, aufrührt, bündelt, häuft oder auch zerstreut (S. 140ff), um nur eine kleine Auswahl der dargebotenen Umgangsformen mit dieser unsichtbaren Größe zu erwähnen.

Tensegrity sei eine "sehr zutreffende Bezeichnung" für die magischen Bewegungen, erklärt Castaneda (S. 29), "denn es ist eine Mischung aus zwei Begriffen, 'Tension' und 'Integrität'". In der Tat, den Eindruck einer Mixtur gewinnt auch der Leser, der die Übungen nachstellt und sich vergeblich bemüht, sie in einen logischen Zusammenhang mit den einleitenden Behauptungen zu stellen. Aus welcher Richtung man sich Tensegrity auch nähert, immer stößt man auf die Zerrissenheit eines "Systems", das diese Bezeichnung bestenfalls aus formalen Grünen verdient. 'Tensions' - Spannungen - können nur aufgebaut werden, wenn an anderer Stelle entspannt wird, und Integrität setzt die Zergliederung notwendig dauerhaft voraus. Insofern ist die Bezeichnung "Tensegrity" recht treffend gewählt, denn mit ihr entblößt sich Castaneda vollständig und uneingeschränkt als Sammler in den verschiedenen esoterischen Strömungen. Nur wer sich mittreiben lassen will, dem sei das Buch empfohlen.

Carlos Castaneda
Tensegrity - Die magischen Bewegungen der Zauberer
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1998
222 Seiten
ISBN 3-10-010212-2