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REZENSION/151: H. Schui, S. Blankenburg - Neoliberalismus (SB)


Herbert Schui, Stephanie Blankenburg


Neoliberalismus



Der Neoliberalismus sei passé, könnte man angesichts des immer weiter auseinanderklaffenden Widerspruchs zwischen marktfundamentalistischem Anspruch und staatsinterventionistischer Realität meinen. Tatsächlich macht lediglich die Legende glauben, daß die Wirtschaftstheorie, die unter diesem Namen seit zwei Jahrzehnten weltweit den Ton sozialdarwinistischer Verunstaltung angibt, jemals ihren Idealen in dem von ihren Protagonisten beanspruchten Sinne des geldgestützten Tauschhandels und Warenverkehrs unter der Bedingung maximaler Staatsferne praktisch gerecht geworden wäre. Sie tritt viel mehr als ideologische Überhöhung eines räuberischen Anspruchs auf, der ohne den Staat als schwer bewaffnetem Garanten und politischen Sachwalter des Eigentumsrechts wie unmittelbarem Teilhaber an der Kapitalakkumulation gar nicht zu formulieren wäre.

Das Ideal des Marktes als das des allein an Angebot und Nachfrage orientierten Tausches zwischen gleichberechtigten ökonomischen Subjekten einer kapitalistischen Gesellschaft ist nicht ohne die Voraussetzung des in Geld ausgedrückten Abgleichs von Waren und Arbeitskraft zu haben. Da sich keine Kapitalakkumulation erzielen ließe, ohne daß an diesem Geschäft Beteiligte Verluste erlitten, muß der Staat eine Eigentumsordnung garantieren, deren Gewaltcharakter jeglichem Tauschverhältnis immanent ist und die im vulgären Verständnis des Neoliberalismus verstandene Zieldefinition allgemeinen Wohlstands durch wettbewerbsgenerierte Steigerung der Produktivität und des Profits dementiert.

Da die kapitalistische Wirtschaftsordnung die Eigner von Produktions- und Finanzmitteln bevorteilt, treffen stets Marktteilnehmer mit völlig unterschiedlichen Ausgangslagen aufeinander. Wer nichts als seine Arbeitskraft besitzt, ist den Interessen der Rentiers und Leistungsträger, die ihr Geld für sich arbeiten lassen, wie es so schön heißt, weit mehr ausgeliefert als diese der möglichen Weigerung des Arbeiters, ihnen seine Physis und Lebenszeit zu verkaufen. Unter den Bedingungen der Marktwirtschaft setzt Gleichheit Ungleichheit voraus, so wie die Vergleichbarkeit einer Ware mit der anderen und mit dem für ihre Produktion erforderlichen Arbeitsaufwand Ökonomie im Sinne eines gegen den andern Menschen zu richtenden Mangels erst schafft. Wirtschaften in der komplex organisierten arbeitsteiligen Gesellschaft ist daher nicht von staatlicher Ordnungspolitik zu lösen, wie das Anwachsen von innerer Repression und äußerer Aggression in einer sozial immer extremer polarisierten kapitalistischen Welt belegen.

Oberflächliches Hinsehen kann zu dem Irrtum führen, der Neoliberalismus habe aufgegeben, weil er nicht (mehr) dereguliert, sondern neu reguliert. Tatsächlich aber sind die getroffenen Maßnahmen der Nachweis dafür, dass die Absichten des Neoliberalismus gesellschaftlich verwirklicht werden.

Herbert Schui, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, und Stephanie Blankenburg, Dozentin für Volkswirtschaftslehre an der School of Oriental and African Studies an der Universität London, erbringen in ihrem Buch "Neoliberalismus: Theorie, Praxis, Gegner" den Nachweis, daß das vermeintliche Zurückdrängen neoliberaler Wirtschaftskonzepte einem zu kurzgefaßte Verständnis dieser ökonomischen Doktrin geschuldet ist. Zwar hat sich mit dem Platzen der Börsenblase nach dem Kollabieren der New Economy einige Ernüchterung ob der wunderwirkenden Kräfte einer maximal deregulierten Marktwirtschaft breit gemacht, und die Ereignisse des 11. September 2001 haben nicht nur im Sicherheitsbereich, sondern auch im Verkehrswesen und anderen Infrastrukturbereichen zu einer Aufwertung des Staates als Investor und letztinstanzlichem Garanten des Kredits geführt, doch das bedeutet keineswegs ein Auslaufen neoliberaler Ordnungskonzepte.

Schui und Blankenburg entwerfen die Geschichte des Aufstiegs dieser in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten von der Vormacht des keynesianischen Prinzips der staatlich orchestrierten Nachfragesteigerung an den Rand der Wirtschaftswissenschaften gedrängten Lehre zur weltbeherrschenden ökonomischen Doktrin als die eines Konters wirtschaftsliberaler Ideologen gegen sozial gerechtere Formen der Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands. Dabei widerlegen sie nicht nur die Relevanz des neoliberalen Katechismus vom unbedingten Primat des Privateigentums, des Marktes und des Wettbewerbs hinsichtlich des Ziels allgemeiner Existenzsicherung bei optimalen Verwertungsbedingungen des Kapitals, sondern weisen nach, daß der Wohlfahrtstaat "nicht zu Lasten der Investitionen und Gewinne finanziert" werde:

Vielmehr wird durch die Verteilungspolitik eine Nachfragelücke vermieden und dadurch ein Absinken von Produktion und Einkommen. Die materielle Absicherung des Wohlfahrtstaates besteht aus derjenigen Produktion beziehungsweise aus demjenigen Einkommen, das nicht entstehen würde, wenn die Verteilungspolitik unfähig wäre, die Nachfragelücke zu verhindern. Die Zunahme des öffentlichen Konsums hat ihre ökonomische Basis darin, dass das Wachstum der Arbeitsproduktivität im entwickelten Kapitalismus sich nicht im Verlust von Output und Beschäftigung äußert, sondern in dessen Nutzen für die allgemeine Wohlfahrt.

Die Ausführungen Schuis und Blankenburgs, die zu diesem Ergebnis führen, sind angesichts des fortschreitenden Sozialabbaus gerade für Mitglieder der Regierungsparteien von höchster Aktualität. Mit Eloquenz und Sachkenntnis decken die beiden Volkswirtschaftler im ersten Drittel ihres 190 Seiten starken Buches den neoliberalen Angriff auf den Wohlfahrtsstaat als im Sinne allgemeiner wirtschaftlicher Prosperität dysfunktional und kontraproduktiv auf. Mit dem im Rest des Werks geführten Nachweis, daß es sich beim Neoliberalismus sehr viel mehr um eine politische Ideologie als eine ökonomische Theorie handelt, die einen in seiner räuberischen und zerstörerischen Wirkung immer stärker polarisierenden Kapitalismus konstituiert wie legitimiert, räumen sie gründlich mit den quasireligiösen Dogmen der notorischen Deregulierer und Privatisierer auf, für die der Markt eine heilige Kuh zu sein scheint, die sie auf jedem Feld menschlicher Lebensentfaltung grasen lassen müssen.

Obwohl der neoliberale Kahlschlag weder die Arbeitslosigkeit beseitigt hat noch die Voraussetzungen für eine Nachfrage schafft, die neue Investitionsmöglichkeiten eröffnete, obwohl angesichts des verzweifelt nach Anlagemöglichkeiten suchenden Kapitals zumindest im volkswirtschaftlichen Sinne nicht von großer Allokationseffizienz gesprochen werden kann, ist der Neoliberalismus zu einer zentralen Achse der Globalisierung geworden. Schui und Blankenburg weisen nach, daß die Ausweitung der internationalen Handelsbeziehungen zulasten nationaler Ökonomien keineswegs ein quasi naturwüchsiger Prozeß ist, sondern von den Nationalstaaten selbst verantwortet wird. Indem die Globalisierung die Ausbreitung monetaristischer Politik mit all ihren negativen Folgen auf die Souveränität und Einkünfte der Staaten und die politische Stärke der Arbeiterschaften begünstigte, erweist sie sich als Projekt kapitalistischer Hegemonie über die Interessen jener Milliarden von Menschen, die durch die Schwächung sozialer Sicherungssysteme und den Ruin ganzer Volkswirtschaften immer ungeschützter Not und Mangel ausgesetzt werden.

Schui und Blankenburg verstehen sich als Verteidiger einer keynesianischen Wirtschaftsordnung. Bei aller expliziten Darstellung der Angriffe auf den Wohlfahrtsstaat gehen sie nicht so weit, die Sicherung kapitalistischer Verwertungsverhältnisse zulasten aller dabei zu kurz kommenden Menschen als Produkt profaner Herrschaftsinteressen auszuweisen. Im Sinne des eingangs Gesagten stellt sich die Frage nach einer menschenwürdigeren Gesellschaft jedoch nicht nur im Rahmen des Antagonismus von Reformismus und Neoliberalismus, sondern tritt als grundlegendes Problem kapitalistischer Produktionsweise in Erscheinung.

Laut den beiden Autoren ist der Widerspruch zwischen Produktivkraft und Produktionsverhältnis, an dem sich Ausbeutungsstrategien wesentlich entwickeln, durch ihre Vision eines demokratischen Staates und einer nach keynesianischen Prinizipien organisierten Wirtschaftsordnung zu lösen:

Die Gesellschaft ist fähig, den hohen Produktivkraftstand wohlstandsmehrend zu nutzen, die Reformen sind im Kapitalismus möglich. Offen ist, welche Kapriolen die Sozialgeschichte schlagen und welche Erfahrungen die Masse der Bevölkerung machen muss, um erneut in Aufruhr zu treten gegen Arbeitslosigkeit und Armut im höchst produktiven System des entwickelten Kapitalismus.

Daß diese Frage offen ist, kann man nur unterschreiben, allerdings auch in dem weiteren Sinne, daß die Grundfesten der herrschenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung keineswegs sakrosankt sein dürfen. So ist nicht unbedingt einsichtig, wieso der Reformismus im Unterschied zum Neoliberalismus in der Lage sein soll, die immanente Krisenneigung des Kapitalismus dauerhaft in Schach zu halten. Die Entschärfung des Klassenwiderspruchs durch den Wohlfahrtsstaat war niemals ein globales Phänomen, sondern auf die sogenannte Erste Welt unter den Bedingungen der Blockkonfrontation beschränkt. Wenn die Autoren dem keynesianischen Staat für die "ersten drei Nachkriegsjahrzehnte" attestieren, "höheres Wachstum zum materiellen Vorteil der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung" geschaffen zu haben, dann gehen sie nicht darauf ein, daß dies in der BRD auch durch massive Subventionierung seitens der USA und weltwirtschaftliche Privilegien, von denen heutige Entwicklungsstaaten nur träumen können, ermöglicht wurde. Es ging wesentlich um die materielle Befriedung der Arbeiterschaft und eine daraus resultierende Entpolitisierung im Angesichte der Systemalternative, die Schui und Blankenburg zufolge erst mit dem Aufkommen des Neoliberalismus erfolgt wäre.

Dessen Aufstieg zur zentralen Wirtschaftsdoktrin und definitiven politischen Norm läßt sich nicht von der Not des kapitalistischen Krisenmanagements lösen, die Durchsetzung massiver Kostensenkungen in der Produktion durch Massenarbeitslosigkeit sowie die Schaffung von Expansionsräumen für das Investivkapital durch die Privatisierung staatlicher Unternehmen legitimatorisch decken zu müssen. Die Autoren halten sich mit konkreter Systemkritik ihrer Einschätzung von der Reformfähigkeit des Kapitalismus gemäß jedoch zurück, wodurch die konkrete Entwicklung des Staates vom sozialpolitischen Moderator gesellschaftlicher Widersprüche zum Dienstleister für die Interessen der Wirtschaft und der damit einhergehende Ausbau seiner Gewaltpotentiale unterbelichtet bleibt.

Das ist jedoch ein zu verwindender Mangel, wenn es dem Leser um die Darstellung und Analyse der vorherrschenden Wirtschaftsdoktrin geht. Diese wird bezüglich ihrer theoretischen Grundlagen, für die Wissenschaftsbereiche wie Evolutions-, Staats- und Demokratietheorie herangezogen werden, äußerst umfassend geleistet. Insbesondere die politischen Vorstellungen neoliberaler Vordenker wie F.A. Hayek und J. Buchanan vermitteln dem Leser Ein- und Ausblicke, die das totalitäre Potential neoliberaler Gesellschaftstheorie freilegen. Es ergibt sich zum einen aus Anleihen an evolutionsbiologischen Konzepten, mit denen die Selektion des Überlebenstüchtigsten auf alle gesellschaftlichen Bereiche übertragen wird, und zum andern aus der nüchternen Ratio einer Raubordnung, der der Mangel an Lebensressourcen als dynamischer Faktor konstitutiv ist.

Hinsichtlich des Einflusses der neoliberalen Ideologie auf den demokratischen Staat sehen die Autoren durchweg schwarz, und dies ist angesichts der dargelegten Konzepte neoliberaler Gesellschaftsgestaltung mehr als angemessen. Auch wenn man nicht davon ausgehen kann, daß die Vorstellungen Hayeks oder Buchanans eins zu eins in politische Realität übersetzt werden, so ergibt sich schon aus der vorbehaltlosen Anwendung neoliberaler Dogmen, daß ein auf Eigentumsrecht basierendes, die darin angelegten Unterschiede markttechnisch operationalisierendes und jeden Versuch emanzipatorischer Kritik mit positivistischer Sachzwanglogik niederschlagendes Regime zu Mitteln härtester Repression greifen muß, um Bestand zu haben.

Die nicht immer leichte, da einige Vorkenntnisse verlangende Lektüre des Werks von Schui und Blankenburg lohnt schon deshalb, da man mit der dabei erlangten theoretischen Grundausstattung in vielen Bereichen des täglichen Lebens und der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf zweckrationale, legitimatorische Versatzstücke stößt, deren neoliberale Herkunft nun sofort auszumachen ist. Das aggressive Konkurrenzgehabe und der unverhohlene Rassismus der Wettbwerbsdoktrin haben Politik und Kultur tiefgreifend mit einer totalitären Ideologie kontaminiert, die nur deshalb nicht als solche auffällt, da sie nicht nur die Kommandohöhen dominiert, sondern Sprache und Denken jedes "Verbrauchers" und "Marktteilnehmers" infiltriert hat.

Daß der Mensch sich auf umfassendste Weise fremden Interessen verfügbar zu halten habe, daß er sich auf Kompatibilität mit jeder an ihn gestellten Anforderung nicht nur des Arbeitslebens, sondern auch der Reproduktionssphäre zu trimmen habe, daß er als Unternehmer seiner selbst seine Zeit und seinen Körper zu verkaufen und dabei auch den gesamten Aufwand der Vermarktung seines Humankapitals zu übernehmen habe, ja daß er sich auf sein privates soziales Umfeld marktförmig zu beziehen und dementsprechend attraktiv zu inszenieren habe, sind Ergebnisse einer zu optimierter kapitalistischer Verwertung des Menschen gereichenden Ideologie. Schui und Blankenburg tragen bei allen Vorbehalten hinsichtlich ihres Plädoyers für den Reformismus mit ihrem Buch erheblich zum Verständnis dieser als ökonomische Theorie larvierten Weltanschauung bei.


Herbert Schui, Stephanie Blankenburg
Neoliberalismus
Theorie, Praxis, Gegner
VSA-Verlag, Hamburg, 2002