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BUCHBESPRECHUNG/115: DFG - Astronomie in Deutschland (Denkschrift) (SB)


Deutsche Forschungsgemeinschaft


Status und Perspektiven der Astronomie in Deutschland 2003-2016

Denkschrift



Die vorliegende Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zählt nicht zu jenen Büchern über Astronomie, in denen die heute gültigen wissenschaftlichen Theorien zum Universum und seinen vielfältigen Facetten von Grund auf erklärt werden. Vielmehr richtet sich die Denkschrift an "Forscherinnen und Forscher in Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen", wie DFG-Präsident Prof. Dr. Ernst-Ludwig Winnacker bereits in seinem Vorwort bemerkt. Es ist ein Buch von Astronomen für Astronomen; dementsprechend werden die wissenschaftlichen Grundlagen vorausgesetzt. Zudem wird auf bestimmte Themenbereiche innerhalb der Astronomie absichtlich nicht eingegangen, da die Funktion der Denkschrift darin besteht, nur den gegenwärtigen Stand der Astronomie, an der auch deutsche Forschungseinrichtungen beteiligt sind, zu präsentieren.

Winnacker ruft zu einer gemeinsamen Anstrengung der Astronomen auf, damit sie ihren Beitrag zur Beantwortung der in dem Buch aufgeworfenen Fragen leisten. Als weitere Zielgruppe könnte man auch Politiker und andere Entscheidungsträger nennen, die über die Finanzierung der sprichwörtlich astronomisch teuren Projekte befinden. Mit der Denkschrift "Status und Perspektiven der Astronomie in Deutschland" sollen sie davon überzeugt werden, daß es sich lohnt, in die hier vorgestellten Projekte zu investieren, da sie angeblich einen erheblichen wissenschaftlichen Nutzen bringen. Dazu geben die Autoren, wie der Titel bereits deutlich macht, einen Ausblick auf die nächsten zwölf Jahre. Damit setzt der Rat der Deutschen Sternwarten, der sich für das Werk verantwortlich zeichnet, eine Tradition fort, die schon jeweils 1962 und 1987 zur Veröffentlichung einer Denkschrift geführt hat.

Zahlreiche, meist farbige Abbildungen, Schaubilder, Diagramme und Tabellen erleichtern das Verständnis der sachlichen, nicht auf populärwissenschaftliche Sensationen abzielenden Beschreibungen. Die detaillierte Gliederung erfüllt uneingeschränkt die Kriterien einer wissenschaftlichen Publikation, während die auf die Randspalten ausgelagerten Kernbegriffe sowie jeweils den Hauptkapiteln vorangestellte Stichworte "wissenschaftlicher Fortschritt" und "Aufgaben und Ziele" ein Zugeständnis an den Orientierungsbedarf der allgemeinen Leserschaft sind. Über ein Stichwortverzeichnis verfügt die Denkschrift nicht, aber am Ende werden in einem Glossar die wichtigsten Akronyme zu Fachbegriffen und Institutionen sowie zu Teleskopen, Instrumenten und Experimenten aufgelistet.

Trotz der Ausrichtung auf eine fachlich vorgebildete Leserschaft liefern die ersten beiden Kapitel "Astronomie gestern, heute und morgen" und "Die wissenschaftlichen Themen", die zusammen mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs der Denkschrift ausmachen, auch für Laien einen gelungenen Einblick in die wissenschaftlichen Fragestellungen, Methoden sowie auf Instrumente der Himmelsbeobachtung. Das dritte Kapitel befaßt sich sogar schwerpunktmäßig mit den "Observatorien und Instrumenten der nächsten fünfzehn Jahre", wobei hier auffällt, daß nahezu alle Projekte international, manche sogar global entwickelt werden sollen.

Deutschland allein könnte es sich niemals leisten, Großprojekte wie beispielsweise das Weltraumobservatorium DARWIN, mit dem in 15 bis 20 Jahren eine direkte Beobachtung von extrasolaren Planeten angestrebt wird, zu bauen. Aber die deutsche Forschung will sich daran beteiligen, und selbst das wird mehr als 25 Millionen Euro verschlingen, wie einer Übersichtstabelle mit dem Titel "Empfehlungen" (Kapitel 5) für künftige Projekte zu entnehmen ist. Einem Wunschzettel für Weihnachten ähnelnd sind hier große, mittlere und kleine Projekte aufgelistet, an denen sich die Astronomen künftig eine Finanzierung wünschen. Zur leichteren Einschätzung wurden die Projekte einerseits nach ihrer Priorität für die Astronomie, andererseits danach taxiert, wie groß die Fördermittel jeweils sein sollten.

Mit diesem Anliegen bewegen sich die Astronomen natürlich in Konkurrenz zu anderen Fachdisziplinen, die ebenfalls auf die besondere Bedeutung ihrer Forschung verweisen. Beim Ringen um Fördergelder hat die Astronomie in Deutschland bislang stets ein ziemlich großes Stück vom Kuchen abbekommen, wenngleich sie bei einer rein zweckgebundenen Kosten-Nutzen-Rechnung sicherlich stärker zu kämpfen gehabt hätte. Letztlich ist das Streben nach Erkenntnissen über die Entstehung des Weltraums und der Planeten ein Luxus, den sich nicht viele Staaten leisten können. Die Regierung eines weniger reichen Staates als Deutschland würde womöglich die Forschungsgelder eher für bodenständigere Arbeiten einsetzen, die einen unmittelbaren Nutzen für Gesundheit, Umwelt oder Wirtschaft abwürfen.

Das Buch ist nicht darauf ausgelegt, wie ein Roman von Anfang bis Ende in einem Rutsch durchgelesen zu werden. Doch der Leser kann sich eigene Schwerpunkte setzen und bestimmte Themen vertiefen, und das macht die Denkschrift interessant. Sie deckt alles das ab, was sich auf dem Gebiet der Astronomie mit deutscher Beteiligung tut, und eignet sich deshalb hervorragend für Studierende dieses Fachs. Wer jetzt ein Studium der Astronomie beginnt, kann anhand der Denkschrift einschätzen, womit er sich nach Abschluß seines Studiums womöglich befassen wird.

Über den Komplex der Forschungspolitik hinausgehend ist es spannend zu erfahren, wie sich bestimmte kosmologische Vorstellungen, die vor einigen Jahren noch als Spekulation unter der Rubrik "so könnte es sein" verbreitet wurden, auf einmal zum festen Bestandteil des astronomischen Theoriengebäudes verdichten. Zu nennen wären unter anderem die Theorie der Schwarzen Löcher, die These der Massebehaftung von Neutrinos und nicht zuletzt das Begriffspaar Dunkle Materie/Dunkle Energie.

Kein anderer als Albert Einstein hatte die von ihm ersonnene Theorie, dem Universum sei eine Kosmologische Konstante zu eigen, verworfen und als "größte Eselei" seines Lebens bezeichnet. Die Idee, es müsse so etwas wie eine all überall wirkende Kraft an sich geben, war aus der Überlegung entstanden, daß der Schwereeinfluß sämtlicher Massen des Universums eigentlich dazu führen müßte, daß dieses irgendwann zusammenstürzt. Also erweiterte Einstein die bestehende Kosmologie und formulierte die Kosmologische Konstante. Sie sei jene Kraft, die den Kollaps des Universums verhindere, deshalb entspräche ihr Wert exakt dem der Massenanziehungskraft, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.

Der ehemalige Schweizer Patentamtsgehilfe Einstein stolperte allerdings mit seiner Vorstellung darüber, daß das Universum nicht als statisch, sondern als expansiv verstanden wurde. Für diese Annahme sprach die Theorie der Rotlichtverschiebung. Und die Kosmologische Konstante als Verursacherin der Expansion sprengte die Kompromißbereitschaft der Fachwelt. Die beiden Faktoren ließen sich nicht unter einen Hut bringen. Da hätte sich der Wert der Konstanten ständig der Expansion angleichen müssen. Planeten, Sterne, Galaxien und Galaxienhaufen halten keinen gleichbleibenden Abstand zueinander ein. Wenn aber jetzt die Kosmologische Konstante so definiert ist, daß sie exakt der Massenanziehungskraft entgegensteht, müßte sich ihr Wert permanent ändern, weil sich der Abstand der Massen zueinander ändert. Dann könnte es sich aber per Definition nicht mehr um eine Konstante handeln.

Vor einigen Jahren tauchte das Denkkonzept der Kosmologischen Konstante wieder im Zusammenhang mit der Dunklen Energie auf, die im Zusammenspiel mit Begriffen wie Vakuumenergie, Dunkle Materie, Quintessenz und Inflation zu einem neuen Weltbild führen soll. Die Eselei ist allerdings weiterhin eine Eselei, ungeachtet dessen, daß Wissenschaftler im Unterschied zu Einstein die Kosmologische Konstante nicht mehr für ein statisches, sondern nun für ein expansives Universum verantwortlich machen wollen. Das Postulat der Dunklen Materie ist aus der heutigen Kosmologie nicht mehr wegzudenken. Das birgt die Gefahr, daß der spekulative Gehalt der Annahme, es gebe eine nicht sichtbare, bislang nicht anzumessende, aber angeblich dennoch fast 30 Prozent der Masse des Universums repräsentierende Materie in Vergessenheit gerät. Indes verleiht es der DFG-Denkschrift einen sympathischen Zug, daß dort der Trend zur Verschleierung noch nicht abgeschlossen ist. So wird bei der Beschreibung der großräumlichen Verteilung der Materie, die dem Zusammenspiel von kosmischer Expansion und Gravitationskraft unterworfen ist, unverblümt von Simulationen gesprochen:

Diese Entwicklung wird dominiert von der Dunklen Materie, die nur gravitativ wechselwirkt. Ihre Entwicklung läßt sich inzwischen in verblüffendem Detail mittels Simulationen nachvollziehen, wobei deutsche Institute eine weltweit führende Rolle in der Konzeption, Durchführung und theoretischen Interpretation dieser Rechnungen spielen. (S. 35/36)

Mit solchen Formulierungen übertreiben die Forscher allerdings recht kräftig; sie erinnern ein wenig an das Märchen von des Kaisers neuen Kleider. Denn Verblüffung über die eigene Simulation kann ja wohl kein Maßstab für Plausibilität einer Annahme sein! Mit Simulationen kann nichts nachvollzogen werden, was noch gar nicht bekannt ist. Es handelt sich bei der Dunklen Materie um eine Vorstellung - die inzwischen von der Mehrheit der Experten geteilt wird -, aber ist sie damit bewiesen? Tatsache bleibt, daß es bis heute kein Meßgerät gibt, das Dunkle Materie mißt.

Aus dem obigen Zitat ist ebenfalls zu entnehmen, daß im Zusammenhang mit den sogenannten Simulationen im wesentlichen mathematische Berechnungen interpretiert werden. Die Kosmologen von heute haben mathematische Probleme, die denen gleichen, über die sich Forscher bereits vor einem Jahrhundert den Kopf zerbrachen. Im übrigen hat sich Einstein, vor dem Dilemma stehend, daß sich der Wert der Kosmologischen Konstante ständig den verändernden Schwereeinflüssen hätte anpassen müssen, keineswegs von der Grundidee verabschiedet, es müsse eine universale strukturbildende Kraft geben - statt Vakuumenergie könnte man auch vereinfachend von Matrix sprechen -, wohingegen man vor Einstein den Begriff des Äthers bevorzugte. Ähnlichkeiten zur obsolet erklärten Äthertheorie tauchen in dem physikalischen Konzept auf, demzufolge der Raum an sich gekrümmt sei, was bedeute, daß sich darüber auch die Massen im Universum definieren ließen.

Theoretische Fragen dieser Art werden in der Denkschrift nur dann angesprochen, wenn die Autoren zugleich eine Meßanordnung, ein neues Gerät oder eine neue Theorie anbieten, mit der das Problem ihrer Meinung nach in Angriff genommen werden kann. Dabei vermeiden es die Astronomen, ihre Adressaten durch verunsichernde Formulierungen zu verschrecken. Da geht es dem Wissenschaftler offenbar nicht anders als dem Unternehmer, der bei seiner Bank um einen Kredit anfragt. Er wäre schlecht beraten, wenn er seinem Sachbearbeiter gegenüber Unsicherheit zum Ausdruck brächte, indem er den spekulativen Charakter seiner Darlegungen betonte.

Darum wirken die in der DFG-Publikation erwähnten kosmologischen Vorstellungen auf eine Weise stringent, als wenn sie schon immer logisch aufeinander aufbauend weiterentwickelt wurden. Einsteins "Eselei" zeigt hingegen, daß Wissenschaft mitunter einen Schlingerkurs fährt, der nach vielen Jahrzehnten durchaus wieder zum Startpunkt zurückführen kann. Denkgeschichtlich kann sogar noch weiter zurückgegriffen werden. Selbst der griechische Philosoph Aristoteles hat sich mit ähnlichen Fragen herumgeschlagen. Ihm stand natürlich nicht das technologische Equipment von Einstein und Co. oder gar das der heutigen Astronomen zur Verfügung, und entsprechend fiel seine Antwort zeitgemäß aus, aber in ihr tauchen die gleichen Vorstellungen wieder auf, die auch heute noch von der Wissenschaft verbreitet werden. Aristoteles nahm an, es müsse einen "Großen Beweger" geben, von dem alle Bewegung ausgehe und der deshalb selbst nicht in Bewegung sei. Heute würde man zu dem Großen Beweger "Vakuumenergie" sagen. Sie sei dem Universum immanent, heißt es, und bewirke, daß die vom Urknall ausgehende inflationäre Expansion des Universums sich nicht ins Gegenteil verkehrt. Wäre aber damit die Vakuumenergie nicht ebenfalls der Ausdehnung unterworfen?

Unsere kurzen Ausflüge zu Aristoteles, Einstein und der Dunklen Materie sind ein vorzüglicher Beleg dafür, wie sehr die Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Leser zu weiteren Fragen anzuregen vermag. Das ist sicherlich nicht das schlechteste Merkmal eines Buchs über Astronomie.

Deutsche Forschungsgemeinschaft
Status und Perspektiven der Astronomie in Deutschland 2003-2016
Denkschrift
WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaG, Weinheim 2003
256 Seiten
ISBN 3-527-27770-8