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REZENSION/199: Zimmerer, Zeller - Völkermord in Deutsch-Südwestafrika (SB)


Jürgen Zimmerer, Joachim Zeller (Hg.)


Völkermord in Deutsch-Südwestafrika

Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen



Deutschland, eine eigene blutige Kolonialgeschichte? Die war doch nur kurz und unbedeutend! So läßt sich die heute allgemein verbreitete Vorstellung von der deutschen Vergangenheit zusammenfassen. Selbst der mit dem Arbeitsbereich Afrika betraute grüne Bundestagsabgeordnete Christian Ströbele war im Jahr 2001 bei einer Veranstaltung des "Millenium Africa Renaissance Program" in Berlin dieser Ansicht, als er behauptete, "dass Deutschland das Glück hatte, sehr früh aus der Kolonialisierung gewaltsam herausgetrieben worden zu sein" und deshalb in dem Entwicklungsprogramm für Afrika eine Rolle übernehmen könne, die unbelastet sei (S. 223).

Nach der Lektüre des vorliegenden Buchs "Völkermord in Deutsch- Südwestafrika" müßte ihm solch eine Behauptung im Halse stecken bleiben, zeigen doch die vierzehn Autorinnen und Autoren mit ihren teils akribisch herausgearbeiteten Aspekten des Vernichtungskriegs gegen die Herero und Nama, daß das Deutschland der Kaiserzeit nicht minder brutal mit seinen annektierten Gebieten in Übersee umgesprungen war wie die anderen europäischen Mächte mit ihren Kolonien. Für die Opfer der deutschen Unterwerfungspolitik war die Kolonialzeit jedenfalls alles andere als "unbedeutend", wie es Ströbele behauptete. In dem Krieg von 1904 bis 1908 in Deutsch-Südwestafrika, der auch der erste Genozid des 20. Jahrhunderts genannt wird, waren etwa 80.000 Herero, rund 80 Prozent des gesamten Volkes, ums Leben gekommen.

Die Herero und die im Süden des heute Namibia genannten Landes lebenden Nama wurden von den deutschen Besatzern nicht als gleichrangige, sondern als unterlegene Rassen angesehen - eine diffamierende Zuordnung, die dem Begriff der Rasse bekanntlich immanent ist. Handelt es sich dabei doch um eine Kategorie der Unterscheidung, deren Funktion sich in der Ausgrenzung des anderen zum Zwecke seiner Beherrschung erschließt. In der heutigen Politik wird "Rasse" nicht mehr benutzt, die Bezeichnung gilt als unkorrekt. Womit natürlich die dahintersteckende grundlegende Denkweise, Menschen aufgrund bestimmter biologischer, sozialer oder kultureller Merkmale auszugrenzen, keineswegs aus der Welt geschafft wäre.

In der Kaiserzeit nutzte die herrschende Klasse den Rassenbegriff zur Entrechtung der autochthonen Bevölkerung Afrikas und damit zur Legitimation des eigenen Verfügungsanspruchs. Südwestafrika war zwar der deutschen Obrigkeit unterstellt und demnach ein Teil des Deutschen Reichs, aber die Herero besaßen nicht die gleichen Rechte wie Deutsche. Konkret bedeutete das, daß Schwarze nicht gerichtlich gegen Weiße vorgehen durften, auch wenn ihnen von diesen schwerstes Unrecht zugefügt worden war. Auch der Landerwerb und andere Selbstverständlichkeiten - für Weiße - waren den Herero verwehrt. Kurzum, sie wurden als eine andere Rasse angesehen, die irgendwo zwischen Mensch und Tier angesiedelt war. Sie sollten dem fernen Reich als willige Arbeitssklaven dienen, aber keine Ansprüche stellen.

So wünschten es sich jedenfalls die Kolonialherren, bis eines Tages das Faß überlief und sich zunächst die Herero, später auch die Nama auflehnten. Von dieser Phase der deutschen Geschichte zeugt das vorliegende Buch, das in vier Oberkapiteln insgesamt 18 Aufsätze umfaßt. Die Themenpalette reicht von der vorkolonialen Geschichte des Landes, der Rassentrennung, der Einrichtung von Konzentrationslagern, von Zwangsarbeit, Enteignungen, der Rolle der Frauen, dem Verlauf des Krieges und Völkermords bis zur modernen Erinnerungskultur und dem heutigen deutsch-namibischen Verhältnis. Dabei fallen die einzelnen Aufsätze in Umfang, Form und politisch-analytischem Tiefgang unterschiedlich aus. Zum Teil werden dieselben Personen oder historischen Ereignisse von den einzelnen Verfassern konträr interpretiert, aber sie alle zusammen liefern ein eindringliches Gesamtbild von der damaligen Zeit und lassen keinen Zweifel aufkommen, daß hier ein ganzes Volk gezielt ausgerottet werden sollte.

Der bald nach Beginn des Aufstands vom 11. Januar 1904 von Berlin nach Deutsch-Südwestafrika entsandte Generalleutnant Lothar von Trotha hatte die Vernichtung der Herero befohlen. Jürgen Zimmerer gibt in dem Aufsatz "Krieg, KZ und Völkermord in Südwestafrika" von Trothas Proklamation vom Oktober 1904 wieder, in der es hieß:

Die Herero sind nicht mehr deutsche Untertanen. Sie haben gemordet und gestohlen, haben verwundeten Soldaten Ohren und Nasen und andere Körperteile abgeschnitten, und wollen jetzt aus Feigheit nicht mehr kämpfen. Ich sage dem Volk: Jeder, der einen der Kapitäne an eine meiner Stationen als Gefangenen abliefert, erhält tausend Mark, wer Samuel Maharero bringt, erhält fünftausend Mark. Das Volk der Herero muß jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, werde ich es mit dem Groot Rohr dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen. (S. 51)

Und das tat er auch. Immer tiefer wurden die Herero in die unwirtliche Omaheke-Wüste getrieben, wobei die deutschen Soldaten die wenigen Wasserlöcher besetzten und tausende der Stammesmitglieder verdursten ließen. Mit zahllosen, in dieser Rezension unmöglich vollständig zu würdigenden Aspekten weisen die Autorinnen und Autoren historisch fundiert nach, daß damals ein Völkermord herbeigeführt werden sollte. Das ist bis heute politischer Sprengstoff geblieben, wie der Versuch der Herero zeigt, mit rechtlichen Mitteln von deutschen Wirtschaftsunternehmen und der Bundesregierung, der Rechtsnachfolgerin des Kaiserreichs, Reparationszahlungen zu erstreiten.

Ein einprägsames Mittel zur Verdeutlichung der kolonialzeitlichen Sichtweise stellen auch die vielen Fotos und Darstellungen, Postkarten und Zeitungsberichte dar, die passend zu den Aufsätzen eingestreut werden. Und was für eine wissenschaftliche Publikation selbstverständlich sein sollte, aber in anderen Büchern leider oftmals vernachlässigt wird, sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Das vorliegende Buch verfügt über einen ausführlichen, 16 Seiten umfassenden Anmerkungsteil und je ein Register zu geographischen Namen und Orten sowie Personen.

Wie Casper W. Erichsen in "Zwangsarbeit im Konzentrationslager auf der Haifischinsel" schreibt, hatten die deutschen Kolonialherren eine ganze Reihe von kargen Lagern in Deutsch- Südwestafrika eingerichtet und die Menschen - Kinder, Frauen und Männer - unter schwerster Zwangsarbeit regelrecht vernutzt. Augenzeugen aus der damaligen Zeit berichteten, wie die Entkräfteten beim Bau von Eisenbahntrassen oder Hafenanlagen unter den schweren Lasten zusammenbrachen und nicht wieder aufstanden.

Der Aufsatz "'Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab' - Die Vernichtung der Herero und Nama in der deutschen (Populär-)Literatur" von Medardus Brehl verdeutlicht, daß die gewaltsame Unterwerfung der Bevölkerung Südwestafrikas von der damaligen Öffentlichkeit des Deutschen Reichs durchaus wahrgenommen wurde. Mehr noch, der "Herero-Aufstand" sei ein regelrechtes "Diskursereignis" (S. 86) gewesen, schreibt Brehl. Bücher über die deutschen Kolonien hätten Bestseller-Auflagen erreicht. Wohl am bekanntesten war damals, bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, "Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht" (1906) des renommierten Jugendbuchautors Gustav Frenssen. Bis 1945 erreichte das Buch eine Gesamtauflage von über 500.000 Exemplaren. Ein Textauszug bestätigt auch hier wieder die Funktion des Rassegedankens:

Diese Schwarzen haben vor Gott und Menschen den Tod verdient, nicht weil sie die zweihundert Farmer ermordet haben und gegen uns aufgestanden sind, sondern weil sie keine Häuser gebaut und keine Brunnen gegraben haben [...]. Gott hat uns siegen lassen, weil wir die Edleren und Vorwärtsstrebenden sind [...]. Den Tüchtigeren, den Frischeren gehört die Welt. Das ist Gottes Gerechtigkeit. (S. 91/92)

In gewisser Weise ähnelt das Berlin von heute dem vor hundert Jahren: Man beliebt, auf stur zu schalten, wenn es um das Eingeständnis geht, daß eine deutsche Regierung Völkermord in Afrika zu verantworten hat. Weder dem früheren Bundeskanzler Kohl noch den Bundespräsidenten Herzog und Rau war jemals eine Entschuldigung über die Lippen gekommen, und der heutige Bundeskanzler Schröder hat bei seiner Afrikarundreise Anfang des Jahres 2004 Namibia wohlweislich umschifft.

Immer dann, wenn sich das Thema Völkermord an den Herero und Entschädigungszahlungen partout nicht mehr vermeiden läßt, verweist die Bundesregierung auf die "besondere Bedeutung", die Namibia bei der deutschen Entwicklungshilfe genieße. Das trifft zwar im Vergleich zu anderen Entwicklungsländern zu, denen weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, doch wie wenig sich Deutschland tatsächlich für Namibia interessiert, zeigt eine Meldung des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen von Anfang Mai 2004, derzufolge kein einziger Geberstaat auf die Bitte der namibischen Regierung um 5,8 Millionen Dollar für Nothilfe zur Versorgung von rund 600.000 Einwohnern (ca. 30 Prozent der Bevölkerung) reagiert hat. Auch Deutschland hat sich nicht gerührt.

Die deutsche Geschichte der letzten einhundert Jahre wird maßgeblich von den beiden Weltkriegen und der Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten durch das Naziregime beherrscht. Aber, wie Zimmerer schreibt, "der deutsche Krieg gegen die Herero und Nama [war] weder ein lokales Ereignis der namibischen oder deutschen Geschichte noch ein isoliertes Ereignis der Kolonialgeschichte":

Vielmehr ist er ein herausgehobenes Ereignis in einer globalen Geschichte der Entfesselung der Gewalt, wie sie in den beiden Weltkriegen ihren Höhepunkt finden sollte. Auschwitz ist die Chiffre für den perversen Höhepunkt staatlicher Gewalt gegen die eigene und fremde Bevölkerung. Der Krieg gegen die Herero und Nama war ein entscheidender Schritt in dieser Entwicklung und ein Menetekel vom Beginn des 20. Jahrhunderts für das, was noch kommen sollte. (S. 63)

Weder Zimmerer noch die anderen Autoren und Autorinnen, die alle einen wissenschaftlichen Hintergrund besitzen und sich meist schwerpunktmäßig mit Afrika, respektive Namibia befaßt haben, sprechen sich direkt für Entschädigungszahlungen an die Herero aus. Doch sie liefern eine Fülle an Material, die eine solche Forderung gerechtfertigt erscheinen läßt. Gegenüber der vom Umfang und systematischer Ausführung noch qualifizierteren Menschenvernichtung in den KZs des Naziregimes hat der Genozid an den Herero in der öffentlichen Wahrnehmung stets ein Schattendasein gefristet. Das Buch "Völkermord in Deutsch- Südwestafrika" holt die historischen Ereignisse wieder ans Licht und entreißt sie dem auf Beruhigung abzielendem Vergessen.


Jürgen Zimmerer, Joachim Zeller (Hg.)
Völkermord in Deutsch-Südwestafrika
Der Kolonialkrieg (1904-1908) in Namibia und seine Folgen
Ch. Links Verlag, Berlin, 1. Aufl., September 2003
276 Seiten
ISBN 3-86153-303-0