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REZENSION/042: Dr. Hariolf Grupp - Der Delphi-Report (Ökologie) (SB)


Dr. Hariolf Grupp


Der Delphi-Report



Wer wüßte nicht gern, wie die Zukunft aussehen wird? Werden die heute nahezu unüberwindlichen Probleme der Menschheit gelöst werden können? Kann man sich auf die Zukunft freuen, oder muß man sie fürchten? Was sollte von jedem einzelnen dazu beigetragen werden, um die Zukunft positiv zu gestalten?

Das sind Fragen, die jeder gern beantwortet haben möchte. In dem vorliegenden Buch wird mittels der Darstellung des Delphi-Umfrage- Projektes der Versuch unternommen, mögliche Antworten zu formulieren. Die Fragebögen mit 1.147 Delphi-Fragen wurden erstmals im August 1992 an 3.534 ausgewählte Personen geschickt. Aus den zurückgesandten Antworten hoffte man ein Bild für eine machbare Zukunft entwerfen zu können.


Gleich zu Beginn macht der Autor darauf aufmerksam, daß es sich bei dem Delphi-Report nicht um eine Weissagung handelt, sondern um den Versuch, eine Vorausschau zu entwerfen. Eine derartige Studie könnte die Grundlage für die Zukunftsplanung und -gestaltung sein. Der Schwerpunkt des "Vorausschau"-Projektes liegt nach Auffassung des Autors eindeutig in der aktiven Gestaltung der zukünftigen Entwicklungen auf technologischen und wissenschaftlichen Gebieten.

Wer aber von dem Buch einen Blick in die Zukunft erwartet, wird enttäuscht werden.

Diese Herangehensweise der Planung in wissenschaftlichen und technischen Bereichen ist neu in Deutschland. Eine ca. 25-jährige Geschichte hat sie allerdings in Japan. Von dort wurde die Delphi-Studie übernommen. Über den befragten Personenkreis erfährt man:

Um die Ideen und Produktvisionen für die Zukunft zu entwickeln, werden die Ansichten von möglichst vielen Personen benötigt, die in möglichst verschiedenen Gebieten zu Hause sind: Industriemanager und Industrieforscher, Wissenschaftler, Manager in den öffentlichen Diensten, Praktiker aus der Politik, Verbraucher, Journalisten usw. Es ist wichtig, daß Fachleute, welche die technischen Möglichkeiten kennen, mit Anwendern, welche die Notwendigkeiten und Bedürfnisse kennen, zusammentreffen. Der Schlüssel zur Vorausschau ist also nicht das einsame Studium von imposanten Folianten, sondern die aktive Teilnahme an einem Vorausschau-Prozeß und die Auseinandersetzung mit anderen Ansichten. (S. 23)

In diesem Buch finden wir eine Auswahl der herausragendsten Ergebnisse des Delphi-Reports. Basierend auf den ausgewerteten Antworten werden Visionen entworfen:

Die Visionen: Chancen für eine saubere Umwelt
Die Visionen: Biowissenschaften und die Zukunft des

Gesundheitswesens Die Visionen: Mikroelektronik und die Informationsgesellschaft Die Visionen: Materialien und die Zukunft der Verfahrenstechnik.

Es werden auch die Schwierigkeiten ausführlich beschrieben, die die Durchführung dieses Projektes mit sich bringt. Man kann sich somit einerseits ein Bild von der Mühe, dem Aufwand und der Sorgfalt machen, andererseits auch gut erkennen, inwieweit die Ergebnisse - daran gemessen - doch sehr vorhersagbar sind.


Seit ca. 25 Jahren wird in Japan diese Art Umfrage betrieben, um Entscheidungen von einem großen und kompetenten Personenkreis vorbereiten zu lassen. Die Erfahrungen sind in Japan also reichlich, in Deutschland hingegen diesbezüglich gar nicht vorhanden. Bei der Übernahme des Befragungs-Konzeptes hielt man sich in Deutschland eng an das japanische Vorgehen. Bereits die rein sprachliche Übersetzung der Fragen vom Japanischen ins Deutsche bedurfte vieler intensiver Gespräche mit den japanischen Kollegen, um Mißverständnisse auszuschließen - auch solche die aufgrund kultureller Unterschiede nahezu unvermeidlich auftraten. Sehr anschaulich stellt Dr. Hariolf Grupp die Probleme der Verständigung und der Übertragung zwischen dem Deutschen und dem Japanischen dar.

Auch die Auswahl der befragten Personen, die allesamt anonym blieben, gehörte nicht zu den einfachsten Aufgaben. Hatte man endlich alle Fragebögen verschickt, war noch lange nicht sicher, ob auch alle Personen antworten würden. Viele beteiligten sich nicht, ließen nichts von sich hören, andere meldeten sich wenigstens und begründeten ihre Nichtteilnahme.

Man gewinnt auf diese Weise einen guten Einblick in die Problematik des Umfrage-Projektes. Ausführlich beschrieben wird das Verfahren bei der Auswertung der Antworten. Die unterschiedlichen Einschätzungen der befragten Experten werden zusammengefaßt, und es wird ein Bild für die möglichen zukünftigen Entwicklungen entworfen. Hier bestehen im wesentlichen in der zeitlichen Prognose über die Realisierbarkeit der betreffenden technologischen Innovationen differente Meinungen. Immer wieder werden die Ergebnisse aus japanischen Befragungen mit denen der deutschen verglichen, um einen Eindruck von den vielleicht auch politisch, wirtschaftlich oder kulturell bedingten unterschiedlichen Schwerpunkten zu erhalten. Gibt es typisch japanische Verhaltensweisen, die unter Umständen in Zukunft auch für die deutschen Bürger von Vorteil sein könnten?

Obgleich Dr. Hariolf Grupp sehr bemüht ist, die problematischen Aspekte des Delphi-Reports sachlich aufzuzeigen, entsteht letztlich doch ein sehr stimmungsvolles und positives Bild der Zukunft.

Mitnichten soll dem Pessimismus das Wort geredet werden, doch lassen die in diesem Buch zusammengetragenen Einschätzungen zum großen Teil den Bezug zur Realität vermissen. Sie erinnern mehr an Wunschträume und Hoffnungen als an kritische Analysen und entsprechende Schlußfolgerungen. Zwar könnte man einwenden, daß es sich hier um Visionen handelt, doch wenn sie als mögliche Perspektive und Handlungsvorschlag dienen sollen, müßten sie zumindest die heutige soziale, politische, wirtschaftliche und ökologische Realität mitberücksichtigen. Bar jeden Bezugs zu den in der Welt herrschenden Verhältnissen erscheinen derartige Visionen wie die Sandkastenspielereien von Menschen, die es sich in jeder Hinsicht erlauben können. Am Schluß des Buches wird zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, daß manche der Visionen, beispielsweise über die zukünftigen Entwicklungen in den Bereichen Recycling, Klimaschutz, Energiebereitstellung, Satellitenüberwachung, Schutz der Regenwälder, Artenschutz und Lärmschutz, absichtlich so "utopisch" gezeichnet wurden. Provokant sollen sie sein, zu Gesprächen und zum Nachdenken anregen - doch ähneln sie zu sehr gängigen Klischees, als daß man sie wirklich ernst nehmen könnte. Es wird ganz selbstverständlich oder selbstredend von der Aufgabe der Klärung "von Ursachen und Wirkungen des sauren Regens auf Vegetationsstörungen, wie zum Beispiel die Waldschäden" gesprochen oder betont, daß die Rettung der Regenwälder für die Dritte Welt eine "vordringliche Aufgabe" sei.

Viele Passagen in diesem Band muten utopisch an. Das war beabsichtigt. Es ist Aufgabe der Delphi-Befragung, das Utopische vom Realistischen zu unterscheiden, die Spreu vom Weizen zu trennen und zu benennen, was spät und was früh zu erwarten ist. Manches Zukunftsbild ist gezeichnet worden, um zu provozieren und zu erschrecken. Für die wahrscheinliche Entwicklung der Zukunft muß man auch eine Laissez-faire-Politik im Staat und im Unternehmen in Rechnung stellen. (S. 233)

Letztendlich entsteht der Eindruck, die Gestaltung der Zukunft sei eine Rechenaufgabe. Alles ließe sich gegeneinander rechnen und in vernünftige Verhältnisse bringen, damit effiziente Verfahren und Technologien erzielt werden können. Technisch gesehen scheint die Zukunft rosig zu sein, alles ist machbar und mehr oder weniger eine Kostenfrage.

"(...) die Elektronisierung des Haushalts, eine Vision, die auch mit dem Schlagwort "Domotik" belegt ist. Das intelligente Haus greift zunehmend die Möglichkeiten der modernen Informationstechnik im häuslichen Bereich auf. Hauptziel ist es dabei, das Leben im Haus der Zukunft sicherer und komfortabler, aber auch energiesparender und umweltschonender zu gestalten. Die Nachführung der Raumtemperatur, das dosierte Lüften, das selektive Heizen von Räumen je nach Nutzungsgrad und vieles andere mehr kann von Maschinen übernommen werden, die von den Hausbewohnern ihren Wünschen gemäß programmiert werden. Energieverschwendung aus Vergeßlichkeit gehört damit der Vergangenheit an." (S. 89)

Angesichts der heutigen katastrophalen Verhältnisse auf dem Wohnungsmarkt scheint es naheliegender, anzunehmen, daß die meisten Menschen froh sind, wenn sie überhaupt ein Dach über dem Kopf haben werden. Noch zeigt sich auf dem Wohnungsmarkt keine Besserung, und die Arbeitslosigkeit läßt die Zahl der Erwerbslosen in die Höhe steigen. Sicherlich wird es für einen bestimmten Personenkreis auch in Zukunft möglich sein, sich ein Haus mit allen technischen Finessen zu erwerben, doch für das Gros der Menschen stellt sich die Zukunft anders dar. Die Kluft zwischen arm und reich wird weiter vertieft. Selbst wenn man den Traum von der "Domotik" einmal weiterträumt und davon ausgeht, daß derartige Wohnungen für die meisten Menschen tatsächlich zur Verfügung stehen, bleibt es doch immer noch sehr die Frage, inwieweit ein gesteuertes und kontrollierbares Haus ein wohliges Gefühl der Privatsphäre aufrechterhalten kann? Fühlt man sich vielleicht nicht ein bißchen entmündigt? Entspricht dies nicht genau den Interessen, die zum Bau der "intelligenten Häuser" geführt haben? Trifft es dann wieder einmal die einfachen Leute, deren Müll, deren Heizverhalten, deren Lüftungsgewohnheiten, deren Stromverbrauch und deren alltägliches Leben überhaupt kontrolliert und bewertet werden? Die Gefahr einer weitestgehend kontrollierbaren Gesellschaft wird im allgemeinen wie auch im Buch von Dr. Hariolf Grupp unterschätzt. Auch die hohe Bereitschaft bei einem Großteil der Bevölkerung, sich im Sinne einer höheren Notwendigkeit - der ökologischen Vernunft - kontrollieren zu lassen und andere zu überprüfen, wird selten als Quelle sozialer Konflikte gesehen. So manche Bequemlichkeit hat für die freie und durch niemanden kontrollierte Beweglichkeit des einzelnen Menschen einschränkende Konsequenzen. Man denke nur an den bargeldlosen Waren- und Dienstleistungsverkehr. Mit dem Vorwand der Bequemlichkeit lassen sich letztlich die kleinsten Einkäufe zurückverfolgen. Wann wurden die Brötchen gekauft, wann die letzte Abbuchung für die im Katalog bestellte Bettwäsche geleistet, wann die Stromrechnung bezahlt und so weiter. Technokratisch und systemgerecht werden Zahlungen eingefordert. Das einzige, was in diesem Zusammenhang von Interesse sein kann, ist das reibungslose Funktionieren der Computersysteme. Für menschliche Belange, für Verständnis, Entgegenkommen, für Gespräche, Verhandlungen und Vereinbarungen, die der jeweiligen Lebenssituation eines Menschen entsprechen, bleibt kein Raum.

Am Schluß seines Buches erwähnt der Autor diese mögliche Gefahr, jedoch so randläufig, daß nicht davon auszugehen ist, daß diese Problematik als wichtig erachtet wird. Im Vordergrund steht die technische und wirtschaftliche Effizienz und die ökologische Vernunft.

Prognosen, die sich aus den zurückgesandten Antworten der befragten Experten erstellen lassen, wirken oft völlig von den sozialen und politischen Verhältnissen isoliert. Der einzelne Mensch wird mit seinem widersprüchlichen Verhalten nicht in die Antworten miteinbezogen. Menschen, deren Überlebenskampf mit zunehmend schlechter werdenden Lebensbedingungen immer härter und unerbittlicher wird, hören irgendwann auf, im Sinne eines Delphi- Reports irgendwo fern ihrer eigenen unmittelbaren Lebensrealität Zukunft zu gestalten. Geht es um das bloße Überleben, jeden Tag aufs neue, gibt es andere Prioritäten.

Vielleicht gilt dann als einzig machbare Zukunftsgestaltung tatsächlich nur noch die Durchsetzung eines technokratisch perfekten und von einer Minderheit entwickelten Zukunftskonzeptes. Letztendlich bleibt auch eine derartige Zukunftgestaltung eine reine Machtfrage. Durchgesetzt werden diese oder jene als vorteilhaft befundenen Ideen weiterhin von den Menschen, die über Macht und Mittel verfügen.


Empfehlen kann man dieses Buch all denen, die sich einen Einblick in die Problematik einer Befragung verschaffen wollen. Hier hat Dr. Hariolf Grupp sehr detailliert und umfangreich über Schwierigkeiten und Lösungsversuche berichtet.

Auch all jene, die sich ein wenig Hoffnung machen wollen und eine Zukunftsplanung - allerdings unter Ausklammerung des "Faktors" Mensch - betrachten möchten, werden zufrieden sein. Es erscheint nach der Lektüre dieses Buches alles so machbar.

Ein Ärgernis bleibt es für alle, die sich tatsächlich um eine Zukunft sorgen, in der Menschen, Tiere und Pflanzen leben können. Die Probleme, die sich hier auftun, lassen sich nicht technisch oder mathematisch lösen, liegen viel tiefer, scheinen geradezu Bestandteil der kreatürlichen Erscheinung zu sein, als daß man damit so leichtfertig und oberflächlich umgehen könnte.


Dr. Hariolf Grupp
Der Delphi-Report
Innovationen für unsere Zukunft
Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1995