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REZENSION/114: George Monbiot - Captive State (Kapitalismuskritik) (SB)


George Monbiot


Captive State

The Corporate Takeover of Britain



Seit mehr als zwei Jahrzehnten fungiert Großbritannien als trojanisches Pferd und Einfallspforte für jede Art von neoliberalem Technokratentum auf europäischem Boden und verwandelt sich dabei zusehends zum Polizeistaat. Was die immer weiter aufklaffende Schere zwischen Arm und Reich, die Verscherbelung staatlicher Ressourcen an irgendwelche Nadelstreifenanzugträger, die Zerschlagung der traditionellen Verarbeitungsindustrie bei gleichzeitigem Ausbau des Dienstleistungsgewerbes, das durch sozial wenig abgesicherte Billigjobs gekennzeichnet ist, den Niedergang der öffentlichen Bildungs-, Gesundheits- und Transportsysteme, die steigende Gewaltkriminalität, die Zahl der Menschen hinter Gitter im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sowie die Ausstattung der Großstädte mit Polizei- und privaten Sicherheitskameras betrifft, so herrschen in Großbritannien Zustände, wie man sie in der industrialisierten Welt nur aus den USA kennt.

Nach 18 Jahren konservativer Herrschaft unter Margaret Thatcher und John Major errang 1997 die Labour-Partei einen erdrutschartigen Wahlsieg. Damals hofften viele Briten, die neue Regierung unter dem jungen Premierminister Tony Blair würde die Ausplünderung des Landes durch die Londoner City und deren Handlanger ein Ende machen, sich um den seit Jahren vernachlässigten sozialen Ausgleich kümmern und Verhältnisse wie in Deutschland, Frankreich oder den skandinavischen Ländern schaffen. 2001 konnten Blair und Co. den Wahlsieg von vier Jahren zuvor wiederholen. Dies lag eher am anhaltenden Streit der oppositionellen Tories in der Europa-Frage, am britischen Wahlrecht sowie an der extrem niedrigen Wahlbeteiligung. Letztere gilt als Ausdruck der Resignation vieler britischer Wähler, denn unter Blair hat "New" Labour jegliche Verbindung zur ihrer sozialistischen Vergangenheit gekappt und die konservative Politik Margaret Thatchers fortgeführt, bei der auf individuelle Leistung gesetzt und auf soziale Ausgewogenheit verzichtet wird.

Kein Wunder also, daß einige Briten die Rettung des Landes sogar in einer stärkeren Anbindung an die Europäische Union einschließlich einer Aufgabe des Pfundes zugunsten des Euros sehen. Daß solche Hoffnungen illusorisch sind, dürfte angesichts ähnlich asozialer Entwicklungen nicht nur innerhalb der anderen EU-Mitgliedsstaaten, sondern auch auf der Kommissionsebene selbst klar sein. So gesehen spielt London durchaus die Rolle des neoliberalen Taktgebers innerhalb der EU. Ansonsten ist es nicht zu erklären, warum zum Beispiel die rot-grüne Regierung Gerhard Schröders die deutsche Bahn zerschlagen und das noch intakte Schienensystem der Bundesrepublik dem gleichen Raubrittertum aussetzen will, das in Großbritannien aus dem öffentlichen Verkehrssystem das absolute Chaos gemacht hat - ein Chaos wohlgemerkt, das ständige schwere Unglücke produziert und immer wieder Menschenleben kostet.

Die Tatsache, daß in Großbritannien inzwischen alles käuflich zu sein scheint, hat nicht nur zu einer drastischen Zunahme der Straßenkriminalität, sondern auch zu einem erschreckenden Werteverfall geführt. Wie tief England, dessen Beamtenschaft lang Jahre als unkorrumpierbar galt, gesunken ist, zeigt ein Skandal, der gerade in diesen Tagen für Schlagzeilen sorgt. Zwei Akademiker an der altehrwürdigen Universität von Oxford haben ihren Sessel räumen müssen, nachdem herauskam, daß sie einem als Bankier getarnten Journalisten der Londoner Times gegen eine großzügige Spende für die Hochschule einen Studienplatz für dessen Sohn zugesichert hatten.

Das Buch "Captive State: The Corporate Takeover of Britain" von George Monbiot dokumentiert auf meisterhafte Weise die Übernahme Großbritanniens durch die Großkonzerne und durchleuchtet das dort herrschende personelle Interessensdickicht von Staatsspitze und Chefetage. Nicht umsonst stand das Buch 2001 im Heimatland des Autors ganz oben auf der Bestsellerliste. Wer beispielsweise den Skandal um die gigantische Müllverbrennungsanlage der Firma Trienekens und die peinliche Rolle der Kölner SPD, der wie die teutonische Billigversion einer Folge der US-Mafiaserie Die Sopranos anmutet, besser verstehen möchte, der soll unbedingt Monbiots "Captive State" lesen, denn unter dem Vorwand der Privatfinanzinitiativen, Public Private Partnerships (PPP) und Private Finance Initiatives (PFI), übergibt die Regierung in Großbritannien seit Jahren frühere Zuständigkeitsbereiche des Staates an die Privatkonzerne - in den meisten Fällen zugunsten irgendwelcher befreundeter Industriemagnaten und Konzerne, gleichzeitig zuungunsten des einfachen Bürgers und Steuerzahlers.

George Monbiot, angesehener Kolumnist der linksliberalen britischen Tageszeitung Guardian, wurde vor einiger Zeit vom Londoner Evening Standard als einer der 25 einflußreichsten Menschen in Großbritannien bezeichnet und vom Independent on Sunday gar als einer der 40 internationalen Propheten des 21. Jahrhunderts. Er ist Autor der investigativen Reisebücher "Poisoned Arrows" über den Bürgerkrieg in Irian Jaya zwischen Eingeborenen und den Truppen der indonesischen Zentralregierung, "Amazon Watershed" über den Raubbau im Amazonas- Gebiet und "No Man's Land" über die sich verschlechternde Situation in Ostafrika.

In "Captive State" befaßt sich Monbiot eingehend mit der zunehmenden Ressourcenverteilung von unten nach oben im eigenen Land und zeigt, wie das Phänomen die Stadtentwicklung, den Planungsprozeß und die Besetzung von wichtigen Regierungs- und Verwaltungsämtern zusehends korrumpiert. In dem Buch gibt es sogar ein ganzes Kapitel, "The Fatcats Directory" - Fatcats heißt soviel wie Absahner -, in dem die außergewöhnlichen Interessenkonflikte im Bereich der Ämtervergabe aufgezeigt werden. Bestes Beispiel für die Klüngelwirtschaft in Blairs Britannien ist die Position von Lord Sainsbury als Wissenschaftsminister. Sainsbury, Miteigentümer der gleichnamigen Lebensmittelkette, einer der reichsten Männer des Landes sowie inzwischen der vielleicht wichtigste Einzelspender der Labour-Partei, ist als oberster Dienstherr im britischen Wissenschaftsministerium für die Biotechnologie sowie die Vergabe von Lizenzen für die Genmanipulation von Lebensmitteln verantwortlich - beides Bereiche, die seine geschäftlichen Interessen unmittelbar tangieren.

Den Briten ist der gesellschaftliche Konsens weit deutlicher als den Deutschen abhanden gekommen. Für diese Tatsache ist das pöbelhafte Verhalten vor allem der jüngeren Menschen - die sogenannte "yob culture" - der sichtbarste Beweis. Gegen den Willen nicht nur der eigenen Parteigenossen, sondern der Mehrheit des eigenen Volkes ist die Regierung Blair fest entschlossen, auch die letzten Bereiche des Staates wie beispielsweise im Bildungs- und Gesundheitswesen, der Privatindustrie freizugeben und die ganze Gesellschaft deren Imperativ von Profitmaximierung und Ressourcenabschöpfung unterzuordnen. Inzwischen regt sich erheblicher Widerstand bei der intellektuellen Elite sowie bei den Gewerkschaften gegen die von Premierminister Blair propagierte, vollständige Verwandlung des Bürgers in einen der Macht der Konzerne ausgelieferten "Mitgesellschafter" beziehungsweise "Verbraucher". An der Entwicklung dieses Widerstandes hat Journalist und Aktivist George Monbiot mit dem spannenden und zugleich aufrüttelnden Enthüllungsbuch "Captive State" einen wichtigen Beitrag geleistet.

- 25. März 2002

[siehe hierzu im Fachpool POLITIK\REDAKTION: WELTORDNUNG/203: George Monbiots Appell an die Globalisierungsgegner

sowie im Fachpool POLITIK\TALK: INTERVIEW/001: George Monbiot - Gegen Krieg und Globalisierung]


George Monbiot
Captive State
The Corporate Takeover of Britain
Pan Books - London, 2001
430 Seiten
ISBN 0-330-36943-1