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REZENSION/194: Latif - Hitzerekorde und Jahrhundertflut (Klima) (SB)


Prof. Dr. Mojib Latif


Hitzerekorde und Jahrhundertflut

Herausforderung Klimawandel

Was wir jetzt tun müssen



Das Thema Klima ist in aller Munde, aber die meisten Menschen kennen kaum mehr als eine Handvoll Schlagworte und wissen nicht, auf welcher wissenschaftlichen Grundlage heute vor der Erderwärmung und dem Wandel des Klimas gewarnt wird. Die Berichterstattung in den Tageszeitungen bleibt in der Regel oberflächlich, die Fachliteratur dagegen für viele unzugänglich. Prof. Dr. Mojib Latif vom Institut für Meereskunde in Kiel hat sein Buch "Hitzerekorde und Jahrhundertflut" genau zwischen diesen beiden Pole angesiedelt. Der Klimaexperte bemüht sich, auch komplexere Zusammenhänge mit einfachen Worten zu erläutern, ohne auf die statistischen Belege zu verzichten, die er unter anderem in Form von zwanzig Schaubildern in den laufenden Text eingearbeitet hat. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen verfügt das Buch aber weder über ein Stichwortregister noch ein Literaturverzeichnis.

Den Schwerpunkt seiner Erläuterungen hat Latif auf den Nachweis gelegt, daß es erstens eine Erderwärmung gibt und daß sie zweitens von Menschen verursacht wurde, oder, um mit den Worten des Autors zu sprechen, "dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit allein der Mensch als Hauptverursacher der globalen Erderwärmung infrage kommt" (S. 108). Diese etwas gewundene Formulierung läßt erahnen, daß in der Klimaforschung gewisse Restunsicherheiten bleiben. Denn letztlich handelt es sich um Abschätzungen und Interpretationen, wenn beispielsweise die Zunahme der globalen Durchschnittstemperatur hauptsächlich auf die vermehrten Kohlendioxidemissionen der Menschen seit Beginn des Industriezeitalters zurückgeführt werden. Um diese Behauptung aufzustellen, muß man alle natürlichen Klimafaktoren aus der Summe der Einflüsse, die zu einer höheren Temperatur geführt haben, herausrechnen. Ungeachtet des prinzipiellen Problems, daß bei Klimafragen nie von einer hundertprozentigen Gewißheit ausgegangen werden kann, wirken die statistischen Daten und Berechnungsmethoden, auf die sich Latif beruft, recht plausibel.

Der gebürtige Hamburger Klimaforscher verfolgt mit seinem Buch ein konkretes Anliegen, wie auch schon der Untertitel, "Was wir jetzt tun müssen", verrät: Er will die Klimaproblematik der Öffentlichkeit näherbringen, mehr noch, er will die Menschen zu einer Verhaltensänderung bewegen. Denn "was sich rund um den Globus an Klimaeffekten und Folgewirkungen zeigt", so Latif, sei "ein deutlicher Hinweis (...), daß wir an unsere Grenzen stoßen". Es sei "die Zeit zum Handeln gekommen, um unser Klima auf einem Niveau zu stabilisieren, das unsere Lebensgrundlage nicht ernsthaft" gefährde (S. 9), fordert der Autor.

Wenn Latif schreibt, daß die Lebensgrundlage nicht "ernsthaft" gefährdet werden sollte, dann erschließt sich die darin enthaltene Botschaft dem Leser nicht auf den ersten Blick. Latif schreibt an späterer Stelle, daß die Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten sei und als Folge dessen die Lebensgrundlage der Menschen unvermeidlich gefährdet ist. Lediglich das Ausmaß der Folgen lasse sich noch beeinflussen.

Mit seinem Appell richtet sich der Autor sowohl an Politiker als auch an die Menschen allgemein, von denen er sich wünscht, daß sie eine "Umweltrevolution von unten" (S. 149) beginnen. "Wir sind das Volk" - dieses Motto beim Fall der Mauer habe auch in der Umweltpolitik seinen Platz. Die von Latif geforderte Umweltrevolution läuft darauf hinaus, daß die Menschen den Kauf von Tropenholz verweigern, benzinsparende Autos fahren, weniger Energie verbrauchen, wärmedämmende Häuser bauen, Standby- Schaltungen von elektrischen Geräten ausschalten, Müll vermeiden und ähnliche individuelle Verhaltensanpassungen mehr. Wobei sich hinter diesen Forderungen der kategorische Imperativ verbirgt, daß die Menschen es ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln "schuldig" seien, eine intakte Umwelt zu hinterlassen.

Als er in den siebziger Jahren sein Meteorologie-Studium begonnen habe, hätte er sich nie "träumen lassen, einmal im Blickpunkt des öffentlichen Interesses zu stehen", schreibt der Autor in seinem Vorwort. Diese Aussage würden vermutlich auch andere Wissenschaftler bestätigen, von denen sicherlich niemand damit gerechnet hat, daß nur wenige Jahrzehnte später Klimaforscher ihren Elfenbeinturm herabsteigen, um sich meinungsbildend in eine gesellschaftliche Debatte einzumischen und politisch Stellung zu beziehen. Erst wenige Wochen ist es her, da hatten Latif und 19 weitere Klimawissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich in den aktuellen Streit zwischen der deutschen Industrie und dem Umweltministerium um die Verteilung der Emissionszertifikate einmischten und "die dringende Notwendigkeit von wirksamen Klimaschutzmaßnahmen" bekräftigten.

Zu Beginn von Latifs Studium vor dreißig Jahren war die Klimatologie eine Wissenschaft, die sich vornehmlich mit der Vergangenheit und Gegenwart befaßte. Die Frage der Zukunftsprognose wurde nachrangig behandelt, sie war eine unter vielen und blieb selbst in manchen universitären Lehrbüchern ausgespart. Inzwischen stehen Vorhersagemodelle zur künftigen Klimaentwicklung im Mittelpunkt dieser Fachrichtung, und die Politik bestätigt die gesellschaftliche, womöglich sogar menschheitsgeschichtliche Bedeutung der Klimaforschung, indem sie bereit ist, Millionenbeträge für die Anschaffung von Hochleistungscomputern freizusetzen.

Abgesehen vom Militär verfügen Klimaforscher und ihre nahen "Verwandten" von der Meteorologie über die leistungsstärksten Rechner auf der ganzen Welt. Der Datenberg, den die Maschinen zu verrechnen haben, ist überwältigend. Kontinuierlich fließen aktuelle meteorologische Meßergebnisse ebenso wie die neuesten Erkenntnisse aus sogenannten Klimaarchiven wie Eisbohrkernen, Baumringen, Korallenriffen, Pollen, Fossilienfunden oder aus der Verteilung bestimmter Sauerstoff-Isotopen in die Modelle ein. Von diesem Datenberg versprechen sich die Forscher eine immer treffsicherere Vorhersagequalität, wobei Latif gar nicht mal ausschließt, daß es möglicherweise Einflüsse auf das Klima gibt, die bislang überhaupt noch nicht berücksichtigt wurden.

Hinter solchen Zugeständnissen steckt die langjährige Erfahrung des Meteorologen und Klimaforschers, der schon manche, die gewohnten Meßverfahren verlassende Überraschung abgewettert hat. Beispielsweise waren die Wissenschaftler durch die Entdeckung des Ozonlochs über der Antarktis im Jahre 1982 regelrecht verblüfft, auch wenn einige unter ihnen Jahre zuvor gewarnt hatten, daß die FCKWs in der Stratosphäre einen Ozonabbau bewirken könnten. Eine Ansicht, die vor der Entdeckung keineswegs von allen Forschern geteilt worden war.

Von solchen Unsicherheiten innerhalb der Forschung hält Mojib Latif seine Leserschaft jedoch in der Regel frei. Zweifel, daß nicht anthropogene, sondern andere, "natürliche" Faktoren viel wichtiger für das Erdklima sein könnten, hegt er in diesem Buch nicht. Eine andere Einstellung widerspräche auch dem offenkundigen Konzept des vorliegenden Buchs, ein wissenschaftliches Thema allgemeinverständlich darzustellen. Wer das öffentliche Bewußtsein für die Klimaproblematik schärfen will, wäre schlecht beraten, tief in die inhaltliche Diskussion über die Bewertung von speziellen Meßdaten einzusteigen, wie sie von den Experten untereinander in den entsprechenden Fachpublikationen geführt wird. Allerdings könnten Skeptiker der gängigen Vorstellung, wonach die Menschen einen entscheidenden Einfluß auf das Klima ausüben, dem Autor den Vorwurf machen, er bügele über ihre Argumente hinweg. Denn er hat die von ihnen vorgebrachten Indizien, die selbstverständlich ebenfalls auf Messungen und Statistiken, also auf die gleichen Meßvoraussetzungen gestützt sind wie seine Beweise, auf wenige Aussagen reduziert.

Es wäre banal zu erklären, daß die Sonne das Erdklima bestimmt. Das hat sie auch getan, bevor die Menschen von den Bäumen herabgeklettert sind und sich am Schein des Feuers aufgewärmt haben. Komplizierter wird es aber, wenn man sich fragt, auf welche Weise die Sonne das Klima beeinflußt hat. Wie problematisch diese Frage ist, soll hier durch ein Beispiel veranschaulicht werden, das von Latif nicht erwähnt wird.

Einige Wissenschaftler glauben, Hinweise auf eine Ausdehnung des Magnetfelds der Sonne alle 143 Millionen Jahre nachgewiesen zu haben. Das wäre immer dann gegeben, wenn das Sonnensystem, das mit höherer Geschwindigkeit um das Milchstraßenzentrum kreise als die vier Spiralarme der Galaxie, eben diese Arme durchquere und dabei einer höheren kosmischen Strahlung ausgesetzt sei. Wenn aber mehr kosmische Strahlung auf die Erde treffe, so die Forscher, sei mit einer Zunahme an aufgebrochenen chemischen Verbindungen sowie mit mehr ionisierten Teilchen in der Atmosphäre zu rechnen. Diese wiederum bildeten Kondensationskerne für die Wolkenbildung, und mehr Wolken bedeuteten, daß nicht so viel Sonnenlicht auf die Erde gelangt und diese sich folglich abkühle.

Die hier notgedrungen nur gerafft wiedergegebene Beschreibung der Theorie eines äonenwährenden kosmischen Wirkzusammenhangs läßt erahnen, daß das Klima der Erde von ungeheuer vielen Faktoren abhängig sein kann. Deshalb wundert es nicht, wenn es in der Fachwelt zu kontroversen Debatten kommt, zumal die Frage des künftigen Klimas immer auch mit politischen Konsequenzen verbunden ist. Insofern könnte wiederum Mojib Latif möglichen Kritikern seiner verknappten Darstellung der Argumente der Skeptiker entgegnen, daß "Hitzerekorde und Jahrhundertflut" nicht als Bühne für einen fachwissenschaftlichen Disput gedacht sei, sondern eben als Einstieg in das Klimathema für Laien. Und auf diesem Gebiet, der Wiedergabe komplexer physikalischer Prozesse durch allgemeinverständliche Aussagen, ist der Autor gut, das hat ihm vor vier Jahren den "Max-Planck-Preis für öffentliche Wissenschaft" eingebracht. Gern nimmt Latif einfache Analogien zu Hilfe. Beispielsweise vergleicht er an einer Stelle die Erderwärmung mit Fieber und die drei Faktoren "Meeresspiegelanstieg", "Zunahme der atmosphärischen CO2- Konzentration" und "Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur" mit den Symptomen.

Wie sehr sich heutige Klimaforscher politisch betätigen, wird auch daran deutlich, daß sich Latif auf die Prognose des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) beruft, derzufolge sich die Weltdurchschnittstemperatur bis zum Jahre 2100 um 5,8 Grad Celsius erhöhen werde. Jener Ausschuß, der alle fünf Jahre einen Bericht für die Vereinten Nationen herausgibt, an dessen Zustandekommen weltweit mehrere tausend Wissenschaftler mitarbeiten, hat zuletzt im Jahre 2000 drei verschiedene Szenarien entworfen, die auf eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur zwischen 1,4 und 5,8 Grad Celsius innerhalb dieses Jahrhunderts hinauslaufen.

Wenn sich Latif allein auf das Worst-case-scenario beruft und von einer Erderwärmung in Höhe von 5,8 Grad ausgeht, dann ist das zwar nicht unseriös, aber doch Folge eines gezielten Vermeidens einer wissenschaftlichen Meinung, mit der er anscheinend nicht konform geht. Das könnten ihm jene IPCC-Wissenschaftler, die schon vor vier Jahren die "sensationsheischende" Berichterstattung in den Medien bemängelten, die ebenfalls ausschließlich den Wert 5,8 Grad Celsius verbreitet hatten, ankreiden. Jedenfalls hätte eine gelegentliche Erklärung des Autors, warum er von dem dritten Szenario ausgeht, in dem die Erderwärmung am stärksten ist, dem Anliegen des Buchs nicht geschadet.

Verständlich wird Mojib Latifs Auslegung des IPCC-Reports allerdings dann, wenn man berücksichtigt, mit welch harten Bandagen in der Klimadebatte gefochten wird. Zahlreiche sogenannte Skeptiker, die sich vor allem in den USA regelmäßig zu Wort melden, werden direkt von der Ölindustrie bezahlt und präsentieren Daten, denen zufolge es angeblich überhaupt keine Erderwärmung gibt. Die Schlußfolgerungen aus aktuellen Meßergebnissen und klimahistorischen Daten sind politisch so brisant, daß an dieser Stelle auf einmal deutlich wird, daß der Anspruch auf Objektivität in der Wissenschaft hinfällig ist.

Das 1997 beschlossene, aber bis heute nicht in Kraft getretene Klimaprotokoll von Kyoto wäre, selbst wenn es erfüllt würde, lediglich von symbolischen Wert. Es wäre aus der Sicht von Wissenschaftlern einer Richtung, zu der sich auch Latif bekennt, lediglich ein Anfang, wenngleich ein unverzichtbarer, um eine echte Katastrophe wie den Anstieg des Meeresspiegels um bis zu 70 Meter (im Falle des Abschmelzens der Antarktis) zu verhindern.

Angesichts der wahrscheinlichen Konsequenzen einer allgemeinen Erderwärmung stellen sich der Menschheit Fragen, die weit über das Thema Klimaforschung hinausgehen. In welcher Form wollen die Menschen überhaupt künftig leben, wenn sich ihre Umwelt dramatisch wandelt? Was geschieht mit den zig Millionen Migranten, die wegen des Meeresspiegelanstiegs die Küstengebiete verlassen müssen? Wer bestimmt, wie die viel zu knappen Wasser- und Nahrungsmittelreserven verteilt werden?

Eine ökoideologische Mangelwirtschaft, in der der Verbrauch des Individuums aufs knappste reduziert wird, wäre als Zukunftsentwurf sicherlich ebenso abzulehnen wie die Sorglosigkeit einer bedürfnis- und vergnügungsgetriebenen Titanic- Gesellschaft, die selbst ihren eigenen Untergang noch zelebriert. Solche weitergehenden Fragestellungen werden von Mojib Latif nicht angesprochen, er beschränkt sich auf die Präsentation der wichtigsten Grundlagen, damit die Leser einen Einstieg in die Klimadebatte erhalten. Mit dem Titel "Hitzerekorde und Jahrhundertflut" wird absichtlich nicht der Charakter einer nüchternen Fachpublikation erweckt, und Kapitelüberschriften wie "Die Sonnenbrille der Atmosphäre" oder "Wo ist der Umwelt-Gorbi?" lassen von Anfang an keinen Irrtum über die Zielgruppe aufkommen.


Prof. Dr. Mojib Latif
Hitzerekorde und Jahrhundertflut
Herausforderung Klimawandel
Was wir jetzt tun müssen
Wilhelm Heyne Verlag, München 2003
160 Seiten, 10,- Euro
ISBN 3-453-8732-9