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REZENSION/132: Klaus Kieser, Katja Schneider - Reclams Ballett Führer (SB)


Klaus Kieser, Katja Schneider


Reclams Ballett Führer



Der Reclam Ballettführer gehört schon seit Jahrzehnten (der erste Opernführer erschien 1928!) zum renommierten Standardprogramm des Reclam Verlags. Dieser hier ist dennoch brandneu. Er wurde nicht nur, wie andere bewährte Titel aus der Backlist, konsequent durchgesehen, aktualisiert oder erweitert, sondern von Klaus Kieser (Tanzhistoriker) und Katja Schneider (Tanzpublizistin und Redakteurin der Zeitschrift "tanzdrama") noch einmal völlig neu geschrieben, wobei sie sich jedoch an dem bewährten Konzept aller Reclam Musik- und Theaterführer orientierten, das diese Reihe zu einem verläßlichen Begleiter für den Zuschauer und Besucher bekannter Ballettinszenierungen werden läßt.

Für diese ist er gedacht und auch in einer selbst für Laien komfortablen, verständlichen Form geschrieben. Vergleicht man die Werkbeschreibungen des Reclamführers mit der kunstvoll gedrehten Sprache mancher Ballettkritiker der Tagespresse, die mit wortreichen Pirouetten bzw. sprachlichem En dehors (die fürs Ballett typische extreme Beinverdrehung) und sprunghaften, aber zerrissenen Assoziationen das Bühnengeschehen einer Premiere schriftlich einzufangen suchen, wird hier der Leser mit sachlichen Beschreibungen von Handlung, Tänzern und Musik zumindest nicht von dem Besuch einer Vorstellung abgeschreckt.

Da die Bedeutung des Tanzes in den letzten Jahrzehnten zumindest im Selbstverständnis der Choreographen und Tänzer zu einer eigenen Darstellungs- und Kunstform geworden ist, mit der Inhalte in dem Augenblick der Bewegung nonverbal vermittelt werden sollen, ist eine sprachliche bzw. schriftliche Fixierung, geschweige denn Vermittlung dieses Inhalts - der für den gewöhnlichen nicht tanzenden Betrachter des Geschehens selbst kaum nachzuvollziehen ist - eigentlich unmöglich. Auch die vorangesetzte geschichtliche Einführung in die Welt des heutigen Balletts, die aufgrund der Fülle des Stoffs nur einen sehr verkürzten Abriß darstellt, kann diese Verständnislücke nicht wirklich füllen, wohl aber eine Ahnung vermitteln, welche Ideen vielleicht zu den heutigen Choreographien geführt haben.

Allerdings wird dem Leser allein schon durch die Gliederung - mit der Entwicklung der modernen Tanzrichtungen an erster Stelle (Der abendländische Bühnentanz zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Moderner Tanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Der Ausdruckstanz, Modern Dance, Tanztheater) und dann an zweiter Stelle die Entwicklung des "rigiden Kodex des klassischen Tanzes" (Der klassische Tanz, Vom romantischen zum zaristischen Ballett, Reformen durch die Ballets Russes, Das Erbe der Ballets Russes) bis hin zu einer spektakulären Virtuosität, wie sie durch Tänzer wie Rudolf Nurejew, Natalija Makarowa, Michail Bayschnikow vertreten wurden, und ihrer gemäßigten Form im britischen Royal Ballet, schon eine eindeutige Wertung und Stellungnahme vermittelt, die letztlich als logische Konsequenz zum modernen Ballett hinführt, das auch derzeit am publikumswirksamsten und populärsten an den Bühnen des abendländischen Kulturraums bevorzugt und am häufigsten aufgeführt wird. Dabei handelt es sich um eine weniger an Inhalte gebundene, sondern rein auf das ästhetische Wirken ausgerichtete Symbiose zwischen den modernen und klassischen Stilrichtungen, die fast alle aus der Schule des südafrikanischen Choreografen John Cranko des Württembergischen Staatstheaters stammen.

Namen wie John Neumeier (Hamburg), Jiri Kylián (Nederlands Dans Theater) oder William Forsythe (Stuttgart), die aus dem Crankokader hervorgegangen sind, waren für die Ballettentwicklung und ihre neue Popularität in Deutschland bestimmend. Was im Reclamführer jedoch als vielgestaltige Tanzlandschaft und Pluralität beschönigt und wegen seiner leichten und anpassungsfähigen Einfügbarkeit in die Kulturlandschaft so gelobt wird, ist letztlich nur ein fauler Kompromiß zwischen den vom Publikum gewünschten und akzeptierten klassischen Bewegungen, zeitgenössischen Elementen der Jazz- und Popkultur sowie dem, was Choreographen und Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts vielleicht einmal als neue Ausdrucksform verstanden haben, von dem aber nur noch die äußere Form übrig geblieben ist. Und die hat sich bei aller "Andersartigkeit" auch in ihrer Abkehr vom klassischen Ballett gerade immer wieder an diesem orientiert. Ein Tänzer kann zwar seine Ballettschuhe an die Wand nageln, doch der Drill vieler Jahre läßt sich ebensowenig verleugnen, wie vermeintliche Tanzforen oder experimentelle, neue Aufführungsorte wie Fabrikhallen, Kirchen, Märkte letztlich doch in Abgrenzung zum Publikum immer wieder zu "Bühnen" werden.

Gerade die oben genannten Choreographen sind ein Sinnbild für harte Arbeit und Drill, denn die Tänzer ihrer Ensembles werden nicht nur nach möglichst identischer Größe und Gewicht ausgewählt, sie geben als Mitglied der Neumeier-Kompanie ihre Identität vollständig auf. Stars unter den Tänzern, wie im klassischen Ballett üblich, bringen die neuen Ballette selten hervor.

Seltsamerweise hat erst die Nachahmung dieser Errungenschaften durch den starken Zulauf beim Kinder- und Laienballett wie getanzte Andachten und an das Moderne Ballett angelehnte Inszenierungen, die ohne großartige Mittel, Kostüme und Kulissen auskommen und somit praktisch für jedermann zugänglich und machbar wurden, ein breites öffentliches Interesse an dieser Kunst geschaffen und damit auch die potentielle Leserschaft für den neuen Ballettführer. Daß von der ursprünglichen, mit der Kodifizierung des klassischen Tanzes radikal brechenden Aufbruchstimmung oder auch den Möglichkeiten, die vielleicht ehemals tatsächlich in den Ursprüngen des Tanzes gelegen haben mögen, nur mehr ein schaler zweiter Aufguß übrig bleibt, versteht sich von selbst. Doch das ist leider immer noch das, was das zahlende Publikum in die Häuser lockt.

Im Reclam Ballettführer findet der Kulturinteressierte in alphabethischer Reihenfolge rund 180 Stücke des Ballettrepertoires, ausgewählt nach Popularität und Publikumsgeschmack, kurz und sachkundig vorgestellt, und durch weitere Informationen zu Choreographie, Musik, Bühnenbild, Kostümen, Uraufführung und den einzelnen Rollen werden viele Fragen beantwortet. Nach einer ausführlichen Beschreibung des Bühnengeschehens, der Handlung bzw. des Librettos, enthält jede Monographie Hinweise zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte, zum kulturellen Kontext sowie zu Interpretationsmöglichkeiten. Ganz dem Publikumsgeschmack entsprechend, kommt allerdings den klassischen Handlungsballetten, am Umfang der Textinformation gemessen, immer noch die größte Bedeutung zu, obwohl der Inhalt dieser Werke eigentlich keiner großen Erläuterung bedarf. Um sich in die Absichten und Hintergründe modernerer Ballette oder Tanztheateraufführungen hineinzuversetzen, fehlen allerdings wesentliche Informationen.

Mit dem neu geweckten Interesse an Tanz und Ballett beim breiten Publikum wurde, wie so oft, schon das Ende dieser Epoche eingeleitet. Die Kulturbudgets werden allerorten gekürzt und die aufwendigen Ballettinszenierungen (vor allem jedoch neue Inszenierungen) sind die ersten, die aus den Theaterprogrammen gestrichen werden.

Pina Bausch, die mit ihrem Tanztheater in Wuppertal ein Stück Ballettgeschichte in Deutschland geschrieben hat und auch im Reclamführer angemessen mit vier Werken ihres umfangreichen Repertoires gewürdigt wird, wurde von jenen Stadt- und Kulturvätern, für die sie viele Jahre der wertvollste Exportartikel war, inzwischen allein aus Kostengründen vertrieben und wird sich nun vermutlich in Paris eine neue Existenz ihres Theaters aufbauen müssen.

Allerdings gilt Pina Bausch, die im Reclamführer mit den Worten zitiert wird

Ich bin weniger daran interessiert, wie sich die Menschen bewegen, als was sie bewegt,

als eine jener radikalen Vertreterinnen der modernen Tanzrichtung, die sich mit ihren Inszenierungen vom klassischen Tanz, der den Tanzenden bis ins Kleinste vorschreibt, wie sie sich zu bewegen haben, absetzen. Es spricht schon für sich, daß der freie Ausdruck - ganz gleich wie gut er sich überhaupt in Bewegung umsetzen läßt - schon vom Anspruch her keinen Platz mehr in Deutschland hat.

Auf diese Weise bekommt ein so umfangreicher, ganz neu geschriebener Ballettführer, der in ähnlicher Form vielleicht nie wieder das entsprechende Publikum findet, eine geschichtliche Funktion. Die 13. Auflage des Reclams Ballettführers ist möglicherweise nur noch ein Zeitdokument.


Klaus Kieser und Katja Schneider
Reclams Ballett Führer
13., völlig neu bearbeitete Auflage
610 Seiten, 32 Farbabbildungen
Phillip Reclam jun. Stuttgart, Oktober 2002
24,90 Euro
ISBN 3-15-010507-2